Andrea Grill, Biologin und Dichterin, über Schmetterlinge

Die Methusalem-Falter

BERLIN. (hpd) 15 Jahre lang beschäftigte sich Andrea Grill mit einer unauffälligen Schmetterlingsgattung, den Ochsenaugen. Sie kommt an einigen Standorten wie Sardinien, österreichischen Tälern oder der türkischen Küste in endemischen Arten vor, die sich für den Laien kaum voneinander unterscheiden. Wissen Schmetterlinge, wenn sie Artgenossen vor sich haben, ist eine der Fragen, die Andrea Grill in ihrem Portrait "Schmetterlinge" stellt.

Das ist fast so eine literarische Frage wie die, ob Schmetterlinge träumen. Und wie die, ob Schmetterlinge sich erinnern können. Andrea Grill ist nicht nur Biologin, sondern auch Schriftstellerin. Am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb hat sie schon teilgenommen und mit "Das Paradies des Doktor Calogari" im letzten Jahr einen Roman vorgelegt, dessen Protagonist ein Schmetterlingsforscher ist, der auf einer indonesischen Insel eine Nachtfalterart züchtet, deren Raupen sich ausschließlich von menschlichen Tränen ernähren. Das ist natürlich ein märchenhaftes Motiv. Aber die Vorstellung, dass das menschliche Seelenleben und der Schmetterling etwas miteinander zu tun hätten, reicht weit zurück. Immerhin konnte im Altgriechischen "psyche" auch Schmetterling heißen.

Erinnern können Schmetterlinge sich definitiv. Amerikanische Forscher um Martha Weiss in der Georgetown University in Washington D.C. setzten Raupen zusammen mit bestimmten Gerüchen unangenehmen Erfahrungen in Form von kleinen Elektroschocks aus. Raupen, bei denen dies in einem späten Stadium kurz von der Verpuppung geschah, mieden daraufhin als geflügelte Schmetterlinge später diese Gerüche. Vielleicht erklärt dies, warum Schmetterlinge ihre Eier immer auf artspezifischen Futterpflanzen ablegen. Sie erinnern sich daran, dass sie an ihnen als Raupe fraßen. Obwohl im Puppenstadium nicht mehr als eine geleeartige Masse von ihnen bleibt. Allein ein paar Nervenzellen erhalten sich.

Andrea Grill, Foto: wikimedia
Andrea Grill, Foto: wikimedia

Ob Schmetterlinge ihre Sexualpartner bei der Paarung als Artgenossen wirklich erkennen, wissen wir freilich nicht. Wie so vieles nicht. Wie Euchloe falloui, eine Weißlingsart, es bei allzu großer Trockenheit schafft, in der israelischen Wüste bis zu 15 Jahre als Puppe zu überleben. Dafür wissen wir, wie lang es der bislang älteste Schmetterling unter menschlicher Obhut zu überleben geschafft hat: 285 Tage wurde ein Sardinisches Ochsenauge alt.

Schmetterlinge sind einsame Wesen. Sie bilden keinerlei Gemeinschaften. Sie kümmern sich nicht umeinander. Sie beschützen einander nicht. Dennoch braucht es offenbar immer mehrere Tiere, damit sie überhaupt in Paarungslaune kommen. So treffen sich Schwalbenschwänze immer auf Berg- oder Hügelkuppen – sei es in den Alpen oder auf dem Insulaner in Berlin. Die Weibchen wählen die ältesten männlichen Exemplare, die Männchen stets die jüngsten weiblichen. Und sei es, dass sich die Individuen nur einige Stunden an "Lebensreife" unterscheiden. Wie sie das wissen, das wissen wir nicht.

Aber staunen dürfen wir mit Andrea Grill auch über die Wissenschaftler, die ihr ganzes Leben höchst unauffälligen Schmetterlingen widmen und Tiere zu unterscheiden wissen, deren Augenringe auf der Oberseite der Vorderflügel mal ein wenig gelber sind als die der Art im Nachbargebiet. Oder deren Hinterflügelränder etwas gerippter sind.

Und dies, obwohl sich die Individuen einer Art oft mehr voneinander unterscheiden als die Arten, wie wir seit Darwin wissen, dem anhand der Schmetterlinge auch die Bedeutung der einzelnen Individuen in der Natur klar wurde und wie vergänglich die Arten und wie fließend die Artgrenzen sind.