Rezension

Der Erfinder des Sadomasochismus

ZWICKAU. (hpd) Am 2. Dezember 1814 starb 74-jährig der französische Adelige Marquis de Sade. Im hpd erinnerte Horst Herrmann an ihn unter der Überschrift “‘Pornographie’ als Aufklärung”. Schon die Anführungsstriche betonen, dass umstritten ist, wie seine Schriften zu charakterisieren sind. Der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp rezensiert die jüngst von Volker Reinhardt vorgelegte Biographie de Sades unter diesem Schwerpunkt.

Angesichts der Legenden um de Sade und seine literarischen Hinterlassenschaften nahm der deutsche Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing 1886 den Namen als Grundbaustein, um in seiner Schrift “Psychopathia sexualis” den Begriff “Sadismus” zu bilden als Gegensatz zum “Masochismus”. Diese “Perversion” wiederum geht auf den Schriftsteller Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836–1895) zurück, der sich noch zu Lebzeiten gegen diese Verwendung seines Namens vergeblich bemühte. Sein Hauptwerk ist der Roman “Venus im Pelz” (1870), 2013 eindrucksvoll verfilmt von Roman Polanski. Es handelt sich bei beiden Begriffen, wie man bis in die 1990er Jahre annahm, um medizinische Indikationen einer auf sexuelle Störungen zurückgehenden Krankheit, 1913 von Isidor Sadger zusammengesetzt zu “Sado-Masochismus”.

De Sade gilt auch heute noch als Inbegriff eines atheistischen Sadisten und Triebverbrechers (“Es gibt keinen Gott, ich habe es selbst erlebt!” S. 400), aber zugleich als genialer Roman- und Stückeschreiber, Kämpfer gegen sexuelle Unterdrückung und scheinheilige Moral. In seinem beeindruckenden Schlusskapitel zeigt Volker Reinhardt, wie groß die Wirkung de Sades bis heute ist, von der Psychoanalyse über den Nietzscheanismus, den Feminismus und Existentialismus, die Kritische Theorie bis hin zum Surrealismus.

Als ewiger Freigeist blieb – und ist noch immer – de Sade schlecht beleumundet, ja verhasst. Zugleich bilden sein Leben als “Libertin” und sein Werk einen Schlüssel, das Sexualleben der obersten französischen Adelsschichten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verstehen, auch als Geburt des Sadomasochismus. De Sade gilt als der Prototyp eines Lüstlings, der sich bewusst nicht an moralische und traditionelle sexuelle Normen gebunden fühlte und einen ausschweifenden Lebenswandel führte. “Erst dieses Bewusstsein, alle Normen straflos übertreten zu dürfen, erzeugt die grenzenlose Lust daran, andere sexuell zu unterwerfen und zu quälen.” (S. 269)

Für de Sade galt, wie für andere Libertins, etwa den Herzog von Richelieu: “Ich unterscheide mich, also bin ich: Diese Selbstvergewisserung war ganz überwiegend sexuell bestimmt.” (S. 79) Sie hatte auch die Konsequenz: “Wenn sich die Welt dem Laster verschriebe, würden wir uns der Tugend widmen.” (S. 210) “Die Tugend ist fade, das Laster aber macht Spaß.” (S. 263) Die Libertins in de Sades Romanen preisen zwar den Egoismus. Sie sind jedoch zur Geselligkeit verdammt, “da eine einsam ausgeführte Untat nicht zählt.” (S. 350)

Reinhardt hat eine ebenso sachliche wie spannend geschriebene Lebensbeschreibung vorgelegt, die zahlreiche Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert öffentlich macht und vieles geradezurücken vermag hinsichtlich Dichtung und Wahrheit im Werk und im Leben des Autors de Sade. Klar unterscheidet Reinhardt empirisch belegbare Tatsachen in de Sades Leben und erörtert vorliegende Interpretationen, Gerüchte und Mythen (siehe Zeittafel S. 439–445, Stammtafel der De Sades S. 446 f., Literaturliste S. 455–459 und Personenregister S. 461–464).

Zugleich ist das Buch eine philosophische wie literaturwissenschaftliche Werkanalyse und -geschichte, die de Sade in seine Zeit einordnet und Angebote macht, worin seine Erkenntnisleistungen bestehen, zumal sich de Sade immer und vor allem als Menschenforscher verstand bis hin zu Versuchen, die Abgründe menschlichen Handels zu erfassen, möglichst selbst zu erleben und in Selbstversuchen zu erleiden. (vgl. S. 122)

Bei seinen Experimenten mit Prostituierten achtete er auf minutiöse Versuchsanordnung, um zu “überprüfen, was die Opfer dieser Leidenschaft dabei empfinden”, bei einem “völligen Mangel an Empathie” seinerseits. (S. 81) “Der Mensch, so das Fazit de Sades, ist ein gewalttätiges Tier, das sich an eigenen und fremden Grausamkeiten berauscht.” (S. 146) “Was seine Sexualpraktiken und Erregungsphantasien betrifft, war der bisexuell veranlagte Marquis de Sade … ohne Frage ein ‘Sadist’”. (S. 399) “Auffällig ist auch die Faszination durch die menschlichen Exkremente.” (S. 398)

Reinhardt rückt die Tapferkeit de Sades als Offizier in ein neues Licht (“Tollkühnheit, die Lust am höchsten Risiko und den Furor, der diesen Todemut nährte”, S. 400), schildert seine ausschweifenden Jugendabenteuer, seine ersten Experimente mit unschuldigen Opfern, die lange Zeit der Flucht und Gefangenschaft, sein Engagement in der Französischen Revolution, immerhin wurde er Richter, und schließlich seine letzten Jahre in einem Irrenhaus, von Peter Weiss 1964 in ein erfolgreiches Theaterstück gebracht, dessen Kernbotschaft (“Für Weiss war der Aristokrat de Sade ein Volksfeind.” S. 428) von Reinhardt kritisch seziert wird. Auf das Theaterstück von Gregor Edelmann “Die letzte Liebe des Marquis de Sade” und dessen berühmt gewordene Aufführung am Berliner “Theater des Ostens” (1994/95) in der Regie von Vera Oelschlegel, mit Hans-Peter Minetti und Patricia Ell, geht Reinhardt nicht ein.

Besondere Beachtung findet bei Reinhardt der philosophische Gegensatz de Sades zu Rousseau sowie de Sades Blick sowohl auf das Ancien Régime als auch die Jakobinerherrschaft (hier vgl. S. 319). Die Lust zur Grausamkeit, so seine Einsicht, sei mit unterschiedlichsten Gesinnungen und Ideologien verbindbar (vgl. S. 359). Reinhardt arbeitet nachvollziehbar die Position de Sades heraus, dass, wer nach der Lektüre seiner Romane noch immer auf der Seite des Bösen steht, selbst böse sei (vgl. S. 344 f.) In die Lebens- und Werkgeschichte eingebunden sind Begründungen, warum de Sade über anderthalb Jahrhunderte nahezu vergessen war.

De Sades Romane waren zugleich philosophische Texte, in denen er seiner sexuellen Phantasie freien Raum gab. Männer und Frauen, mal die einen, mal die andren sind dominant. Sie testen – wie es heute heißen würde – sadomasochistische Spiele, allerdings nicht als solche, sondern als ernstliche Vorgänge, in denen oft genug viel Blut trieft und Männer wie Frauen foltern und gefoltert werden, bestialisch zu Tode kommen. Auf grausamste Weise wird die moralische Widerstandskraft von auserkorenen Opfern auf die Probe gestellt. Je mehr sie der herrschenden Moral und Religion anhängen, die – so de Sade – der gelebten Moral nicht entspricht, werden sie in immer neuen Variationen und die Leser ermüdenden Wiederholungen gemeuchelt, um das Böse auszuleuchten. Dabei räsonieren die Oberschurken über Gott und die Welt, Glauben und Sittlichkeit.

Zum Beispiel “Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Libertinage”, geschrieben 1784–1788, veröffentlicht 1904 (deutsch zuerst 1909): “Sechshundert Erzählungen von sexuellen Perversionen, eine bizarrer, bedrohlicher und blutiger als die andere; dazu einhundertzwanzig Schilderungen der postnarrativen Ausschweifungen im Schloss, bei denen keine Körperöffnung ungenutzt bleibt – und der Ermüdungseffekt für den Leser ist unübersehbar.” (S. 203) Reinhard sieht darin vor allem den Versuch de Sades zu einer Selbsttherapie angesichts der psychischen Übersteigerung eigener Häftlingsqualen (vgl. S. 205) – man könnte hier von sexueller Entlastung durch überstrapazierte Phantasie sprechen.