Kommentar

Nicht nur die AfD spaltet die Gesellschaft

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Frauke Petry auf einer AfD-Veranstaltung am 05.09.15 in Bochum
Frauke Petry auf einer AfD-Veranstaltung am 05.09.15 in Bochum

Seit dem erfolgreichen Abschneiden der AfD bei zahlreichen Wahlen auf Länderebene und dem zu erwartenden Erfolg auf Bundesebene sind PolitikerInnen wie MedienvertreterInnen aufgeschreckt und werfen den Rechtspopulisten vor, sie würden durch Anti-Islamismus und hasserfüllte Parolen gegen die "Lügenpresse" und die "Alt-Parteien" die Gesellschaft spalten. Die AfD kann dies gar nicht (allein) tun, denn die Gesellschaft ist längst gespalten.

Mit den neoliberalen Reformen unter der Regierung von Gerhard Schröder ab 2003 wurden der Spitzensteuersatz gesenkt und die Sozialausgaben zusammengestrichen. Es entstand ein ausgeprägter Niedriglohnsektor, in dem inzwischen jeder vierte Deutsche arbeitet; das sind rund 10 Millionen Menschen. Die dort Beschäftigten verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Spiegel vom 12.3.16). Den Veröffentlichungen im Bundesgesundheitsblatt kann man entnehmen, dass Kinder und Jugendliche, die aus dieser Schicht kommen deutlich häufiger an Krankheiten, Mager- oder Fettsucht leiden oder Opfer von Gewalt werden als Kinder aus der Mittel- oder Oberschicht.

Gleichzeitig wurde die Oberschicht immer reicher. Inzwischen besitzen ein Prozent der Bundesbürger ein Drittel des deutschen Vermögens, den reichsten zehn Prozent gehören rund zwei Drittel aller Fabriken, Immobilien und Wertpapiere.

Die Mittelschicht gerät unter Druck, die Mitte schrumpft. Bis 2013 sank der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung von 64 auf 58 Prozent. Gehörten in den 1980er Jahren noch rund zwei Drittel der Bevölkerung zur Mitte, folgte in den Jahren ab 2000 eine Periode deutlicher Polarisierung, so dass heute nur noch rund die Hälfte der Bevölkerung zur Mittelschicht gezählt werden kann. Das reiche Deutschland gehört heute zu den Ländern Europas, in denen die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten geöffnet ist. In ihrer Studie "Gleichheit ist Glück", in der sie über 20 industrialisierte Staaten miteinander vergleichen, haben Wilkinson und Pickett nachgewiesen, dass viele soziale Probleme, wie Drogensucht, Fettleibigkeit, schulische Probleme, die Zahl der Gefängnisstrafen und gesundheitliche Probleme signifikant mit dem Maß der Ungleichheit steigen.

Inzwischen sorgen sich der Internationale Währungsfond, die OECD, selbst internationale Finanzkonzerne um die starke Kluft zwischen Arm und Reich, weniger weil die ihr soziales Herz entdeckt hätten, sondern aus Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt. So hat die große amerikanische Bank Morgan Stanley die Geldanleger darauf hingewiesen auf das "Ungleichheits-Problem" zu achten; werde nämlich die Schere zwischen Oben und Unten zu groß, könne dies "die soziale und wirtschaftliche Substanz eines Landes zersetzen" (Spiegel vom 12.3.16).

Kaum hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Regierungserklärung am 14.März 2003, in der er unter dem Namen Agenda 2010 seine neoliberalen Reformen ankündigte, zu Ende gebracht, gab es auch schon die ersten Proteste. Im November 2003 fand in Berlin die erste zentrale Demonstration gegen Sozialabbau mit rund 100.000 TeilnehmerInnen statt. In der Folge organisierten sich die Menschen vor allem in Leipzig aber auch in vielen anderen Städten in sogenannten Montagsdemonstrationen. Neben vielen lokalen Protestaktionen fand im Februar 2007 die Bundeskonferenz der Montagsdemonstrationen in Kassel mit Delegierten aus 68 Städten statt.

Parallel zu den Protesten gründete sich die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die im Juni 2007 mit der PDS zur Partei "Die Linke" verschmolz. Insgesamt blieben aber sowohl außerparlamentarische Proteste wie Wahlerfolge auf das linke Milieu beschränkt und erreichten nicht die Mitte der Gesellschaft. Gleichwohl verbreiteten sich in weiten Teilen der Gesellschaft Gefühle der Unzufriedenheit,

Unsicherheit und Ängste vor der Zukunft. Die BürgerInnen gingen gegenüber der Politik in Deutschland zunehmend auf Distanz. Die Zahl der NichtwählerInnen steigt kontinuierlich und die Wahlbeteiligung fiel von der Bundestagswahl 2005 auf die Wahl 2013 von 78 auf 72 Prozent. Bei den Landtags- und Kommunalwahlen ist die Tendenz den Wahlen fern zu bleiben noch viel deutlicher ausgeprägt. Bei einer Befragung der NichtwählerInnen waren 71 Prozent mit der im Grundgesetz festgelegten Demokratie zufrieden, mit der tatsächlichen Politik in Deutschland allerdings lediglich 21 Prozent. In einer anderen Studie (Zeit-Online 23.2.15) äußerten mehr als 60 Prozent der BürgerInnen, dass in Deutschland keine echte Demokratie herrsche, weil die Wirtschaft mehr Einfluss auf die Politik habe als die WählerInnen.

Über mehrere Jahre schmorten diese Gefühle der Unzufriedenheit unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit. Mit der Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland vor einigen Monaten explodierte die Gemengelage. Vor allem als deutlich wurde, dass die Politik durchaus Milliarden bereit stellen konnte, um für die Flüchtlinge Wohnungen und Integration in den Arbeitsmarkt zu organisieren, wurde in vielen Diskussionen unterstellt, die Asylsuchenden würden besser versorgt als bedürftige Deutsche. Eine Welle des Hasses brach los.

Erstaunlich ist zunächst, dass die Explosion im rechten Spektrum erfolgte, denn bisher war Die Linke die einzige Partei, die das Problem der Spaltung zwischen Arm und Reich thematisierte und höhere Steuern für die Reichen forderte. Möglicherweise wurde die Partei, die in diversen Landesregierungen und zahlreichen Kommunen vertreten ist, schon als Teil des Establishments wahrgenommen; und ihre Politik schien ja an der genannten Problemlage auch nichts wesentlich geändert zu haben. Kleine Erfolge, wie die Einführung des Mindestlohnes, den Die Linke schon seit Jahren forderte, scheinen in der Hitze der Gefechtes nicht mehr zu zählen. Außerdem zeigt die Partei eine ausgesprochen positive Haltung gegenüber den Flüchtlingen.

Also hat sich der Protest nach rechts verschoben, fleißig unterstützt und angefacht von alten und neuen Nazis. Schließlich sind Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Hass auf Flüchtlinge schon seit jeher eine besondere Domäne der Rechten. Auf dieser Grundlage kann die AfD einen Wahlsieg nach dem anderen einfahren, sie mobilisiert viele Nichtwähler und gewinnt Stimmen von den großen Volksparteien.

Die etablierten Parteien werden auf diese Weise mit den Problemen konfrontiert, die sie selbst zu verantworten haben, und schauen ratlos auf die Erfolge der AfD. Wenn der SPD-Chef Sigmar Gabriel seufzend fragt, wie der SPD die soziale Gerechtigkeit abhanden kommen konnte, kann man ihm nur raten, diese Frage möglichst schnell in konkrete Politik umzusetzen – sofern er tatsächlich vorhaben sollte die Wahlchancen der SPD zu erhöhen.