Putins Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die offene Gesellschaft. Allerdings steht der russische Machthaber mit seiner religiös-nationalistischen Propaganda keineswegs allein da. Identitäre Denkmuster sind weltweit auf dem Vormarsch – wie Michael Schmidt-Salomon in einem Beitrag für das Anfang Oktober erscheinende bruno.-Jahresmagazin ausführt, den der hpd an dieser Stelle vorab veröffentlicht.
Das Erstaunlichste am russischen Einmarsch in die Ukraine war das Erstaunen westlicher Politiker*innen über diesen Einmarsch. Offenbar haben sie bis zum Schluss verdrängt, wie gezielt Wladimir Putin die Grundlagen für die Eskalation geschaffen hat. Denn der Krieg war von langer Hand vorbereitet – nicht nur auf ökonomischer und militärischer, sondern auch auf soziokultureller Ebene: In den letzten 20 Jahren wurden die russischen Bürgerinnen und Bürger systematisch auf eine "russisch-orthodoxe Identität" zugerichtet, auf deren Basis erst jene "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" entstehen konnte, die sich im Krieg gegen die Ukraine entlud.
Spätestens im Sommer 2021, als Putin seinen umfangreichen Aufsatz "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" veröffentlichte, hätte aufmerksamen Beobachtern klar sein müssen, dass die Zeichen auf Krieg stehen. Doch die westliche Politik nahm mal wieder – wie schon zuvor in der Fehleinschätzung des Islamismus – die "Macht des Mythos" nicht ernst. Sie konnte oder wollte nicht verstehen, warum der Kreml-Herrscher die Ideologie der "Heiligen Rus" beschwor und weshalb er den orthodoxen Glauben als ein unauflösliches Band beschrieb, das Russen, Belarussen und Ukrainer in einer Art "mythischen Schicksalsgemeinschaft" aneinander bindet.
Sicherlich: Putin nutzte und nutzt die Ideologie der "Heiligen Rus" nicht zuletzt dazu, um sein mafiöses Herrschaftssystem gegen demokratische Anfechtungen abzusichern. Doch dies allein erklärt die Obsession des russischen Herrschers nicht. Schon während seiner ersten Amtszeit als Präsident hatte Sergej Tschemesow, Putins ehemaliger KGB-Chef in Dresden, seinen einstigen Untergebenen als "Geschenk Gottes" bezeichnet, "der das große Leid des russischen Volkes beenden wird". Inzwischen scheint Wladimir Putin diese Mär selbst zu glauben. Seine Äußerungen und Handlungen in den letzten Jahren sprechen dafür, dass er sich mittlerweile tatsächlich als den "gottgesandten Retter des Vaterlands" begreift, der dazu berufen ist, das "Heilige Russische Imperium" zu errichten und Moskau zu jenem "dritten und letzten Rom" zu machen, von dem orthodoxe Fanatiker seit Jahrhunderten träumen.
"Putin fühlt sich dazu berufen, Moskau zu jenem 'dritten und letzten Rom' zu machen, von dem orthodoxe Fanatiker seit Jahrhunderten träumen."
Nicht ohne Grund greift Putin auf die Staatsdoktrin "Orthodoxie, Autokratie und Nationalität" des reaktionären Zaren Nikolaus I. zurück. Wie Nikolaus setzt auch Putin auf die Einheit von Thron und Altar. Das zeigt sich nicht nur darin, dass er mehr orthodoxe Kirchen errichten und renovieren ließ als jeder russische Herrscher vor ihm. Wichtiger noch ist der seit vielen Jahren zelebrierte ideologische Schulterschluss: So initiierte Putin zusammen mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill I. 2006 die "Erklärung zu Menschenrechten und Menschenwürde" des WRPC ("World Russian People’s Council"), die ähnlich obskur ist wie die (weitaus bekanntere) "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam": Während für Islamisten die Menschenrechte nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit der "Scharia" stehen, werden sie in Russland nur unter der Voraussetzung akzeptiert, dass sie mit "russisch-orthodoxen Werten" übereinstimmen.
Die Giordano-Bruno-Stiftung hat die "Russische Erklärung" in ihrer Broschüre "Die Menschenrechte" (2018) scharf kritisiert, ansonsten wurde sie im Westen jedoch weitgehend ignoriert. Hierdurch übersahen die westlichen Beobachter nicht nur die Legitimationsquelle für die systematische Verfolgung von LGBTQ-Personen und vermeintlichen "Ultra-Feministinnen" in Russland. Ihnen entging auch, wie systematisch das Putin-Regime den orthodoxen Glauben als Gegenideologie zur Leitkultur der universellen Menschenrechte und der offenen Gesellschaft aufgebaut hat. Nur wer diesen Hintergrund kennt, versteht, warum Putin und Kyrill im Februar 2022 allen Ernstes "Gay-Paraden in Kiew" dazu heranzogen, um den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen.
Das Timing des "neuen russischen Zaren" und seines "orthodoxen Hofpredigers" war jedenfalls perfekt: Am 23. Februar 2022, dem "Tag des Verteidigers des Vaterlandes" (!), predigte Kyrill I., dass der Militärdienst eine "Manifestation der Nächstenliebe" und "ein Beispiel für die Treue zu den hohen moralischen Idealen der Wahrheit und Güte" sei. Nur einen Tag später stellte Putin seine Liebe für "Wahrheit und Güte" unter Beweis, als er in die Ukraine einmarschierte.
Putins Traum von der russisch-orthodoxen Großmacht wirkt merkwürdig aus der Zeit gefallen – und doch hat sein Wahnsinn System: Mithilfe alter KGB-Verbindungen ist es dem russischen Despoten nicht bloß gelungen, die Opposition im eigenen Land kaltzustellen, sondern nahezu alle Demokratien der Welt zu destabilisieren. Putins Leute konnten dabei auf erprobte Mittel aus dem Kalten Krieg zurückgreifen: So wie der KGB einst Linksterroristen wie die RAF mit verdeckten Operationen unterstützt hatte, griff der russische Geheimdienst nun Rechtspopulisten unter die Arme.
Putins Leute förderten den Brexit in England und die Wahl Trumps in den USA, sie finanzierten Marine Le Pen in Frankreich und Viktor Orbán in Ungarn. Beträchtliche Geldströme flossen in internationale Pro-Life-, Anti-Gay- und Anti-Gender-Initiativen sowie in Troll-Fabriken, die über das Internet wahnwitzigste Verschwörungstheorien verbreiteten. Die britische Journalistin Catherine Belton stellte in ihrem gründlich recherchierten Buch "Putins Netz" sogar die These auf, dass das russische Flächenbombardement in Syrien u.a. aus dem Kalkül erfolgte, die europäischen Länder durch die gezielte Produktion von Kriegsflüchtlingen unter Druck zu setzen und den Hass der Bürgerinnen und Bürger auf das politische Establishment anzuheizen.
Fakt ist: Wladimir Putin ist seit Jahren der treibende Motor der "Internationale der Nationalisten", die inzwischen von Moskau über Neu-Delhi bis nach Washington reicht. Die Umrisse dieser religiös-nationalistischen Internationalen waren bereits vor einem Jahrzehnt zu erkennen (siehe hierzu die Abschlusserklärung der 2. Kritischen Islamkonferenz von 2013). Drei Jahre später schrieb ich in dem Buch "Die Grenzen der Toleranz": "Wohin man auch schaut, ob nach Polen oder Ungarn, in die Schweiz oder nach Österreich, nach Frankreich, Russland oder in die USA: In nahezu jedem nichtmuslimischen Land kam es in den letzten Jahren zu einem Schulterschluss von Nationalisten und christlichen Rechten. Die einzelnen Bewegungen gleichen sich so sehr in ihrer rückwärtsgewandten Identitätspolitik, dass es fast schon egal ist, ob ihre politischen Galionsfiguren Donald Trump, Vladimir Putin, Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczyński, Marine Le Pen, Christoph Blocher oder Frauke Petry heißen."
"Wladimir Putin ist seit Jahren der treibende Motor der Internationale der Nationalisten."
Verbindendes Element dieser "Internationale der Nationalisten" ist ein brandgefährlicher Mix aus nationalem Chauvinismus und reaktionären religiösen Werten – eine Kombination, die sich auch in islamischen Ländern großer Beliebtheit erfreut. In "Die Grenzen der Toleranz" (2016) heißt es dazu: "Im Grunde wäre der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der in seiner Politik Nationalismus und Religion – hier: Türkentum und islamische Werte – in ähnlich aufdringlicher Weise miteinander verbindet, ein heißer Anwärter für die rechtspopulistische 'Internationale der Nationalisten' und ihre Formel vom 'Europa der Vaterländer' – würde er nicht fatalerweise die falsche Ethnie und die falsche Religion vertreten."
In den letzten Jahren kam es zu einem bemerkenswerten Aufstieg eines christlichen, muslimischen, hinduistischen, ja: sogar eines buddhistischen Nationalismus, der in den einzelnen Ländern mit unterschiedlichen konfessionellen Schwerpunkten auftritt: katholisch in Polen, Ungarn und Frankreich; protestantisch in den USA, in England und der Schweiz; orthodox in Russland, Griechenland und Serbien; sunnitisch in der Türkei, in Ägypten und Saudi-Arabien; schiitisch im Iran, im Irak und in Syrien, hinduistisch in Indien, buddhistisch in Myanmar.
Bei allen Unterschieden gleichen sich die Programme der jeweiligen politischen Führer in verdächtiger Weise: Sie alle richten sich gegen die kulturellen Begleiterscheinungen der Moderne, gegen Liberalisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Säkularisierung, gegen die Rechte von Frauen und Homosexuellen, gegen den weltanschaulich neutralen Staat, gegen die Prinzipien der offenen Gesellschaft. Mit einem Wort: Sie sind politische Auffangbecken für diejenigen, die mit den beschleunigten Veränderungszyklen der globalisierten Welt nicht Schritt halten können und alles daran setzen, ihr angestammtes kulturelles Getto gegen das vermeintlich "Feindliche" des "Fremden" zu verteidigen.
Dass diese identitätspolitischen Modelle weltweit attraktiv wurden, hat nicht zuletzt auch ökonomische Ursachen: So haben sich in vielen Ländern der Welt neofeudale Strukturen ausgebildet, in deren Folge die Eliten kaum noch etwas tun müssen, um ihren Status zu erhalten, und die Unterprivilegierten kaum noch etwas tun können, um ihren Status zu verbessern. Werden Menschen jedoch in ihrer Gesellschaft nicht mehr als Individuen wahrgenommen, so neigen sie dazu, sich über Gruppen zu definieren. Kombiniert man die "ruhmreiche Nation" mit der "einzig wahren Religion", erhält man eine äußerst wirksame Droge, die bestens geeignet ist, das angekränkelte Ich-Bewusstsein aufzupolieren.
Wladimir Putin hat diese antiliberalen Entwicklungen rund um den Globus aufmerksam verfolgt und sie nach Möglichkeiten gefördert. Vermutlich war er selbst über den durchschlagenden Erfolg seiner Strategie überrascht. Jedenfalls spielten ihm die weltweiten Entwicklungen bestens in die Karten. Und so stellte er bereits im Sommer 2019 gegenüber der "Financial Times" triumphierend fest: "Die liberale Idee ist überholt. Sie steht im Widerspruch zum Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung."
Tatsächlich stellt die "Internationale der Nationalisten" eine ernsthafte Bedrohung für das Projekt der offenen Gesellschaft dar. Aufhalten ließen sich die Streiter für die "geschlossene Gesellschaft" wohl nur durch ein breites Bündnis von Demokratinnen und Demokraten – doch dies ist momentan kaum in Sicht. Maßgeblich verantwortlich dafür sind leider (wie ich als jemand, der aus dieser Subkultur stammt, hinzufügen muss) Vertreter*innen der "Linken", die derzeit mit einer Neuauflage des absurden Stücks "Judäische Volksfront gegen die Volksfront von Judäa" (Monty Python) auftreten. Unfähig dazu, Bündnisse mit Gruppierungen zu schmieden, die nicht 100-prozentig "auf Linie" liegen, verschwenden sie ihre Kräfte darauf, andere emanzipatorische Akteure wegen kleinster Abweichungen im Sprachduktus zu bekämpfen, statt sich der eigentlichen Bedrohung zu stellen, die von der "Internationalen der Nationalisten" für jedes emanzipatorische Projekt ausgeht.
Schlimmer noch: Die sogenannte "identitäre Linke" hat grundlegende Denkmuster von Putin, Trump, Erdoğan & Co. übernommen. Wie die religiös-nationalistischen Despoten stellen nun auch "Linke" Gruppenidentitäten ins Zentrum der Argumentation, untergraben die universellen Menschenrechte sowie die Selbstbestimmungsrechte des Individuums. Wie die Vertreter der politischen Rechten wettern auch sie gegen Pluralismus (da sie glauben, im Besitz der "absoluten Wahrheit" zu sein), gegen wissenschaftliche Rationalität (die als Herrschaftsideologie des "alten, weißen Mannes" missverstanden wird) und gegen jede Form der kulturellen Durchmischung (im linken Jargon als "kulturelle Aneignung" gebrandmarkt).
Gewiss: Hinter dieser seltsamen Strategie verbergen sich ehrenwerte Motive. Erklärtes Ziel der "woken (aufgewachten) Linken" ist es nämlich, die Stimmen der "Marginalisierten" zu Gehör zu bringen, sprich: von Homo- und Bisexuellen, Trans-Personen, Migrant*innen, "People of Colour", Behinderten usw. Doch die postmodernistische, identitäre Ausrichtung des Projekts schadet den Betroffenen mehr, als es ihnen nutzt. Denn jeder emanzipatorische Fortschritt der Vergangenheit wurde dadurch errungen, dass die Betroffenen an die Empathie der Mehrheitsgesellschaft appellierten und "Gleiches Recht für alle" forderten – statt diesen Menschenrechts-Universalismus zu untergraben und zu behaupten, dass nur die Opfer der Unterdrückung das Wesen der Unterdrückung nachvollziehen könnten (siehe hierzu auch die erhellende Analyse der "woken", postmodernistisch-identitären Linken in dem Buch "Zynische Theorien" von Helen Pluckrose und James Lindsay).
"Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind", meinte einst Albert Einstein – und traf damit (wie so oft) ins Schwarze. Fakt ist: Mit linker Identitätspolitik schwächt man rechte Identitätspolitik keineswegs, man verstärkt vielmehr die Grundprinzipien, auf denen die Herrschaftsmodelle von Putin, Trump, Erdoğan & Co. beruhen. Aus diesem Grund hat die Giordano-Bruno-Stiftung in der Vergangenheit immer wieder Kampagnen gestartet, die Gruppenidentitäten gezielt abschwächen, statt sie zu verstärken: So traten wir 2013 Islamisten und "christlichen Abendlandrettern" entgegen, indem wir mit dem Slogan "Selbstbestimmung statt Gruppenzwang!" die Eigenständigkeit des Individuums gegenüber dem Kollektiv betonten. 2018, zum 70. Jubiläum der Verabschiedung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", gingen wir mit dem Motto "Weltbürger statt Reichsbürger!" an die Öffentlichkeit, mit dem wir den Universalismus der Menschenrechte gegen partikulare Identitätspolitiken ins Feld führten.
Für die Verteidigung der offenen Gesellschaft wäre viel gewonnen, wenn "identitäre Linke" die logischen Widersprüche erkennen würden, in die sie sich mit ihrer postmodernistischen Argumentation zwangsläufig verstricken. Um hier nur zwei Punkte zu nennen, die Pluckrose und Lindsay in ihrer Studie mit zahlreichen Beispielen unterfüttern: Es ist keineswegs "eurozentristisch", für die Universalität der Menschenrechte einzutreten – eurozentristisch wäre es vielmehr zu behaupten, dass die Menschenrechte eine exklusive Errungenschaft des Westens seien, an denen Menschen anderer Kontinente und Kulturen nicht mitgewirkt hätten. Gleichsam ist es natürlich keineswegs "rassistisch" (Ausdruck der "Ideologie des alten, weißen Mannes"), auf die Einhaltung solider wissenschaftlicher Standards und die Berücksichtigung empirischer Forschungsergebnisse zu bestehen – rassistisch wäre es vielmehr zu glauben, dass Menschen anderer Kontinente und Kulturen nicht in der Lage seien, solide wissenschaftliche Forschung zu betreiben.
Zudem sollte die "woke, linke Gegenöffentlichkeit" begreifen, dass "Pluralität keine Schwäche, sondern eine Stärke" ist (wie es in einem "Leitbild"-Artikel auf der gbs-Website heißt). Denn nur weil wir unterschiedlich sind, können wir voneinander lernen und uns allmählich über Kritik und Gegenkritik zu einer angemesseneren Sicht der Welt "emporirren" (Motto des Hans-Albert-Instituts). Die offene Gesellschaft benötigt daher einen fairen Wettbewerb der Ideen, sprich: eine breite Streitkultur – keine "Cancel Culture" und schon gar keine "Gedanken- oder Sprach-Polizei". (Nebenbei: Wir geben uns große Mühe, keiner wie auch immer gearteten Sprachdoktrin zu entsprechen, weshalb man in den Veröffentlichungen der gbs, selbst innerhalb dieses Artikels, beide Geschlechtsformen, das Gendersternchen wie auch das generische Maskulinum findet. Ein wenig Ambiguitätstoleranz tut, wie wir meinen, allen Seiten gut – intern erlauben wir uns übrigens den Spaß, Strichlisten darüber zu führen, wer sich am meisten aufregt. Momentan liegen die Anti-Genderisten vorne…)
"Linke" sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, bevor sie als "nützliche Idioten" von Putin, Trump, Erdoğan & Co. in die Geschichte eingehen. Jedenfalls sollten sie den Faschismus nicht befördern, den sie zu bekämpfen vorgeben. Klar ist: Die offene Gesellschaft hat inzwischen genügend Feinde – Linke, die einigermaßen bei Verstand sind, sollten nicht dazugehören, sondern an der Seite anderer Demokratinnen gegen die autoritäre Bedrohung einstehen.
Noch irrt sich Putin mit der Einschätzung, dass die "liberale Idee überholt" ist und "im Widerspruch zum Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung" steht. Unsere Form des Zusammenlebens ist zwar in vielerlei Hinsicht verbesserungsbedürftig, doch die allermeisten Menschen schätzen die Freiheiten, die ihnen die offene Gesellschaft bietet. Sie vertrauen darauf, dass wir mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaats bessere, freiere, gerechtere Verhältnisse für alle schaffen können. Es liegt in unser aller Verantwortung, Despoten wie Wladimir Putin zu stoppen, die diesen "liberalen Traum" (Philipp Blom) zerstören wollen.
Der vorliegende Beitrag stammt aus dem bruno.-Jahresmagazin 2022, das Anfang Oktober in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheinen wird. In einer layouteten Fassung kann der Artikel bereits jetzt als pdf-Dokument heruntergeladen werden.
Erstveröffentlichung auf der Webseite der Giordano-Bruno-Stiftung.
16 Kommentare
Kommentare
Constantin Huber am Permanenter Link
Die Giordano Bruno Stiftung zeigt einmal mehr, wie wenig Fingerspitzengefühl sie bei diesem Thema hat.
So enorm muss man erstmal pauschalieren können, ohne, dass einem selbst auffällt, wie einfach man es sich da macht. Mit unterkomplexen Problemanalysen lassen sich die aktuellen Schieflagen recht sicher nicht beseitigen.
Ein paar Kritikpunkte:
1.) Universelle Menschenrechte, Individualismus und das Streiten für Minderheitenrechte müssen einander nicht zwingend ausschließen. Sie können auch Hand in Hand gehen.
2.) Ob es wirklich ratsam ist, sich auf die fragwürdigen "Polemiken mit Schaum vor dem Mund" von Pluckrose und Lindsay zu stützen, würde ich stark bezweifeln.
___
Siehe zu 2.) etwa folgenden Text:
»Mehr Rechte für Frauen und mehr Rechte für trans* schließen einander nicht aus«
Wenn mehr Menschen verinnerlichten, dass die Stärkung der Rechte für trans* eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft sind, lebten wir in einer aufgeschlosseneren und leidfreieren Welt. Unter anderem das Eintreten für die Rechte queerer Menschen kann dabei völlig zu Recht als Identitätspolitik beschrieben werden.
Einige Menschen meinen jedoch alles Verwerfliche pauschal als vermeintlich "stets abzulehnende Identitätspolitik" abstempeln zu können. Dabei wird der offensichtliche Nutzen von manchen Formen der linken Identitätspolitik komplett ignoriert.
Das Blicken auf benachteiligte Gruppen und das Formulieren von politischen Forderungen um Diskriminierungen ebenjener abzubauen, ist aber eben nicht per se verwerflich. Aus dieser falschen Prämisse folgt Beliebiges.
In einem neuen Werk von Pluckrose und Lindsay wird nicht nur diese Prämisse genutzt, sondern auch in das rechtslibertäre Narrativ eingestimmt, wonach doch angeblich gar nichts mehr gesagt werden dürfe. Abgerundet wird diese verzerrte Wahrnehmung von verschwörungsmythisch anmutenden Thesen, wonach wissenschaftliche Forschung heutzutage von Dogmen geleitet sei.
Das klingt alles sehr nach Dieter Nuhr, Pegida und anderen Ewiggestrigen, aber nicht nach einer modernen Kontroverse, die es wert wäre, auf diesem Scheuklappenniveau geführt zu werden.
Welch weitere grotesken Übertreibungen in diesem Buch vorkommen, wird in folgendem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur anschaulich herausgearbeitet.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/pluckrose-lindsay-zynische-theorien-100.html
___
Siehe zu 1.) etwa auch den Abschnitt "Anti-Woke ist das neue Anti-Gurtpflicht" in folgendem Artikel:
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/humanismus-aber-bitte-kritisch/
Oder aber diesen Beitrag, in welchem erläutert wird, warum bestimmte Formen der Identitätspolitik manchmal eben erforderlich sind und es ziemlich unklug ist, pauschal in das Horn der Rechten und Querdenker:innen zu blasen.
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/identitaetspolitik/
Weitere Kritikpunkte:
A.) ["Werden Menschen jedoch in ihrer Gesellschaft nicht mehr als Individuen wahrgenommen, so neigen sie dazu, sich über Gruppen zu definieren."]
Das ist eine ganz schön verkürzte Sicht auf reale Umstände. Etwa BIPoC in den USA kämpfen nicht nur deshalb mit dem Slogan "Black Lives Matter" für mehr Gleichberechtigung, weil sie nicht als Individuen wahrgenommen werden, sondern auch, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe im Kollektiv diskriminiert werden. Ihnen diese Erfahrung als weißer, europäischer Mann abzusprechen, finde ich auf vielen Ebenen sehr fragwürdig. Es ist gut, dass sie als Gruppe gegen die himmelschreienden Ungerechtigkeiten aufbegehren.
Zumal sich hier auch die Frage stellt: Wann wurden alle Schwarze in den USA denn je von der Allgemeinheit und bestimmten staatlichen Institutionen als Individuen betrachtet? Insofern ist auch das "nicht mehr" im Zitat hierüber völlig deplatziert.
B.) In folgendem Abschnitt wird einfach pauschal allen Linken unterstellt, dass sie wissenschaftsfeindlich, gegen Pluralismus, gegen Menschenrechte und gegen Selbstbestimmungsrechte seien.
Das ist nicht nur inhaltlich völlig falsch, da auf die Mehrheit der Linken das exakte Gegenteil zutrifft - es stellt sich zusätzlich auch die Frage, weshalb du solche Fake News der Neuen Rechten übernimmst und offenbar einen "Kampf gegen links" kämpfen möchtest, Michael.
["Wie die religiös-nationalistischen Despoten stellen nun auch "Linke" Gruppenidentitäten ins Zentrum der Argumentation, untergraben die universellen Menschenrechte sowie die Selbstbestimmungsrechte des Individuums. Wie die Vertreter der politischen Rechten wettern auch sie gegen Pluralismus (da sie glauben, im Besitz der "absoluten Wahrheit" zu sein), gegen wissenschaftliche Rationalität (die als Herrschaftsideologie des "alten, weißen Mannes" missverstanden wird) und gegen jede Form der kulturellen Durchmischung (im linken Jargon als "kulturelle Aneignung" gebrandmarkt)."]
C.) ["Doch die postmodernistische, identitäre Ausrichtung des Projekts schadet den Betroffenen mehr, als es ihnen nutzt."]
Steile These. Schauen wir uns die Begründung doch einmal etwas genauer an:
["Denn jeder emanzipatorische Fortschritt der Vergangenheit wurde dadurch errungen, dass die Betroffenen an die Empathie der Mehrheitsgesellschaft appellierten und "Gleiches Recht für Alle" forderten – statt diesen Menschenrechts-Universalismus zu untergraben und zu behaupten, dass nur die Opfer der Unterdrückung das Wesen der Unterdrückung nachvollziehen könnten"]
"Gleiches Recht für alle" klingt in diesem Kontext so, als wolle man etwa der BLM-Bewegung vorhalten, dass sie doch eigentlich mit dem Slogan "All lives matter" demonstrieren solle. Auf wie vielen Ebenen das falsch ist, muss an dieser Stelle denke ich nicht noch einmal gesondert aufgerollt werden. Dazu gab es ja vor zwei Jahren Dutzende Artikel. Siehe etwa:
https://www.sueddeutsche.de/panorama/black-lives-matter-george-floyd-rassismus-all-lives-matter-1.4932258
Wichtig ist: Diese Aussage ist überhaupt keine Begründung für die steile These von oben. Es wird lediglich eine weitere steile These aufgestellt ("jeder emanzipatorische Fortschritt [...]") und ein (nicht zutreffendes) Vorurteil dazugepackt, wonach alle Linke doch angeblich behaupteten, dass lediglich die Opfer der Unterdrückung Unrecht nachempfinden könnten.
D.) ["Fakt ist: Mit linker Identitätspolitik schwächt man rechte Identitätspolitik keineswegs, man verstärkt vielmehr die Grundprinzipien, auf denen die Herrschaftsmodelle von Putin, Trump, Erdoğan & Co. beruhen."]
Das ist eine These, kein Fakt. Eine nachweislich falsche These obendrein.
Siehe etwa:
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/identitaetspolitik/
E.) ["Für die Verteidigung der offenen Gesellschaft wäre viel gewonnen, wenn "identitäre Linke" die logischen Widersprüche erkennen würden, in die sie sich mit ihrer postmodernistischen Argumentation zwangsläufig verstricken."]
Das ließe sich auch umdrehen:
"Für die Verteidigung der offenen Gesellschaft wäre viel gewonnen, wenn "identitäre Humanist:innen" die logischen Widersprüche erkennen würden, in die sie sich mit ihrer rechtslibertären Argumentation zwangsläufig verstricken."
Damit ließen sich womöglich sogar noch effektiver religiöse Dogmen eindämmen und Menschenrechte für alle, auch für BIPoC, Frauen, Trans*, etc., erstreiten.
F.) ["Die offene Gesellschaft benötigt daher einen fairen Wettbewerb der Ideen, sprich: eine breite Streitkultur – keine "Cancel-Culture" und schon gar keine "Gedanken- oder Sprach-Polizei"."]
Es gibt keine "Gedanken- oder Sprach-Polizei". Warum rhetorisch auf die abstrusen Aussagen der Querdenker:innen zurückgreifen?
Das ist kein "fairer Wettbewerb", sondern ein Vergiften einer zeitgemäßen Debattenkultur. Denn aus Falschem folgt Beliebiges.
Und warum und wann eine Cancel Culture manchmal sogar sehr sinnvoll ist, lässt sich etwa hier nachlesen:
https://www.volksverpetzer.de/analyse/kenfm-trump-cancel-culture/
malte am Permanenter Link
Bei Facebook hast du es ja vorgezogen, der Diskussion durch Blockieren aus dem Weg zu gehen. Aber mich würde dann doch interessieren, was du konkret an dem Buch von Pluckrose und Lindsay polemisch findest.
Michael Fischer am Permanenter Link
Nur so nebenbei: Das mit dem "Schaum vor dem Mund" würde mich nicht wundern:
Auch im GWUP-Blog wurde Lindsay kontrovers diskutiert: https://blog.gwup.net/2022/09/05/gastbeitrag-zynische-theorien-wie-identitaetsideologie-die-geistes-und-sozialwissenschaften-beschaedigt/#comment-144115188075958948
malte am Permanenter Link
Statt Rezensionen und Wikipedia-Artikel könnte man aber auch einfach mal das Buch selbst lesen und überprüfen, ob die Vorwürfe zutreffen. Es lohnt sich.
Christian Meißner am Permanenter Link
"Die Giordano Bruno Stiftung zeigt einmal mehr, wie wenig Fingerspitzengefühl sie bei diesem Thema hat.
Man mag ja zur gbs stehen, wie man will. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Ironie, wenn der Kommentator nicht etwa dem Autor des Artikels, sondern anhand dieses Artikels pauschalerweise gleich der gesamten gbs vorwirft, zu pauschalisieren.
Obwohl: Zuweilen lassen mich die gbs, ihr Dunstkreis und die auf die eigenen Fahnen geschriebene Pluralität eine weitere Szene aus "Das Leben des Brian" erinnern: Nämlich als die Menge kollektiv und unisono die Worte ihres unfreiwilligen Anführers bestätigt: "Ja, wir sind alle Individuen!"
Die interessanten Gedanken Herrn Schmidt-Salomons zu Aufklärung und Offener Gesellschaft, zu Religion und ihrer Rolle in der heutigen Politik sollten eben nicht zur "heiligen Sandale" eines sich selbst zelebrierenden Kultes mutieren. Denn das wäre in der Tat die "Letzte Autoritäre Versuchung" des Säkularen Spektrums.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Solange es Menschen mit so scharfem Verstand gibt wie Michael Schmidt-Salomon kann die Welt noch hoffen. Wir Säkularen Individualisten müssen weltweit zusammenhalten und lauter werden!
Christian Meißner am Permanenter Link
[Ironie on] Prima! [Ironie off] Der reinste kollektivistische Führerkult entstünde, gäbe es hierzulande genug Menschen, die derartige Appelle ernstnähmen.
Christian Meißner am Permanenter Link
Im Übrigen zählt immernoch die Güte des einzelnen Arguments, (und zwar unabhängig von demjenigen, der es anführt!) und nicht die kollektive Lautstärke, mit der es vorgetragen wird.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Nachdem ich diesen Artikel der gbs gelesen habe und die gestrigen Wahlergebnisse in Italien gesehen habe, ist mir mit Entsetzen klar geworden wohin die Reise geht.
Sichtweise verteidigt muss sich dann nicht wundern wenn er in einer Diktatur aufwacht.
Es darf Despoten aus Politik und Klerus nicht gelingen uns von einem freiheitlichen Kurs abzubringen.
Alexander am Permanenter Link
Und wieder hat die Kirche ihre teuflischen Pratzen im Spiel. Mir war schon lange klar, dass es (auch) ein religiös motivierter Krieg ist.
Roland Fakler am Permanenter Link
Der Traum jedes Diktators ist ein unmündiges Volk in einer Demokratie, das sich freiwillig einen Diktator wählt und freiwillig auf seine Rechte verzichtet.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Die Forderung nach Ambiguitätstoleranz finde ich weit besser als die wiederholt beschworene "offene Gesellschaft" - grad so, als lebten wir in einer solchen.
Es gibt viel zu tun.
A.S. am Permanenter Link
Bravo!
N.B. Dass die liberale Idee von den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften geschmäht wird hat schon seinen Grund: Die liberale Idee ist emanzipatorisch. Leider haben zu lange viele Linke in den Kirchen Verbündete bei der Kpitalismuskritik gesehen und dabei übersehen, dass die Religionen alle anti-emanzipatorisch sind. Auch die evangelischen Religionen, die einst gegen die Beutelschneiderei der katholischen Kirche aufbegehrten, sind im Kern nicht fortschrittlich, sie sind nur anti-katholisch.
Warum aber das Bündnis der Religionen mit den Nationalisten?
Wenn Religion nicht mit Staatsgewalt durchgesetzt wird, wird der abstruse Glaube von der Aufklärung zerrieben. Die Religiösen Führer schleimen sich bei den nationalen Führern ein, basteln denen eine Legitimation jenseits des demokratischen Mandats und hoffen im Gegenzug auf staatliche Protektion.
So funktioniert der Pakt zwischen Thron und Altar: Der Altar liefert der weltlichen Herrschaft die Legitimation (Gottesgnadentum, gottgesandter Retter Rußlands o.ä.) und die weltliche Herrschaft sorgt für die Verfolgung von Religionskritikern und Andersgläubigen und die üppige Alimentation der Religionsführer.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
@ A.S. Absolut richtig gesehen, so läuft das genau genommen auch in der B(K)RD
Roland Fakler am Permanenter Link
Sehr schön auf den Punkt gebracht!
Gebhaed Xaver Bock am Permanenter Link
Es war immer so. Den Menschen wird eine Identität teilhaft gemacht, mittels der sie manipuliert oder gar missbraucht werden können.