Doris Anselm "Hautfreundin – eine sexuelle Biografie"

Wörter sind empfindlich

Die Autorin schreibt über Sex. Na und? Ist das verwerflich? Das tun doch andere Schriftsteller auch. Ja, Männer hauptsächlich. Unwillkürlich ertappt man sich, dass man fast in der Befangenheitsfalle sitzt, wenn man als Mann über das Buch einer Frau schreibt – doch dieses Gefühl kommt seltsamerweise bei diesem Buch von Doris Anselm überhaupt nicht auf, vielleicht weil es so unaufdringlich ist.

"Du sprichst es mit einer Art Leidenschaft, einer Art Dringlichkeit aus, denn du spürst, wenn du aufhören würdest, es auszusprechen, dann würde dich die Angst wieder überwältigen, und du würdest in dieses verlegene Flüstern zurückfallen."

Mit diesem Zitat der amerikanischen Autorin Eve Ensler ("Die Vagina Monologe") beginnt das Buch, und es ist sehr bezeichnend, dass diese Worte an den Anfang gestellt sind. Nicht umsonst haben diese Protokolle der vielfach beachteten Dramatikerin (auch in Deutschland haben diese Szenen Furore auf den Bühnen gemacht und) ein neues Nachdenken über weibliche Sexualität inauguriert und nicht umsonst stehen diese Worte über dem Kapitel "Das Wort" bei Doris Anselm. Nun kann man vielfältig subsumieren, dass ja das Wort stellvertretend für den Austausch von Gefühlen und Gedanken innerster Verbundenheit steht, man sich also sprachlich auf eine Form innerster Zweisamkeit einigt. Man versteht sich – oder auch nicht, wenn diese Ebene nicht erreicht ist.

Cover

Das Wort als Verbindung zwischen den Menschen, die Haut als äußerste wie dann auch innerste Reibungsfläche aneinander, füreinander. Der Kontakt erklärt Bindungen oder auch Ent-Bindungen. Es ist ein leises Buch, als ob die Autorin zuerst die sprachliche Annäherung wagt und dann erst die sexuelle Aktivitäten zwischen Mann und Frau beschreibt. "Ich glaube, Wörter sind empfindlich. Man berührt sie beim Sprechen, und dabei nehmen sie die Absichten und Gefühle auf, mit denen man sie sagt."

Es beginnt mit einer Szene, die einem sehr bekannt vorkommt, mit einem telefonischem Gespräch über eine Reklamation. Die – namenlose – Protagonistin möchte den falschen Geruch des Kühlschranks bemängeln. Man kennt das ja selbst, man muss sprachlich codierte Folgefragen beantworten – hier aber entzieht sich die Anruferin dem Codex und bekommt es mit einem Gesprächspartner zu tun, der wiederum Fragen stellt.

Daraus entwickelt sich eine Szene, die die sexuelle Anziehung zwischen den beiden bei einem realen Treffen beschreibt, leise und unaufdringlich. Ein Abenteuer, dem noch einige andere mit anderen zeitweiligen Partnern folgen werden, über zehn sind es letztendlich, meist in der Gegenwart beschrieben, eines ist in eine nicht allzu entfernte Zukunft datiert, "Report aus der Zukunft". Die Protagonistin sucht sich ihre sexuellen Kontakte selber aus, nicht online.

Dieses Buch ist kein Porno, mag man überflüssigerweise kurz einwenden, dieses Buch ist eine Entdeckung, eine sprachlich meisterliche obendrein, mag man sich einzelne Sätze auf der Zunge zergehen lassen:

"Er hat Gänsehaut.
Keine Mir-ist-kalt-Gänsehaut, denn es ist warm in der kleinen Kabine, sondern eine Ja-ich-bin-auch-aufgeregt-Gänsehaut. Eine Ich-spüre-dich-nicht-nur-zwischen-den-Beinen-Gänsehaut. Diese winzigen, beredten Hügel und Täler machen mich so euphorisch und hungrig, dass meine eigene Haut nur noch stakkatohaft mit mir spricht: Heiß und haben und jetzt stammelt sie, und genau da greift er nach meinen Händen und zieht sie langsam um seinen Körper herum."

Die leise Sprache der Autorin hat ihren eigenen Reiz, sie tastet sich an Gefühle wie Stimmungen heran, sie ist vorsichtig, bevor sie den ganzen Zustand beschreibt, so wie hier:

"Als ich über den Platz gehe, greift der nasse Wind unter den Rock... Ich muss stehen bleiben, weil in meinem Unterleib ein tiefes Wummern aufbrandet, ein Gefühl, als hätte ich eine laute, ungenierte Mitbewohnerin, die einfach ihre Boxen aufstellt und den Bass hochjagt. Alles Gewebe übernimmt ihren Rhythmus, einen pochenden Phantomschmerz. Der Rest von mir will sich beschweren, aber ehrlich gesagt: die Musik ist verdammt gut. Ich gehe in ihrem Takt zur Bahn, und jeder Schritt von mir nimmt ein Stück Straße in Besitz."

In einem längeren Interview mit ihrem Verlag (Luchterhand) deutet die Autorin den Balanceakt an, dem sie mit ihrer Sprache, mit ihrer Sichtweise über die Sexualität von Frauen in der Literatur begegnet ist: kaum eine Stimme ist da vorzufinden, vielleicht Benoite Groults "Salz auf unserer Haut" und Gloria Steinem oder Ovid, aber alle anderen Bücher über Sexualität stammen von Männern und ihren Sichtweisen, wobei allerdings auch noch bei Groult hinzuzufügen ist, dass sie sich mit ihrer eigenen Literatur der Literatur ihres Mannes entgegensetzen musste, der in Frankreich bekannter war als sie.

Letztendlich ist es auch völlig egal, in welcher Tradition sie sich befindet. Das Buch ist eine wahre Entdeckung, was auch nicht allzu oft vorkommt.

"Hautfreundin" ist ein sehr gelungener Roman einer Autorin, die bisher relativ wenig veröffentlicht hat. Sie, die in Niedersachsen geboren ist und in Hildesheim Kommunikationswissenschaften studiert hat, wird hoffentlich noch oft Literarisches veröffentlichen. Der Berliner Literaturpreis Open Mike, den sie vor einigen Jahren erhalten hat – und der schon des Öfteren den Weg zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewiesen hat, war völlig zu recht verdient.

Und in der "Hautfreundin" spätestens hat sie ihren Schreibstil auch angedeutet:

"In einem normalen Text folgt ein Buchstabe, ein Wort, ein Satz dem anderen. Zwangsweise, denn anders lässt er sich ja nicht schreiben. Aber inzwischen frage ich mich, ob dieses im Prinzip sehr schlichte Problem dazu geführt hat, dass viele Geschichten die Reihenfolge von Ereignissen ein bisschen zu wichtig nehmen. Vielleicht stehen manche Ereignisse weniger in einem zeitlichen als in einem räumlichen Zusammenhang. Oder in einem ganz anderen. Vielleicht ist schon immer alles da."

Doris Anselm, Hautfreundin – eine sexuelle Biografie, Luchterhand, ISBN: 978-3-630-87603-0, 20,00 Euro