Unterdrückte (Homo-)Sexualität: Ein Risikofaktor für islamistische Gewalt

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Ein Jahr nachdem der Transmann Malte C. beim Christopher Street Day (CSD) in Münster einem tödlichen Angriff durch den 20-jährigen Tschetschenen Nuradi A. zum Opfer fiel, schlugen mindestens zwei junge Männer afghanischer Herkunft auf Pride Parade-Teilnehmende in Halle ein. Die Täter entstammen jeweils streng patriarchalen Milieus inklusive rigider religiöser Sexualmoral. Laut eines psychiatrischen Gutachtens ist Nuradi A. selbst homosexuell. Tabuisierte Sexualität befeuert Aggressivität und gilt als Risikofaktor einer Radikalisierung. Ein zweiteiliger Versuch, die Gewalt jenseits der inflationären Verwendung von "Queerfeindlichkeit" zu begreifen.

Am 27. August 2022 ging Nuradi A. am Rande des Münsteraner CSD auf eine Frauengruppe los und beleidigte sie als "lesbische Huren". Couragiert schritt der 25-jährige transsexuelle Malte C. ein. Nuradi A. attackierte Malte C. mit den Worten, "kein richtiger Mann" zu sein und schlug den Helfer zu Boden. Am Morgen des 2. Septembers 2022 starb Malte C. an seinen Verletzungen. Der im März 2023 wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge verurteilte Täter Nuradi A. war zum Tatzeitpunkt 20 Jahre alt. Der Asylbewerber tschetschenischer Herkunft lebte mit seiner Mutter in Münster und machte sich bereits vor der Tat als erfahrener Boxer und Kleinkrimineller einen Namen.

Rund ein Jahr später griffen am 9. September 2023 mindestens vier migrantische Jugendliche eine Gruppe von CSD-Teilnehmenden in Halle an. Laut Polizeiberichten beleidigten die Jugendlichen eine Person und gingen dann mit Schlägen und Tritten auf die Demonstranten los. Eine 41-jährige Frau kam schwer verletzt ins Krankenhaus. Die übrigen drei Betroffenen erlitten den Angaben zufolge leichte Verletzungen. Die Polizei überführte kurz nach dem Übergriff einen 16- und einen 20-jährigen Afghanen als Tatverdächtige. Weiterhin fahndet die Polizei nach den übrigen zwei Jugendlichen.

In beiden geschilderten Fällen stammen die Beschuldigten aus mehrheitlich muslimischen Herkunftsländern. Jeder von ihnen hetzte gegen Homo- oder Transsexuelle und nahm schwere Gewalthandlungen mit Tötungsrisiko in Kauf. Ohne Pauschalisierungen vorzunehmen und in der Hoffnung vom Gegenteil überzeugt zu werden, kann die kulturelle Herkunft der Angreifer hier als ideologische Ausgangslage für eine Bereitschaft zu den beiden skizzierten Taten gedeutet werden.

Erziehung zum Hass auf sexuelle Differenz

Tschetschenien und Afghanistan beherbergen beide erzkonservative, kollektivistische islamische Bevölkerungen. Normabweichungen sind in diesen Gemeinschaften sanktionsfrei unmöglich. Eine Sozialisation in der afghanischen oder tschetschenischen Herkunftsgesellschaft prägt die Subjekte maßgeblich in ihrer kulturellen Identität sowie in ihren intimsten Empfindungen.

1993 führte Tschetschenien die Scharia ein. Weibliche Familienmitglieder müssen gegen ihren Willen meist von der Familie ausgewählte Männer heiraten. Die Verschleierung ist für Frauen im öffentlichen Raum obligatorisch. Homosexuellen oder Frauen, die selbstbestimmt ihre Partnerinnen und Partner wählen wollen, droht die Hinrichtung durch den Familienclan oder die Folter durch Schlägertruppen des tschetschenischen Gottesstaates.

Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban 2021 ein traditionell geprägtes islamisches Land. Jenseits der Staatsreligion des islamischen Emirates Afghanistan ist das Land in den dörflichen Regionen geprägt von einer archaischen Stammeskultur. Bis zur Herrschaft der Taliban konnten zwar rudimentäre Freiheitsrechte für Mädchen, Frauen, Homosexuelle, Säkulare, Nicht- oder Andersgläubige erkämpft werden, jedoch wurden diese stets von reaktionären Kräften der afghanischen Bevölkerung bedroht. Mittlerweile ist die drakonische Umsetzung von Geschlechterapartheit und repressiver Sexualmoral wieder Normalität in Afghanistan und einstige Errungenschaften sind Geschichte. Schulbildung für Mädchen, Homosexualität oder unverschleierte Frauen gelten als Moralverbrechen und werden mit häuslicher Isolation, Vergewaltigung, öffentlicher Folter oder Todesstrafen geahndet.

Die gesamtgesellschaftlich rigiden Sex- und Gender-Normen islamischer Staaten reproduzieren sich in der Sexualerziehung patriarchaler Familien. Zuhause herrscht eine totalitäre Tabuisierung der Sexualität. Zärtlichkeiten zwischen den Eltern werden lediglich im Schlafzimmer ausgetauscht; je nach Härte der konservativen Gangart fängt die Geschlechtersegregation bereits im Kindesalter, jedoch spätestens mit dem Einsetzen der Periode der Mädchen an. Nacktheit ist geschlechterübergreifend verpönt und jegliche koedukativen Begegnungen, die zu vorehelichem Geschlechtsverkehr führen können, werden strengstens reglementiert.

Männlichkeit definiert sich über Attribute wie Stärke, Dominanz, Tapferkeit und geht mit den Aufgaben als Familienernährer und Kontrolleur der weiblichen Sexualität einher. Patriarchal-maskuline Narrative über Geschlechtsverkehr strotzen vor aggressiven verantwortungslosen Umgängen mit weiblichen Sexualpartnerinnen. Frauen internalisieren in patriarchalen Strukturen nicht selten die unterdrückte Rolle, sodass eigenes weibliches sexuelles Begehren Schuldgefühle hervorruft oder mit extremer Scham besetzt ist.1

Zum gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr unterhalten patriarchal muslimische Gemeinschaften ein gespaltenes Verhältnis zwischen Hass und Verfolgung auf der einen sowie Penetration und Macht auf der anderen Seite. Homosexualität ist eine Sünde im Islam. Gleichgeschlechtliches Begehren wird als Krankheit, Besessenheit von bösen Geistern und als per se "unmännlich" aufgefasst. 66 Staaten verfolgen Homosexualität strafrechtlich, in 12 Ländern droht sogar die Todesstrafe. Die meisten dieser Länder sind mehrheitlich muslimisch geprägt oder implementieren Teile der Scharia in ihre Rechtsordnung. Wo das Regime offiziell keine Homosexualität bestraft, sind es oft Familien, die homosexuellen Verdachtspersonen nachstellen. Homosexuelle Familienmitglieder werden als Schande für das Kollektiv betrachtet, die es zu verstoßen gelte. Daher leiden Homosexuelle in patriarchalen Strukturen unter besonderem Stress und täglichem Anpassungsdruck. Sie sind oft gezwungen ein Doppelleben zu führen, leben nicht selten in heterosexuellen Zwangsehen oder müssen sich "Konversionstherapie"-ähnlichen dubiosen Unterfangen ausliefern. Ihre Sexualität ist keineswegs auslebbar, sondern erfährt schon beim kleinsten Verdacht religiöses Mobbing oder Gewalt. Nicht wenige Homosexuelle aus autoritären Herkunftsgesellschaften gleiten in die Prostitution ab, führen ein Leben in kompletter Isolation oder begehen Suizid. Eine besonders hilflose Situation erleiden lesbische Frauen in geschlechtergetrennten Communitys. Lediglich die Familie und separierte Frauenbereiche lassen ihnen eine relative Macht zukommen. Diese Räume sind für verpöntes lesbisches Begehren jedoch keine des Schutzes, sondern vielmehr Orte der täglichen Selbstverleugnung.2

In der Geschichte muslimischer Gemeinschaften, aber auch in der Lebenswelt heutiger muslimischer Männer ist eine seltsame sexuelle Einteilung von gleichgeschlechtlichem Sex zu beobachten. Geschlechtsverkehr meint hier kein romantisches Erotik- oder Liebesspiel, sondern vielmehr eine Machtdemonstration in Form der Penetration. Es handelt sich um eine Demütigungsmethode, die den aktiven Part als Autorität und den passiven Part als Sklaven, nicht selten im Kindesalter, versteht. Sie verfolgt das Ziel der Klärung von Hierarchien, der Gefügig-Machung von Minderjährigen oder der Bestrafung von Unterlegenen. Glorifizierungen einer "Blütezeit des Islam" (in den Jahren 50 bis 1258), in der schwuler Sex akzeptiert gewesen wäre, erweisen sich hiermit als Geschichtsklitterung. Die in Gedichten über diese Zeitepoche des Orients viel gepriesene Homoerotik meint nichts anderes als die oben beschriebenen Vergewaltigungen unter Männern oder die sexuelle Überwältigung von Kindern unter dem Begriff der "Knabenliebe".3

In Afghanistan potenzieren sich diese sexuellen Übergriffe an Kindern im sogenannten Bacha Bazi-Brauch: Eine Gruppe erwachsener Männer nötigt minderjährige Jungs in traditionell weiblich wirkenden Kleidern für sie aufreizend im Kreis zu tanzen. Die Männer verstehen es als ihr Recht, das Kind grenzverletzend anzufassen oder sexuelle Handlungen zu erpressen. Dieses Ritual muss als organisierter Kindesmissbrauch im Namen einer archaischen Kultur bezeichnet werden. Auch Erziehungswissenschaftler Ahmed Toprak zitiert in seinem Werk "Muslimisch, männlich, desintegriert" eine Interviewpassage mit Birol, einem in Deutschland sozialisierten muslimischen Vater türkischer Herkunft, die das Dominanz (männlich)- und Unterworfen (weiblich)-Paradigma auch in der Penetration von Männern aufrechterhält:

"Ich habe auch schon mal einen Mann gefickt. Wenn der Mann sich ficken lässt, ist das sein Problem. (…) Wenn ein Mann sich ficken lässt, dann ist der doch kein Mann. Als ich Jugendlicher war, sind wir durch die Müllerstraße gezogen und haben schwule Jungs gefickt. Damit haben wir den Schwulen gezeigt, dass wir die richtigen Männer sind. Damit sie mal einen richtigen Schwanz im Arsch spüren."4

Als Birol erfuhr, dass sein eigener Sohn Kemal homosexuell ist, verprügelte er ihn und exkludierte ihn aus der Familie. Schwule Jungs widersprechen Birols Männlichkeitsbild und erfahren in seinem Umfeld keine Existenzberechtigung. Aktive Penetration habe jedoch mit "Homosexualität" nichts zu tun.

Perpetuierung repressiver Sexualität im Migrationsprozess

Im Aufnahmeland sehen sich viele migrantische Männer genötigt, ihre Männlichkeit stärker als in der Heimat zu markieren. Das kann folgende Gründe haben: Das männliche Selbstbild vom Verteidiger der Ehre und Bewahrer vor Schande gerät in westlichen Migrationsländern in die Krise. Der Status als fraglos mächtiger Patriarch erfährt wenig Anerkennung, Ohnmachtsgefühle setzen ein und die über Sitten wachende Nachbarschaft des Herkunftslandes fehlt. Unter dem Einfluss der Migration drohen identitäre Rettungsanker, wie jene der Kultur oder Religion, zu zerbrechen. Mit Deutschland wird Gleichberechtigung, sexuelle Vielfalt, Emanzipation und Freiheit verbunden. Diese Werte gelten als kulturfremd. Sie werden nicht als Bereicherung, sondern als Gefahr wahrgenommen. Zugewanderte Eltern tragen die Sorge, ihr Kind könnte sich anders entwickeln, seine Kultur vergessen und einem westlichen Lebensentwurf zum Opfer fallen.

Der überfordernde Kulturschock wird versucht mit einem verstärkten Rückgriff auf die Herkunftskultur zu bewältigen: Väter fordern mit Gewalt in der Erziehung Gehorsam ein, Mütter richten ihre Kinder zum Beispiel mit strikten Kleidungsvorschriften auf "Sittsamkeit" aus, Jungs demonstrieren eine toxische Männlichkeit und Mädchen müssen ihre "Reinheit" bewahren.

Zurück zu den Milieus der CSD-Schläger: Nicht unbegründet stehen daher tschetschenische Einwanderer in Deutschland oft im Zusammenhang mit enormer Gewaltaffinität, patriarchaler Ehrkultur und Clans mit Überschneidungen ins islamistische Milieu. Auch besonders afghanische junge Männer fallen in der Kriminalstatistik westlicher Migrationsgesellschaften mit einer Überrepräsentation bei Straftaten im Kontext sexualisierter Gewalt auf.5

Homosexualität ist im Angesicht von Kultur- und Religionsverlustängsten ein beliebtes Feindbild mit Entlastungsfunktion bei eigenen Anpassungskrisen. Die kränkenden Widersprüche des Westens lassen sich auf die sexuelle Differenz Homo- und Transsexueller zum gewöhnlichen Heterosexuellen übertragen. Homosexualität gilt als Antithese zur patriarchalen Männlichkeit. Der Homophobe identifiziert die Homosexualität mit bürgerlichen Freiheitsrechten, Individualismus, Lebensfreude, Hedonismus, Dekadenz, Degeneration und Traditionsverlust. Die Zielscheibe Homosexualität wird als bedrohlich wie verführerisch zugleich empfunden.

Nuradi A.: Gewalt regulierte eigene, verdrängte Homosexualität

In der Abwehr einer vermeintlichen homosexuellen "Infektion" kommt eine außerordentliche Angst zum Ausdruck. Die Werkzeuge der Psychoanalyse helfen dabei, die Ursprünge dieser Furcht zu ergründen. Das Phantasma der Angst besteht in dem Stehlen der als "natürlich" aufgefassten Heterosexualität und in der irrationalen Sorge vor einer vermeintlichen "Verschwulung". Die Absurdität dieses Ressentiments lässt darauf schließen, dass hier ein unbewusster Konflikt abgewehrt wird. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, entdeckte, "daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben"6. Freud wehrt sich daher, "die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. [...] Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objekts, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche".7 Im Laufe der psychosexuellen Entwicklung setzt sich bei heterosexuellen Menschen ein gegengeschlechtliches und bei homosexuellen ein gleichgeschlechtliches Begehren durch. Die sexuelle Orientierung fuße in bestimmter Hinsicht immer auf der Verdrängung hetero- beziehungsweise homosexueller Anlagen im eigenen Begehren. Die Angst vor Zwangshomosexualisierung richtet sich also gegen einen "Anteil seiner selbst, der unliebsam anders ist und mit Homosexualität und Transsexualität in Verbindung gebracht wird."8

Wie eingangs erwähnt, legten im Gerichtsprozess zum Angriff auf Malte C. ein psychiatrisches Gutachten, die Jugendgerichtshilfe und die Verteidigung von Nuradi A. dar, dass der junge Tschetschene selbst homosexuell ist. Bereits kurz nach der Tat half ein Zeuge mit einem Handyfoto der Polizei bei der Identifizierung des Tatverdächtigen. Schon hier kommentierte Nuradi A. das Handyfoto mit "Ich will nicht, dass mein Vater erfährt, dass ich schwul bin." Was hier auf den ersten Blick als widersprüchlicher Einzelfall erscheint, kann bei genauerem Hinsehen einen Kernaspekt von Homosexuellenfeindlichkeit und islamistischer Radikalisierung ausmachen: Homosexueller Selbsthass und sexuelle Instabilität können eine Anfälligkeit für radikale Weltbilder sowie Gewalt begünstigen. Aufgrund des Einräumens der eigenen homosexuellen Neigung sahen die Prozessbeteiligten von einer Bewertung der Tat als "queerfeindlich" ab. 

Bei nicht wenigen islamistischen Terroristen ist ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität und eine ambivalente sexuelle Orientierung anzunehmen. Der djihadistische Massenmörder Mohamed Bouhlel, der im Juli 2016 am französischen Nationalfeiertag 86 Personen auf der Promenade des Anglais in Nizza mit einem fahrenden LKW tötete, soll bisexuell gewesen sein und eine Beziehung zu einem deutlich älteren Mann geführt haben. Über den Attentäter des Anschlags auf den queeren Club "Pulse" in Orlando 2016, Omar Mateen, kursiert das Gerücht, er sei auf Dating-Apps für Homosexuelle aktiv gewesen. Seine Ehefrau vermutete, Mateen würde sein homosexuelles Interesse verleugnen. Dies zeigt: Nuradi A.s homosexuelle Präferenz bei gleichzeitigem Homosexuellenhass ist weder als Unvereinbarkeit noch als singulärer Ausnahmefall zu deuten. Mit der tödlichen Attacke regulierte Nuradi A. möglicherweise seine eigene verdrängte gleichgeschlechtliche Orientierung. Psychoanalytisch gesprochen ist hier die "pathische Projektion" am Werk: Das, was man an sich selbst verleugnet und unterdrückt (z.B. das freie Ausleben der Sexualität) wird am Äußeren identifiziert und muss dort ausagiert werden. Anhand dieser seelischen Disposition lässt sich annehmen, warum die Münsteraner Parade der LGBTQ-Bewegung zum Sündenbock für Nuradi A.s Schuldgefühle wurde.

Dem Anschein nach erzogen unter autoritären Methoden, aufgewachsen mit einer strikten Tabuisierung der Sexualität und sozialisiert durch den Männlichkeitskult patriarchaler Strukturen tschetschenischer Provinienz, kann Nuradi A. als tragischer Betroffener und Täter zugleich betrachtet werden. Es ist die "äußerliche Bedrohungssituation, die Homosexuelle im Selbsthass zur Identifikation mit dem Angreifer (zwingt, Ergänzung durch den Autor), um eine Ich-Stabilisierung im Angesicht existenzieller Bedrohung"9 zu erzielen. Die Angleichung von Homosexuellen an den homophoben Aggressor ist ein Mechanismus der pathologischen Angstbewältigung. Unfreie Gemeinschaften, die ihre Mitglieder eng an familiäre Strukturen binden, fördern diese Abwehrreaktion. Weil die eigene Community einem Schutz spendet und man sich gleichzeitig in Abhängigkeit zu ihr befindet, erscheint die Adaption des gewalttätigen Verhaltens als einzige Option, Anerkennung und Macht zu erlangen. Aus dem dauerhaften Trauma der Todesdrohung an Homosexuelle kann die Verinnerlichung der homophoben Raserei als Überlebensstrategie folgen. Da Autorität nicht in Frage gestellt werden darf, muss sie schließlich Recht haben. Dem schlussfolgert der Gedanke: "Ich selbst habe es verdient und die anderen verdorbenen Schwulen auch. Wie alle um mich herum finden, ist Homosexualität ein Todesurteil, also muss ich diese mir selbst und dem Gegenüber austreiben, um nicht in Verdacht zu geraten." Der Tod von Malte C. kann somit das traurige Resultat von Nuradi A.s psychosexuellem Verdrängungsprozess aus Selbstschutz in homophober Gesellschaft sein.

Tabuisierte Sexualität steigert Aggressionen

Nicht nur die latente Homosexualität in repressiven Strukturen, sondern auch ein durch libidinöse Askese entstandener Sexualneid erhöht das Gewaltpotenzial junger muslimischer Männer. Wie oben beschrieben, beruht der islamische Erziehungsstil auf einer Vermeidung sexueller Versuchungen bis zur Ehe. In Folge dessen entwickeln Männer – um bei den Tatverdächtigen zu bleiben – häufig eine sexuelle Verunsicherung. Das Fehlen von unreglementierten Erfahrungen mit dem eigenen oder fremden Geschlecht, die seltene Sublimierung von Trieben in hedonistischen Jugendkulturen oder die Abwesenheit sexueller Aufklärung kann eine Überforderung mit Freizügigkeit in der Öffentlichkeit fördern. Signale werden als "Einladung" missverstanden oder sexuell emanzipierte Individuen für das gehasst, was einem selbst verwehrt blieb. Die Verdrängung des Grundbedürfnisses an Sexualität führt zu Konflikten, weil Verlangen nach Erfüllung trachtet. Werden Sehnsüchte in ihrer Verwirklichung enttäuscht, entstehen Wut und Frustration. Der aufgestaute, unterdrückte Trieb kann sich in Aggressionen kompensieren.

In der Radikalisierung von IS-Kämpfern lässt sich zum Beispiel beobachten, dass die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe im späteren Kalifat mit einer sexuellen Verfügungsgewalt über mehrere Ehefrauen und im Paradies mit 72 Jungfrauen "belohnt" werden soll. Jene frühere sexuelle Ohnmacht legitimiere künftige sexuelle Allmacht.

Menschen, die glücklich, selbstbewusst und offen mit ihrer Sexualität umgehen, sind ein unerträglicher Anblick für nicht eingestandene Verlierer unter der eigenen reaktionär-religiösen Sexualmoral. Paraden für sexuelle Vielfalt und Freiheit sind evozierende Hassobjekte für Menschen mit einer unsicheren, unterdrückten Sexualität. Ein nicht unerheblicher Anteil junger – oft muslimischer – Männer ist in einem traditionellen, sexualitätsfeindlichen Erziehungsmodell aufgewachsen und kann im Verlauf von Identitätskonflikten zu einem Sicherheitsrisiko für Frauen und sexuelle Minderheiten werden. Weil sie Teil unserer Gesellschaft sind und wir ein Interesse an ihrer friedfertigen Entwicklung haben sollten, müssen wir diese jungen Menschen für Gleichberechtigung und sexuelle Selbstbestimmung gewinnen. Eine offene und schonungslose Debatte über patriarchale muslimische Strukturen ist dabei die Voraussetzung. Verwunderlich bloß, dass diese Aufklärung im Namen des "Queerfeminismus" verhindert wird. Dies wird Gegenstand des zweiten Teils der hiesigen kritischen Analyse sein.

Der Text wird im Laufe dieser Woche fortgesetzt.

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1 Angelehnt an: Vortrag von Ahmad Mansour unter dem Titel "Seelische und soziologische Risikofaktoren beim Coming-out junger Muslime" gehalten am 7. Oktober 2022 auf der Konferenz "Queer im Islam" beim Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) der Goethe-Universität. Abrufbar hier.

2 Stolzenberger, S. (2022): Aufstand gegen die Natur und gegen die Wirklichkeit. Zum Homosexuellenhass in der AfD und zur Unredlichkeit ihrer Kritiker. S. 188. In: Randgänge der Neuen Rechten: Philosophie, Minderheiten, Transnationalität. transcript. Bielefeld

3 Knoop, C. & Schneider, D. (2016): Willige Wüstensöhne. Über Orlando, Omar Mateen und warum die pathogene Sexualregulation des Islam nicht benannt werden darf. S. 60. In: Bahamas #74: Berlin bleibt weltoffen. Teheran Kämpf. Zeitschrift. Berlin

4 Toprak, A. (2019): Muslimisch, männlich, desintegriert: Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schief läuft. Ullstein Buchverlage. Berlin. S. 97

5 https://www.welt.de/politik/deutschland/plus233345145/Integration-Die-af... i.V.m. https://kreately.in/europes-afghan-crime-wave-is-mind-boggling/?fbclid=I...

6 Freud, S. (1972): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt a. M. S. 56. In: Studienausgabe. Band 5. Frankfurt a. M. S. 37–145

7 ebd.

8 l'Amour laLove, P. (2016): Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität. S. 23. In: Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität. Querverlag. Berlin. S. 11–33

9 Wolf, B. (2016): Heterosexueller Selbsthass? S. 59. In: ebd.