Die Kehrseite der Medaille

(hpd) Es musste kommen: Die skandalösen Missbrauchsfälle in der Catholica, die manche schon wieder als erledigt ansehen und unter den Teppich kehren wollen, verlangen eine Darstellung und Kritik von berufener Seite.

Dieses Buch leistet die mühevolle Arbeit in lobenswerter Weise. Der Salzburger Theologieprofessor Anton A. Bucher, ein „Laie“ und Vater von sechs Kindern, beweist mitten in seinem Milieu Mut. Wir sollten uns nicht darauf zurückziehen, er sage nichts eigentlich Neues oder andere hätten alles schon viel früher gesagt. Solange sich die Catholica nicht grundlegend ändert (was sehr zu bezweifeln ist) und solange neue Generationen nachwachsen, muss es immer wieder gesagt sein. Die Stafette der Kritik darf nicht abreißen.

Der Zölibat ist eben nicht nur „der strahlende Edelstein“, sagt Bucher mit Recht. Wer die Kriminalgeschichte der Kirche auch nur am Rande ernst zu nehmen bereit ist, kann der oberhirtlich profitablen These vom Charisma, das wie ein Brillant leuchtet, nur als Hohn empfinden. Im Übrigen muss immer wieder gesagt sein: Es gibt nicht nur eine brillierende Tradition des Pflichtzölibats, sondern auch eine jahrtausendjährige Bestreitung eben dieser kirchlich-menschlichen Vorschrift – und eine bis auf den heutigen Tag andauernde schwere alltägliche Verletzung.

Gehorsam in der Kirche

Bucher behandelt in einem weiteren Kapitel die Lehre vom Gehorsam in der Kirche. Gerade hier outet sich die auf der Verformung von Charakteren basierende Inhumanisierung einer Erziehung, die vor allem denen da oben ins Konzept passt und noch jederzeit einen Knick im Rückgrat dem in der Biographie eines Menschen vorzuziehen bereit war. Ich kenne kein ähnlich schwer wiegendes Argument gegen die Catholica als dieses: Wer bewusst und unter dem Namen der „Freiheit“ zur Angst erzieht, vergeht sich an Millionen Menschen. Dieser Missbrauch durch Pädagogik wiegt mindestens ebenso schlimm wie der sexuelle. Letzterer ist durchaus nicht „das dunkelste Kapitel“.

Wesentlich ist hier die Einsicht, die dieses Buch vermittelt. Die Mentalität und die Pädagogik der Catholica sind „verniedlichend“, machen bewusst infantil, schreiben auf archaische Entwicklungsstufen fest, hemmen jedes volle, erwachsene Menschsein (und vor allem Frausein!). Denn genau ein solches können die Oberhirten nicht brauchen. Was sie wollen, sind Schäflein im Pferch, die sich lenken und bis in die Beichtstühle, diese wahrhaft düsteren Orte, ausnutzen lassen.

Die katholische Sexuallehre tut ein Übriges. Gerade auf dem Gebiet der Sexualität (Masturbation, Geburtenkontrolle usw.) macht sich die Kirche schuldig. Haben wir aber je von einer Entschuldigung seitens der „Peiniger“, dieser als sakrosankte Personen verehrten Kleriker gehört? Nein, dazu ist die Institution, die ständig Reue und Buße – von anderen! – fordert, ihrerseits nicht fähig.

Kirchenvolksbegehren?

Der Salzburger Autor befasst sich über diese Sachfragen hinaus mit der Idee eines „Kirchenvolksbegehren“ und den „bewundernswert trotzenden Kindern“ sowie mit der Frage nach der Zukunft seiner Kirche. Immerhin ist er bereit, sich diesem Problem zu stellen. Ich selbst bin es, nach 40 Jahren persönlicher Erfahrung, nicht mehr. Die Zeiten, da ich über die „Sieben Todsünden der Kirche“ schrieb und mit Heinrich Böll diskutierte, liegen weit zurück. Geändert hat sich nichts. Vielleicht muss Anton A. Bucher diese Erfahrung auch noch machen. Ich nehme an, dass er noch nicht am Ende des Weges angelangt ist. Noch diskutiert er „mögliche Reformschritte“. Wie lange noch? Die Vatikanische Konfession wird sich nie aufgeben.

Ich frage weiter: Handelt es sich nur um einen „kränkelnden Riesen“, der sich früher oder später wieder aufrichten wird? Ist nicht vielmehr die ganze Kirche längst verdunkelt? Und noch mehr: Gab es je eine lichte Seite?

Ein wohlfeiles Argument im Munde von Oberhirten: „Die Kirche ist selbst keine sündige Institution, doch sie bleibt eine Kirche der Sünder.“ Also bekennen – nach hunderten von Jahren! – Päpste die Schuld. Doch beileibe nicht die der Institution und ihrer Organisation, ihrer Strukturen, sondern die einzelner, unschwer isolierbarer und auszuscheidender, exkommunizierbarer Individuen.

Ein Einwand noch: Das Bild auf dem Cover ist mir zu reißerisch, ja, es „macht an“ (vielleicht genau die Falschen).

Horst Herrmann

 

Anton A. Bucher, Die dunkle Seite der Kirche. Etsdorf: Galila Verlag, 2010, 217 Seiten. ISBN-13: 978-3902533555 Euro 21, 90.