Sie wissen (nicht), was sie tun: Identitätspolitische Linke unterschlägt den Homosexuellenhass neuer Qualität

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Parade zum Christopher-Street-Day (Symbolbild)
CSD: Symbolbild

Ohrenbetäubende Stille herrschte in der Queer-Community. Der Tod des Transmannes Malte C. durch den Tschetschenen Nuradi A. jährte sich Anfang September. Zudem sind bisher nur wenige Wochen nach der gefährlichen Attacke von mindestens zwei afghanischen Tatverdächtigen auf CSD-Teilnehmende in Halle vergangen. In kurzem Abstand zu den Tathergängen ordneten die medialen Lautsprecher der LGBTQ-Bewegung die Angriffe in vertraute Kategorien ein. Ignoriert blieben dabei potentiell ausschlaggebende soziokulturelle Hintergründe der Täter. Stattdessen wurde der Islam- und/oder Migrationshintergrund möglicherweise aus Angst vor Rassismusvorwürfen tabuisiert. Die neuartige Dimension homophober Straßengewalt geht in die Normalität über. Anstelle von Opferschutz betreiben identitätspolitische Aktivisten Täterlobbyismus, womit sie schlussendlich auch eigene liberale Errungenschaften riskieren.

Wenige Stunden nachdem am 2. September 2022 die traurige Nachricht über den Tod des Transmannes Malte C. in Folge der Verletzungen nach einem Faustangriff auf der Parade des Christopher Street Days (CSD) in Münster publik wurde, begannen die politischen Instrumentalisierungen. Die linksliberale X- (ehemals: Twitter-) Community schleuderte mit den gewohnten Begriffen moralisch abgesicherter Deutungen um sich. Malte C. sei einer "strukturellen Queerfeindlichkeit" und einer steigenden "Transphobie" zum Opfer gefallen.

Nicht nur das. Weiter gingen die Kausalketten an Erklärungsmustern. Mit zugeschlagen hätten Trans-Exclusionary Radical Feminists, sogenannte "TERFs". Der Bundessprecher des Arbeitskreises "Queer" in der Linkspartei Frank Laubenburg unterstellte in einem Beitrag auf X, Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, Biologin Marie-Luise Vollbrecht, Frauenrechtlerin Alice Schwarzer sowie die lesbische AfD-Politikerin Alice Weidel hätten Nuradi A. zu "transphober" Gewalt ermutigt.

Komisch, dass hier Frauen, Lesben und Feministinnen mit in die Verantwortung für das sexistische Hassverbrechen gezogen werden. Ausgeblendet wird auch, dass der Schläger zuerst weibliche (!) Teilnehmerinnen der Demonstration als "lesbische Huren" (!) attackierte und den daraufhin couragiert zur Hilfe eilenden Malte C. mit einem Fausthieb zu Boden schlug. Neben der in Teil 1 analysierten projektiven Homosexuellenfeindlichkeit war der Angriff somit (auch) klar misogyn motiviert und richtete sich zusätzlich gegen selbstbewusste, lesbische Frauen. Diese Fakten werden mit der Einordnung der Tat als ausschließlich "transfeindlich" unterschlagen und macht unterschwellig aus Unterstützerinnen Mittäterinnen.

"Strukturelle Queerfeindlichkeit"

Ähnlich irritierend gestaltete sich die Ausklammerung der Realität im Fall des Übergriffs auf die CSD-Teilnehmenden in Halle. Kurz nach der Tat veröffentlichte die Deutsche Presseagentur (dpa) eine Meldung, in der ein Zusammenhang des Angriffs mit rechtsextremer Gewalt suggeriert wurde. So hieß es: "Im August hatte es beim ersten Christopher Street Day in Weißenfels Störungen durch mutmaßlich Rechtsextreme gegeben, dabei soll auch der Hitlergruß gezeigt worden sein. Der Staatsschutz ermittelt."

Diese dpa-Meldung steht stellvertretend für eine automatisierte Einordnung "queerfeindlicher" Taten im Phänomenbereich "Rechtsextremismus" und wird in diesem Fall durch die facto afghanische Herkunft der Beschuldigten enttäuscht. Eine vorschnelle Ableitung von Angriffsursachen aus rechten Strukturen erweckt den Eindruck einer Ersatzhandlung zwecks Vermeidung wahrer Ursachenforschung. Neueste Zahlen der Bundesregierung auf Anfrage des CDU-Abgeordneten Christopher Ploß zeigen: 2023 wurden überproportional viele homo- oder transfeindliche Straftaten von Migranten begangen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben diese ihren Ursprung in der repressiven Sexualmoral islamischer oder konservativer Herkunftsmilieus und nicht im deutschen Neonazismus.

Die Benennung von Täterabstammungen nehmen Journalisten oder LGBTQ-Aktivisten oft nur in einem Nebensatz vor und ordnen diese meist nicht weiter ein. Darüber hinaus verstummt die queere Szene, sobald der Beschuldigte eine "falsche" Nationalität hat. Zuletzt konnte man dies in Halle beobachten, aber auch bereits in Münster, wo der Täter tschetschenischer Herkunft ist. Nuradi A. ließ sich höchstwahrscheinlich weder durch einen transkritischen feministischen Diskurs bestärken, noch durch die AfD-Abgeordnete Alice Weidel zur Körperverletzung mit Todesfolge an Malte C. motivieren. Weitaus denkbarer ist, dass Nuradi A.s Hass durch Koran, Scharia oder normativer Clankultur geschürt wurde.

Linke LGBTQ-Aktivisten problematisierten in keiner nennenswerten Publikation den Homo- und Transsexuellenhass tschetschenischer Großfamilien oder zogen den Islamismus als Tatmotiv in Erwägung. Doch noch überforderter als mit der soziokulturellen Herkunft war die Unterstützergemeinde mit der abgewehrten Homosexualität des Täters, die im Laufe des Gerichtsprozesses ein psychiatrisches Gutachten glaubhaft darlegte. Die Justiz sah kein eindeutiges Trans- oder homophobes Motiv.

Der Aufruf zum CSD in Münster ein Jahr nach Malte C.s Tod erwähnte mit keiner Silbe den Namen des Opfers oder die Beweggründe des Täters. Mit einer Schweigeminute und einem Altar wurde Malte C. in Münster gedacht. Das Schweigen kann symbolisch für die Wortlosigkeit der Queer-Szene angesichts islamistischer Gewaltverbrechen stehen. Und mit Malte C. scheint es, als hätte die LGBTQ-Szene ihre eigene kämpferische Haltung und kritische Analyse zum Aufwachsen latent homosexueller Menschen in repressiven Gesellschaften begraben.

Angst vor Rassismusvorwurf macht blind

Wo die Queerfeindlichkeit "strukturell" ist, gibt es keine konkreten Täter mehr. Der Benennung der Herkunft im Fall von Nuradi A. oder der Beschuldigten in Halle wird von linken Pseudo-Antirassisten aus Sorge vor Rassismus- oder Islamophobie-Unterstellungen ausgewichen. Dabei folgt jene Vermeidungsstrategie einem essentialistischen Denkmuster: Islamismus, Homophobie, repressive Sexualmoral oder verdrängte Homosexualität sind keine Natureigenschaften, sondern soziale Phänomene. Somit sind diese der Reflexion zugänglich und keineswegs quasi "rassisch" oder biologisch mit den Individuen verknüpft. Der Psychoanalytiker Sama Maani spricht von dem Fallstrick der "vollen Identifikation"1, dem identitätspolitische Linke aufsitzen, wenn sie die islamische Religion oder muslimische Kultur im Rassismusvorwurf als unauflösliches Merkmal von Subjekten begreifen.

Identitätspolitik homogenisiert (...) Minderheiten in Kollektive und essentialisiert individuelle Eigenschaften zu Gruppenmerkmalen.

Ein zweiter Irrglaube des linken Identitätsdenkens erschüttert sich in den Verbrechen von Münster und Halle: Einige Linke halluzinieren sich Migranten, insbesondere Muslime, als "natürliche" Verbündete qua Status als "unterdrückte Minderheit" herbei. Muslimische Migranten hätten die Arbeiterklasse als "revolutionäres Subjekt" der postmodernen Linken abgelöst. Sie gelten als subaltern "Verdammte dieser Erde" (Frantz Fanon), die aufgrund entwürdigender kolonialistischer Erfahrungen generationsübergreifend ein angeborenes Widerstandsrecht gegen den Kapitalismus innehätten. Dumm nur, wenn sich diese Glorifizierung als Trugschluss erweist und Mitglieder jenes "schützenswerten Kollektivs" unverhohlen homophob sowie sexistisch zur Tat schreiten. Weil dieser Widerspruch nicht ausgehalten werden kann und ein Dogma vor Destabilisierung geschützt werden muss, darf die Herkunft des Täters keine Rolle spielen.

"Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt." (Siegmund Freud)

Zusätzlich besteht Grund zur Annahme, Queerfeminismus und Islamismus seien eine heimliche Liaison eingegangen. Gemeinsamkeiten finden beide Bewegungen in ihrer Betrachtungsweise von (sexueller) Identität und ihrem Feindbild des Westens.

Die LGBTQ-Community fasst sexuelle Orientierungen, wie Homo- oder Bisexualität, im Sammelbegriff "Queer" neben Transsexuellen als Minderheiten mit ähnlichen Interessen zusammen. Hier begeht die LGBTQ-Vereinigung den Fehler, sexuelles Begehren mit sexueller Identität unter einer politischen Klammer zu führen. Homosexuelle haben mit anderen Homosexuellen keine Übereinstimmungen, außer ihre sexuelle Orientierung. Allein auf disperse Diskriminierungserfahrungen blicken homosexuelle Biografien in unterschiedlicher Art und Weise zurück. Darüber hinaus trifft Homosexualität ebenfalls keine Aussage über die Geschlechterrolle eines Individuums – also ob jemand sich dominant, devot, zärtlich, burschikos, "typisch männlich" oder "typisch weiblich" verhält. Obendrein verfolgen Homosexuelle und Transaktivisten nicht selten antagonistische Interessen. So beklagt die Homo- und Bisexuellen-Vertretung LGB-Alliance, mit Trans als Modephänomen würde einer Konversionstherapie im progressiven Gewand Vorschub geleistet und homosexuellen Selbstfindungskrisen ein simpler Ausweg in Form von Geschlechtsumwandlungen angeboten. Identitätspolitik homogenisiert daher Minderheiten in Kollektive und essentialisiert individuelle Eigenschaften zu Gruppenmerkmalen.

In dieser Lesart sexuellen Begehrens reicht die identitätspolitische Linke konservativen Muslimen die Hand: Traditionelle Muslime zwangskollektivieren Lesben, Schwule und Bisexuelle unter ein und derselben Flagge des Regenbogens, wo auch Transsexuelle und queere Aktivisten eingeordnet werden. Differenzierung zwischen Transidentität und Homosexualität finden im reaktionären Alltagsislam nicht statt. In der repressiven Sexualmoral sind Trans- und Homosexualität zwei Seiten derselben Medaille eines verdorbenen, gemeinschaftsschädigenden und feminisierten Westens.

Wenn überall Identität herrschen soll, ist Abweichung undenkbar. In ähnlicher Weise, wie heteronormativ-archaische Gruppen jeden Keim von homosexuellem Nonkonformismus ausmerzen wollen, ist es für die Queer-Bubble irritierend, wenn Identität und Sexualität nicht den Imperativen politischer Korrektheit folgen. Migranten können Opfer rassistischer Diskriminierung und Täter homophober Gewalt zugleich sein. Schwule und Lesben müssen sich nicht zwangsläufig als Teil der Queer-Community verstehen. Islamisten verachten Homosexualität und können simultan einem verdrängten homosexuellen Begehren nachtrauern. Sexualität ist konflikthaft und nicht selten aggressiv. Identität ist nie homogen und lässt viel Raum für Zwischentöne.

Ambiguitätstoleranz ist anstrengend und mit ihr lässt sich keine emotionsgeladene Mehrheit auf die Straße bringen. Dichotome Weltbilder entlasten die eigene Verantwortung und es genügt, die Welt in Freund und Feind einzuteilen. Beim CSD in Berlin war auf nicht wenigen Transparenten der Slogan "Queers for Palestine" zu lesen. Traurig nur, dass die Gleichung "prowestlich gleich reaktionär" und "antiwestlich gleich progressiv" der Realität nicht standhält. LGBTQ-Personen werden in Palästina von Hochhäusern gestoßen oder hinter Autos durch Straßen gezerrt, um mit Folterungen Exempel zu statuieren. Wann wacht die Linke aus dem Dämmerschlaf der Wirklichkeitsverleugnung auf und besinnt sich zurück auf ihr universalistisches Erbe? Hoffentlich zügig, denn zur Emanzipation von sexuellen Minderheiten gehört die schonungslose Verifizierung der Unterdrücker. Und diese sind längst nicht mehr nur "westlich".

Dies ist Teil 2 zum Text "Unterdrückte (Homo-)Sexualität: Ein Risikofaktor für islamistische Gewalt", der vergangene Woche im hpd erschienen ist.

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1 Maani, S. (2019): Der Islam als Natureigenschaft. Warum wir Linke über den Islam nicht reden können. In: Versorgerin #121 März 2019