Rezension

Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden

Der Journalist und Lehrer Dennis de Lange beschreibt und analysiert in "Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden" das im Untertitel genannte Phänomen. Dabei nutzt der Autor sowohl die Bewegungsforschung wie die Geschichtswissenschaft als Methode und kommt zu interessanten Ergebnissen zu einem eher exotischen Thema.

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi wurde durch seine Romane "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" weltberühmt. Weniger bekannt ist indessen, dass er Anhänger eines christlichen Anarchismus war und für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen eintrat. Diese sollten nicht durch den Gewaltakt einer Revolution, sondern durch die Entwicklung des Einzelnen erfolgen. Um die damit einhergehenden Auffassungen entstand die Frühform einer sozialen Bewegung, die für Alkoholabstinenz und Vegetariertum und gegen Militarismus und Staat votierte. Deren Kolonien und Siedlungen verstanden sich zwischen 1890 und 1930 als eine Gegen-Gesellschaft zum etablierten Miteinander.

Derartige Tolstojaner gab es auch in den Niederlanden. Darüber berichtet der Historiker und Lehrer Dennis de Lange, Redakteur der anarchistischen Zeitschrift "Buiten de Orde" (Jenseits der Ordnung), in seiner Studie "Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden", die aus einer Masterarbeit an der Freien Universität Amsterdam hervorgegangen ist.

Dem Autor geht es darin um eine Kombination zweier Perspektiven, die der Bewegungsforschung wie der Geschichtswissenschaft. Demnach will er einerseits die Entwicklung des Tolstojanismus aufarbeiten, aber auch nach seinem Bewegungscharakter fragen. Dazu nutzt Lange im englischsprachigen Raum bekanntere Ansätze (McAdam/McCarthy/Zald), die ihm als Analyseraster für die Frage nach den Gründen für das Aufkommen wie den Niedergang dienen. Am Beginn stehen indessen Ausführungen zum gesellschaftlichen Kontext, wobei es um den Modernismus und die soziale Frage in den Niederlanden geht. Danach folgt eine Darstellung des dortigen Tolstojanismus: Sie beschreibt die einzelnen Hauptakteure und das organisatorisch-publizistische Umfeld. Besondere Aufmerksamkeit finden dabei die alternativen Praktiken, die im Alltag ohne Alkohol- und Fleischkonsum in gemeinschaftlicher Arbeit und mit neuen Erziehungsmethoden einhergingen. Auch die Auflösung des Siedlungsprojekts wird gesondert erörtert.

Auf die Auseinandersetzung mit dem Bewegungscharakter muss man indessen länger warten, denn der Autor kommt zu dieser Problemstellung erst in einem ausführlicheren Schlusswort. Dort nimmt er eine systematische Analyse vor, welche sowohl für die Entstehung wie den Niedergang nach Erklärungsfaktoren auf der Makro- wie der Mikroebene fragt. Bilanzierend heißt es: "Gerade die Kombination aus Christentum, Anarchismus, Antimilitarismus, Gemeinschaftlichem Grundbesitz und Reinem Leben, die den Tolstojanismus so einzigartig machte, war die Ursache dafür, dass es unmöglich war, die Bewegung zu vergrößern. Der Tolstojanismus blieb eine elitäre Angelegenheit und es gelang ihm niemals, eine Brücke zur Welt der ArbeiterInnen zu schlagen. Den Wert des Tolstojanismus müssen wir darum vor allem in der Verbreitung der einzelnen Aspekte des Tolstonajnismus sehen und in der Rolle, die die einzelnen AnhängerInnen bei der Gründung verschiedener humanitärer Organisationen ... gespielt haben und in dem Stempel, den sie diesen Organisationen aufdrückten" (S. 162).

Langes Studie konzentriert sich demnach auf eine frühe Bewegung, die indessen nur sehr eingeschränkt gesellschaftliche und politische Relevanz aufwies. Man hat es damit aber auch mit einer Arbeit über Alternativmodelle sozialen Miteinanders zu tun, welche in den 1970er Jahren in den westlichen Ländern eine Renaissance erfuhren, letztendlich aber auch bezogen auf Eigenständigkeit und Wirkung gescheitert sind. Insofern lassen sich aus dieser Fallstudie einige Erkenntnisse ableiten, welche für die Analyse solcher Bewegungen von inhaltlicher Relevanz sind. Bezogen auf Alternativschulen hatte etwa der britische Philosoph Bertrand Russell nur wenige Jahre nach Tolstoi ähnliche Projekte gegründet. In beiden Fällen kam externen Faktoren eine bedeutende Rolle für das letztendliche Scheitern zu. Aber auch aus Bewegungsforschungssicht ist das Buch von Lange interessant, macht er doch gegen Ende für die Analyse auf die Grenzen der Reichweite entsprechender Theorien aufmerksam. So exotisch demnach das Thema ist, so lehrreich kann das Werk sein.

Dennis de Lange, Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden, Berlin 2016 (Verlag Graswurzelrevolution), 177 S., ISBN 978-3-939045-27-4, 16,90 Euro