"Stadtgespräch" in Garbsen

Mit Utopien von vorgestern kann man nicht die Probleme der Zukunft lösen

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"Bedeutung und Perspektiven von Religion und Kirche in unserer Gesellschaft" – Zu diesem Thema fand am 29. Oktober im Rathaus Garbsen ein "Stadtgespräch" mit hochkarätiger Besetzung statt: Landesbischof Ralf Meister (Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers), Guido Wiesner (Präsident des Humanistischen Verbands Niedersachsen), Ingrid Wettberg (1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover) und Ali Faridi (Religionsgemeinschaft der Bahá'í und Mitglied des Vorstands des Hauses der Religionen in Hannover) diskutierten unter der fachkundigen Leitung von Sven Speer vom Forum Offene Religionspolitik und nahmen zu Publikumsfragen Stellung. Für den hpd berichtet Matthias Krause von der Veranstaltung.

Nach kurzer Begrüßung durch Dr. Stefan Birkner vom Freundeskreises Garbsen hielt Bischof Meister das halbstündige Hauptreferat.

Meisters Vortrag

Meister wies zunächst darauf hin, dass die Kirchen in allen Ethikkommissionen, die von der Politik zu zentralen Schlüsselfragen einberufen werden, vertreten sind, und schloss daraus, dass es heute immer noch einen weitestgehenden gesellschaftlichen Konsens darüber gäbe, dass die Kirchen zu Werten und Normen etwas zu sagen hätten.

Das Feld der Kirchen seien allerdings primär nicht Werte und Normen, sondern der Glaube. Religion habe ihrem Wesen nach nicht zu allererst den Anspruch, Moral auszuüben, sondern sie frage nach dem letzten, tragenden Sinn.

Zentrale Begriffe wie Menschenwürde oder Menschenrechte seien zwar in ihrer Entstehung nicht ohne den Rückgriff auf die christlich-jüdische Tradition zu verstehen, aber dass ein Christ die Würde des Menschen mit der Gottebenbildlichkeit erklären könne, überzeuge einen Nichtchristen nicht. Es brauche einen Konsens für die Zukunft unserer Gesellschaft, der nicht von einer einzigen Religion definiert wird, sondern aus dem Konsens der gesamten Gesellschaft, die sich aus Religiösen wie Nichtreligiösen zusammensetzt. Es müsse eine Gesprächssituation geschaffen werden, dass die unterschiedlichen Begründungszusammenhänge nicht im Gegeneinander sind, sondern parallel auf einen Weg gelegt werden.

Ethische Entscheidungen würden oftmals nicht aus abstrakten Sätzen, sondern aus Intuition getroffen. In einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der die größte Gruppe die Nichtreligiösen sind, liegt die Bedeutung der Kirche nach Auffassung Meisters darin, dass sie für unsere Gesellschaft Erzählungen bereithält, die in ihrer Anschaulichkeit Menschen so bewegen, dass sie für ihr moralisches Urteil noch eine Bedeutung haben können. Wie z.B. die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die den Sinn für das Mitleid wecke und die Frage "Wer ist mein Nächster?" thematisiere. Dies sei momentan auch eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Diese Geschichte zu erzählen, wachzuhalten und damit Menschen anzuregen, bleibt eine prägende Aufgabe der religiösen Gemeinschaften.

Meister zufolge übernehmen Religionen zudem weltweit eine Schlüsselrolle, um gesellschaftliche Prozesse zu heilen. Einer Studie des Soziologen Hans Joas (Meister bezeichnete ihn als "katholischen Theologen") habe gezeigt, dass Gesellschaften, in denen Religionen weniger prägend waren, andere große Erzählungen als Erklärungsmuster erfanden, um die Gesellschaft zu stabilisieren. Religion sei also nicht die einzige Antwort auf die Sinnsuche.

Eine weitere Bedeutung von Religion, die zunehmend auch von Menschen geschätzt werde, die mit Religion nichts am Hut hätten, sei die Rolle der Kirchenräume. Hier erwähnte Meister den Brand der Willehadikirche in Garbsen 2013. Kirchenräume riefen aus, was die Rolle von Religion in einer Gesellschaft meine. Kirchen, Moscheen und Synagogen seien die großen Trostorte einer Gesellschaft, wie z.B. nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Sie seien "die Naherholungsgebiete für die bedrohten Seelen unserer Welt".

Zudem seien Kirchenräume und religiöse Orte Asylorte, Schutzräume. Und zwar für die Sprache. Dort werde anders gesprochen, dort bezöge man sich meistens auf sehr alte Texte in einer kostbaren Sprache. Sätze wie "Willst du N.N. als deine Ehefrau annehmen?" entzögen sich dem säkularen Sprachgebrauch. Meister zitierte den Philosphen Jürgen Habermas mit den Worten "Als sich Sünde in Schuld und das Vergehen gegen göttliche Gebote in einen Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelten, ging etwas verloren." Habermas habe bemerkt, was passiere, wenn der religiöse Asylort für die Sprache wegfalle. In religiösen Räumen habe eine Hoffnung ihren Ort, die wir uns überhaupt nicht mehr trauten, in der säkularen Welt zum Ausdruck zu bringen.

Alle Religionsgemeinschaften seien aufgerufen, an der Kultur des interreligiösen Gespräches teilzunehmen.

Podium, Runde 1

Im Anschluss an Meisters Referat machte Sven Speer deutlich, wie sich die weltanschaulichen Kräfte in Niedersachsen verschoben haben: 1950 seien 77 Prozent der Niedersachsen evangelisch gewesen, heute seien es noch knapp 50 Prozent. Der Anteil der Katholiken habe 1950 bei 19 Prozent gelegen und heute immer noch bei 18 Prozent. Andere Religionen und Konfessionslose hätten 1950 4 Prozent ausgemacht, heute gäbe es in Niedersachsen 3 Prozent Muslime und 26 Prozent Konfessionslose. Die Nichtreligiösen seien also in Niedersachsen am stärksten gewachsen. Von Guido Wiesner wollte Speer wissen, ob auch die Bedeutung des Humanistischen Verbandes entsprechend gewachsen sei, oder ob sie etwa abgenommen habe, weil es heute weniger Religiöse gibt.

Wiesner bestätigte die Abkehr von religiösen Strukturen und sagte, er kenne auch viele "Schläfer", die zwar noch Kirchenmitglied seien, sich aber nicht engagierten oder noch nicht ausgetreten seien. Wiesner glaubt, dass die Kirchen an ihre Grenzen gestoßen sind. Seiner Erfahrung nach suchten die Menschen nach anderen Lösungen als denen, die die Kirchen in den letzten Jahren angeboten haben. Die Menschen wollen heute pragmatische Lösungen. Als Beispiel nannte Wiesner den Amoklauf in München am 22. Juli dieses Jahres. Dort habe es eine Andacht in der Liebfrauenkirche gegeben. Der überwiegende Teil der Opfer seien allerdings Muslime gewesen. Hier stelle sich die Frage, warum man keine Gedenkveranstaltung in einer Moschee gemacht habe – auch als Zeichen dafür, wie offen die Gesellschaft geworden sei. Hier sei eine Chance verpasst worden.

Wiesner zufolge sind die Phrasen der Kirchen oft nicht mehr mit dem heutigen Leben kompatibel – zum Beispiel, wenn Naturereignisse als Fügung Gottes Beschrieben werden. Die Menschen wollten heute andere Antworten haben, die sie in den Kirchen nicht mehr fänden – daher auch die Austritte.

Wiesner sieht die Säkularisierung in unserer Gesellschaft auf einem großen Vormarsch. Die Menschen würden selbst denken und erforschen, was sie glauben wollten und wem sie sich anschließen, und ob freies Denken gewünscht werde oder nicht.

An Ingrid Wettberg richtete Speer die Fragen, ob es Juden in Deutschland schon vor den Christen gegeben habe, ob Deutschland eine jüdische Renaissance erlebe, und wie sich das Judentum zahlenmäßig und im Hinblick auf das Gemeindeleben entwickele.

Frau Wettberg erklärte, die älteste jüdische Synagoge sei in Köln ausgegraben worden und datiere von 333. Die Juden seien ab ca. 300 mit den Römern in das Gebiet des heutigen Deutschlands gekommen und hätten sich vor allem in Köln, Mainz und Worms angesiedelt. Bis 1.100 habe es ein gutes Zusammenleben mit den Christen gegeben, dann seien die Kreuzzüge über Deutschland hinweggegangen: "Es wurde gemordet ohne Ende."

Bis zur französischen Revolution mussten die Juden in Ghettos leben, unterlagen vielen Beschränkungen und mussten machen, was den Christen verboten war. Bis zum 2. Weltkrieg gab es 500.000 Juden in Deutschland, darunter so berühmte wie Hanna Ahrendt, Arthur Schnitzler, Max Reinhardt, Max Liebermann, Kurt Tucholsky oder Albert Einstein.

Nach dem Krieg hätten viele überlebende Juden auswandern wollen, einige aber seien geblieben. Deren Gemeinden seien klein und orthodox gewesen, da es sich um polnische Juden gehandelt habe. Und so sei das Judentum "dahingedümpelt": Bis 1989 habe es 26.000 Juden in Deutschland gegeben, und diese seien fast alle sehr alt gewesen: "Fünf Jahre später hätte Hitler gewonnen." Aber dann seien nach die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen. Dadurch sei das Judentum wieder pluralistischer geworden und es konnten sich auch liberale Gemeinden bilden. Das sei die "Renaissance" gewesen, die Speer ansprach. Nach der Zuwanderung habe die Zahl der Juden mal 200.000 betragen, jetzt seien es aber wieder unter 100.000. Jüdische Gemeinden gibt es nur in den großen Städten. "Das ganze Landjudentum, das ist tot, und das wird es nie wieder geben." Da gäbe es nur noch Stolpersteine (Gedenksteine, die an deportierte und ermordete Juden erinnern), aber keine Juden mehr. In Niedersachsen gäbe es 280 jüdische Friedhöfe ohne Gemeinden, zu jedem dieser Friedhöfe habe mal eine kleine jüdische Gemeinde gehört.

Frau Wettberg denkt, dass jüdisches Leben in Deutschland auf Dauer Bestand haben wird. Allerdings sei man von Normalität noch meilenweit entfernt, was sich z.B. an Drohungen und notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zeige. 30% der Deutschen seien antisemitisch eingestellt. Der Antisemitismus habe sich in einen Antizionismus verwandelt. Frau Wettberg ist auch Mitglied im Rat der Religionen in Hannover.

Von Ali Faridi wollte Speer wissen, ob es eine religiöse Renaissance gebe, oder nur eine Zunahme religiöser Vielfalt.

Faridi beobachtet in erster Linie eine Zunahme der Religiosität, die nicht unbedingt damit zu tun habe, ob man sich einer Religionsgemeinschaft direkt zugehörig fühlt oder nicht.

In einem kleinen Exkurs stellte Faridi das Haus der Religionen in Hannover vor, das bundesweit einzigartig sei. Es sei ein Zentrum der Begegnung für interreligiöse und interkulturelle Bildung, kein Gebetsort und auch keine Interessenvertretung der Religionen. Vormittags kämen viele Schulklassen, abends und am Wochenende gäbe es Veranstaltungen zur Erwachsenenbildung, z.B. die Veranstaltungsreihe „Bibel und Koran“, oder derzeit „Tora und Koran“. Man könne sagen: Menschen, die schon mal in einer Synagoge oder in einer Moschee waren, seien mehr oder weniger gegen Fremdenfeindlichkeit geimpft. Auch der Humanistische Verband sei auf eigenen Antrag hin Mitglied des Forums der Religionen, denn es gebe viele Schnittmengen. Faridi hofft, dass irgendwann Häuser der Religionen auch in anderen Ländern mit anderen religiösen Prägungen entstehen. Er empfahl auch das von Rat der Religionen herausgegebene Buch "Religionen in Hannover".

Anschließend nahm Bischof Meister zu der These von Guido Wiesner Stellung, dass die Kirchen nicht mehr kompatibel mit der Lebensrealität der Menschen seien. Seiner Erfahrung nach verließen Menschen die Kirche, weil sie mit deren Antworten nichts anfangen könnten oder sagten: Das bringt mir nichts, was die Kirche tut. Aber er würde das nicht generell sagen. Die Austrittszahlen in Niedersachsen bewegten sich im mittleren Feld der EKD-Mitgliedskirchen.

Zum "Rückgang der Religion" wies Meister darauf hin, dass die Religion weltweit allein schon durch das Bevölkerungswachstum massiv wachse. Die Vorstellung, es gäbe irgendwann eine religionslose Welt oder eine religionslose Gesellschaft, sei eine große Illusion, die schon seit Karl Marx falsch sei. Es gebe den schönen Satz: Die Menschen verlassen die Kirche in Mengen, zurückgewinnen kann man sie nur einzeln. Die Entscheidung für die Kirchenmitgliedschaft müsse eine aufgeklärte, individuelle Entscheidung sein. Ihm sei klar, dass bei der Antwort auf die Frage "Warum bin ich Kirchenmitglied?" ein paar der 23 Millionen Protestanten in Deutschland länger zögern würden. Aufgabe der Kirche sei, in dieses Zögern hineinzugehen und nicht zu fragen: Dir fehlt doch gewiss was, wenn du nicht mehr in der Kirche bist. Sondern zu fragen: Gibt es Grundfragen in deinem Leben, die du mit all dem, was du weißt, was du liest, mit deinem aufgeklärten Verstand, und mit den klügsten Leuten, mit denen du dich umgibst, nicht geklärt bekommst? Ohne die Frage nach Gott zu stellen.