Kolumne: Sitte & Anstand

Der Massenmörder von Atlanta: Ein Mann Gottes

atlanta_georgia.jpg

Atlanta, Hauptstadt des US-Bundesstaats Georgia
Atlanta, Hauptstadt des US-Bundesstaats Georgia

In Atlanta geht ein Mann in drei Massagesalons und tötet acht Menschen. Sechs von ihnen waren asiatischstämmige Frauen. Ist der Mann ein Rassist? Noch weiß die Öffentlichkeit nicht viel über seine Motivation, und ein bisschen ist es auch egal, welchen spezifischen Irrsinn ein Mensch braucht, um eine derartig monströse Tat zu begehen. Rassismus, Sexismus, jeder Ismus ist einer zu viel. Wichtig ist, dass man über sie alle reden darf, die unmenschlichen Ideologien, die aus Menschen, wenn es ganz schief läuft, Massenmörder machen.

Über den mutmaßlichen Täter von Atlanta ist nicht viel bekannt. Das wahrscheinlichste Szenario, das sich aus der derzeitigen Nachrichtenlage ablesen lässt, ist dieses: Ein Mann ist Stammgast in Massagesalons, hasst und verachtet sich für die Ausprägung seines Sexualtriebs, hasst und verachtet dann auch die Frauen, die er für sexuelle Dienste bezahlt. Ist er ein Rassist, weil die Frauen asiatischstämmig waren? Oder verstellt das Rassismusthema einmal mehr die Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge? Die sexuelle Ausbeutung asiatischer oder asiatischstämmiger Frauen begründet sich ja nicht in deren spezifischer Sexualmoral, sondern in wirtschaftlichen Notlagen, in der ungerechten Verteilung von Wohlstand und Auskommen in einer kapitalistisch und weiß dominierten Welt. Rassismus kommt ohne Klassismus nicht weit.

Was wissen wir über den Täter? Er wollte Frauen töten. Warum? Bislang deutet mehr darauf hin, dass er sie nicht wegen ihrer ethnischen Abstammung ermordete. Sondern weil sie Frauen waren. Und weil sie für Sex standen, käuflichen Sex. Wenn etwas an dem jungen Mann auffällig erschien, dann seine Religiosität: Er ist Baptist, er wurde oft mit der Bibel in der Hand gesehen, Bekannte beschreiben ihn als "still und intensiv religiös". In dem Wenigen, was aus seiner polizeilichen Vernehmung durchgesickert ist, hieß es, er habe sich gegen "Versuchung" wehren wollen. Der Mann, so scheint es, ist von dem geprägt, was sich christliche Sexualmoral nennt und den Namen nicht verdient hat, Sexualmoralisierung wäre der richtigere Begriff: Die lebendige Lust, die in den meisten Menschen früher oder später natürlicherweise erwacht, wird als eine Bedrohung definiert. Das Böse kommt per Framing auf die Welt.

Die Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit ist ja zunächst mal nichts Verwerfliches, Sex bringt sehr viel Freude und Glück auf die Welt, die die Kirchen dort subtrahieren und auf den Segen ihrer Verkündigung umleiten wollen. Glückseligkeit ist in Jesulein allein, Ekstase darf bloß in Gebet und Gesang erlebt werden. Es ist ein Herrschaftsmittel, ein Zwangskorsett, das die Menschen ihre eigenen Neigungen und sich selbst hassen lässt – und alles, worauf ihre Neigungen sich richten. Viele Menschen sterben deswegen, noch viel mehr Menschen leben unglückliche Leben. Die Zurechnungsfähigkeit des achtfachen Mörders können wir noch nicht beurteilen. Woher er seine Denkmuster bezog, wissen wir aber: Die Gemeinde, zu der er gehörte, hat sich konsequent aus dem Internet und aus allen sozialen Medien zurückgezogen, fixe Geister sicherten noch ihre Verkündigung für diese Woche, aus der sich lernen ließ, was der große Gott im Himmel von seinen Menschlein angeblich erwarte: "Dass wir uns sexueller Unmoral enthalten, rein und treu leben, ob in der Ehe oder als Single, und dass wir dabei alle unreinen Taten, Blicke, Worte, Gedanken und Wünsche vermeiden – oder alles, was zu diesen führt."

Unterstützen Sie uns bei Steady!