Religionsfreiheit und europäische Identität

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Fotos (c) Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestages hatte am Mittwoch eine öffentliche Anhörung zu „Religionsfreiheit und europäische Identität“ auf der Tagesordnung. Fünf Sachverständige waren eingeladen worden und referierten. Gemeinsam war ihnen die Verteidigung der Religionsfreiheit.

Die eingeladenen Sachverständigen waren Prof. Dr. Heiner Bielefeldt (UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Universität Erlangen), Dr. Navid Kermani (Schriftsteller und Orientalist), Prof. Dr. Mathias Rohe, M.A. (Richter am OLG a.D., Universität Erlangen), Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher (Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit) und Prof. Dr. Rosemarie Will (Humanistische Union).

Fragenkatalog

Den Sachverständigen waren 14 Fragen vorgelegt worden:
1) Eignet sich das auf den einzelnen Menschen bezogene Recht auf Religionsfreiheit als identitätsschaffendes Konzept für Europa? Wie könnte ein solches Konzept in der Praxis mit Leben erfüllt werden?

2) Welchen Stellenwert hat die Religions- und Glaubensfreiheit im europäischen Wertekanon und wie kann dieses Menschenrecht eine europäische Identität stiften, die allen Bürgern Europas - unabhängig von ihren Glaubensüberzeugungen - offen steht?

3) Obwohl in Europa das Recht auf Religionsfreiheit weitgehend gesichert ist, unterscheiden sich die nationalen Regierungen erheblich, was z.B. die Gleichbehandlung von Religionen und den Umgang mit religiösen Symbolen anbelangt. In welcher Weise beeinflusst diese Uneinheitlichkeit die Idee einer europäischen Identität auf der Basis von Religionsfreiheit?

4) Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach die Debatte über die Religionsfreiheit auf das Selbstbild Europas aus und welchen Einfluss hat die Abgrenzung zum Islam auf die europäischen Identität?

5) Gesetzlich ist in allen Mitgliedstaaten der EU das negative Recht auf Religionsfreiheit, d.h. das Recht des/r Einzelnen, keiner Religion anzugehören und das Recht, eine Religion wechseln zu können, gewährleistet. Inwieweit ist dieses Recht in der politisch-gesellschaftlichen Praxis wie z.B. in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen oder anderen tatsächlich umgesetzt oder sehen Sie die negative Religionsfreiheit z.B. durch die Betonung der Religion im Alltag gefährdet?

6) Die Debatte um Religionsfreiheit in Europa zielt im Kern auf das Verhältnis Europas zum Islam. Eine der zentralen Zukunftsfragen ist hier, ob sich die muslimischen Zuwanderer in die bestehende - auf einer jüdisch-christlichen Tradition begründete – säkularisierte europäische Wertegemeinschaft integrieren werden oder ob sich die europäische Identität unter dem Einfluss wachsender muslimischer Bevölkerungsanteile verändern wird. Gibt es Anzeichen für eine Prognose, in welche Richtung die Entwicklung voran schreitet und welche Auswirkungen sehen Sie vor diesem Hintergrund für die Religionsfreiheit?

7) Brauchen wir einen Euro-Islam und wenn ja, was ist das?

8) Wo liegen die Grenzen für die freie Ausübung der Religions- und Glaubensfreiheit in Europa und wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die derzeitigen Diskussionen sowie Maßnahmen über die Einschränkungen der Religionsfreiheit (Verbot des Baus von Minaretten in der Schweiz, Verbot der Burka in Belgien, Billigung des Burkaverbots am 14. September 2010 durch den französischen Senat etc.)?

9) Das Recht auf Religionsfreiheit gerät gelegentlich in Konflikt mit europäischen Rechts- und Wertvorstellungen. So genehmigte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das Schächten von Tieren trotz eines entsprechenden Verbots im Tierschutzgesetz. Ähnliche Konflikte zeichnen sich bereits zum Beispiel bei der Frage nach der Beschneidung von Jungen im Judentum und Islam mit Blick auf GG Art. 2, Abs. 2 ab. Wie bewerten Sie diese Konflikte vor dem Hintergrund von Religionsfreiheit einerseits und europäischer (Rechts-)Identität andererseits?

10) Gibt es in anderen europäischen Staaten ähnliche Paragraphen wie den § 166 des deutschen Strafgesetzbuches, der die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafe stellt, wenn dadurch der öffentliche Frieden gestört wird? Inwieweit schränken solche Gesetze die Religionsfreiheit in Europa ein?

11) In Bezug auf den islamischen Religionsunterricht kann eine formale Verfassungstreue nicht ausreichen, sondern die Werte des säkularen demokratischen Staates im Religionsunterricht müssen ausdrücklich bejaht werden. Wie weit geht diese Verpflichtung?

12) In Deutschland ist die Trennung von Staat und Kirche grundgesetzlich verankert. Die Staats- und Kirchenjuristen beschreiben diese Trennung jedoch als "hinkende Trennung". Wie beurteilen Sie die Glaubensfreiheit in Deutschland unter dem Aspekt der Trennung von Staat und Kirche?

13) Religionsgesellschaften finanzieren sich in der EU sehr unterschiedlich. In Deutschland und Österreich gibt es die Kirchensteuer. Aufgrund der Pluralisierung der philosophischen Ausrichtung der Bevölkerung und der Säkularisierungsprozesse hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Ausdifferenzierung der Glaubensausrichtung und ein Wertewandel der Bevölkerung stattgefunden. Sehen Sie konkreten staatlichen Veränderungsbedarf im Verhältnis des Staates zu den großen Religionsgesellschaften, um dieser Tendenz Rechnung zu tragen?

14) Der Europarat ist ein zentrales Forum für die Menschenrechte. Der ihm angegliederte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch die Durchsetzung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Wie stellt sich vor diesem Hintergrund die Situation religiöser Minderheiten in den Mitgliedstaaten des Europarates in Osteuropa – speziell in Russland - und der Türkei dar?

Religionsfreiheit ein Markenzeichen Europas?

Der Vorsitzende des Ausschusses, Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen) leitete die Runde der Sachverständigen mit der Frage ein, ob Religionsfreiheit ein Markenzeichen Europas sei. Wobei er konstantierte, dass dies strittig sei, denn das Minarettverbot in der Schweiz und die Burkaverbote in Frankreich und Belgien würden dagegen sprechen. Mit diesen Verboten werde die Religionsfreiheit in Europa ausgehöhlt. Bedrohen aber diese Entwicklungen unsere Grundrechte? Es bestehe aber der Eindruck, dass sich antimuslimische Aspekte mit genereller Fremdenabwehr verbinden würden. Eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus finde häufig nicht statt und „Der Islam“ stehe unter Generalverdacht.

In alphabetischer Reihenfolge referierten dann die Sachverständigen ihre Stellungnahmen.

Bielefeldt stellte eine Reihe von Grundsätzen auf.

  • Religionsfreiheit sei ein Menschenrecht und leite sich aus der UN-Menschenrechtscharta von 1948 ab: Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
  • Religionsfreiheit ist universalistisch, d.h. als offene Identität ausgelegt.
  • Rechtsträger sind die Menschen, denn es geht um die Würde der Menschen.
  • Religionsfreiheit ist die Freiheit, Sinn zu suchen, zu kommunizieren, zu manifestieren und öffentlich zu bekunden.
  • Religionsfreiheit steht immer im Zusammenhang mit anderen Freiheitsrechten, z. B. der Meinungsfreiheit. Religionsfreiheit besteht auch immer nur dort, wo auch Meinungsfreiheit garantiert sei.
  • Im Kern der aktuellen Debatten um Religionsfreiheit gehe es immer um die Rolle des Islam.

Kermani stellte fest, dass Religionsfreiheit sich gut als Grundelement europäischer Identität eignen würde. In der deutschen Öffentlichkeit sei jedoch auffallend wenig von einer europäischen Identität und europäischen Werten die Rede. Vorrangig gäbe es einen Rückgriff auf nationale Konzepte.

Der europäische Gedanke beginne anscheinend zu verblassen. Vielleicht sei der Erfolg Europas zu seinem Problem geworden? Die heutigen Jüngeren seien alle in Friedenszeiten groß geworden. Europa sei aber kein erweiteter Nationalstaat und die europäischen Werte seien säkular und nicht an Religionen gebunden. Und insofern die Türkei die Kopenhagener Kriterien nicht erfülle, verdeutlicht sich, dass Europa kein Land sei, sondern eine Idee: eine multinationale, multiethnische Willensgemeinschaft. Das Minarettverbot in der Schweiz sei insofern undemokratisch, da es Minderheitenrechte verletzte.

Anscheinend habe das „Projekt Europa“ keinen „Verzweiflungsdruck“ mehr und es scheint seinen Enthisiasmus zu verlieren, sei aber weiterhin notwendig, denn Migranten würden nicht zu „Deutschen“ oder „Franzosen“, sie könnten aber zu „Europäern“ werden.

Rohe vertrat die Auffassung, dass Deutschland einiges zur Religionsfreiheit beigetragen habe. Weder gäbe es staatskirchliche Strukturen noch laizistische Abwehrhaltungen gegen Religion. Ist nun der Islam eine Gefährdung des deutschen Systems? In der Schweiz habe mit dem Minarettverbot die Demokratie über den Rechtsstaat gesiegt, da die Mehrheit Minderheitenrechte verletzt habe. Das Erfolgsmodell sei aber der demokratische Rechtsstaat.

Die Vorbehalte gegen den Islam entständen vorwiegend aus dem Rückbezug des Blicks auf die Länder, in denen der Islam vorherrsche und die von einer Rechtsstaatlichkeit weit entfernt seien. Aber: nehmen wir die hier lebenden Muslime damit nicht in Sippenhaft für die beklagenswerten Zustände in ihren Herkunftsländern?

Was kann bzw. was muss geregelt werden? Ein „Burkaverbot“ dürfe es nur geben, wo Sicherheitsfragen oder Kommunikationserfordernisse dies erfordern. Alles andere sei überzogen und ein unerlaubter Eingriff in die Privatsphäre.

Brauchen wir einen Euro-Islam? Ja. Und wir haben ihn doch bereits – in der gelebten Praxis der Grundlagen des Zusammenlebens in Deutschland. Die Debatte um den Islam werde zu stark durch Ängste bestimmt. Aus vorhandenen negativen Einzelbeispielen dürfe kein Generalveracht abgeleitet werden. Alle Menschen haben ein Anrecht darauf, als Individuen wahrgnommen zu werden.


Schirrmacher
verwies auf die Sinnstiftung durch die Geschichte. Europa sei auch der Kontinent der Religionskriege, in denen sich Christen, die an den gleichen Gott glaubten, gegenseitig töteten.

In der jetzigen Debatte einer „jüdisch-christlichen Kultur“ fehle ganz entschieden die Aufklärung, die Religionsfreiheit auch der Andersdenkenden, der Nicht-Religiösen und Atheisten. Die Erlangung dieser Religionsfreiheit in Europa war ein mühsamer Prozess und hat heute zwei Garanten: Zum einen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der verdeutlicht, dass individuelle Menschenrechte einklagbar sind. Zum anderen den OSZE-Austauschprozess der Beobachtung und gegenseitigen Kritik. Wo inder Welt gibt es Vergleichbares?

Die Freiheit der Religion und Nicht-Religion hat europäische Dimensionen, auch wenn es innerhalb Europas und innerhalb einzelner Staaten historisch entstandenene Diskrepanzen gibt, wie z.B. im laizistischen Frankeich, das Religion negiert, in denen aber in den drei Departments Moselle, Bas-Rhein und Haut-Rhin (dem ehemaligen Alsace-Moselle) die Geistlichen staatlich bezahlt werden und die Religion im Alltag sehr gegenwärtig sei. In Griechenland werden in Thrakien 375 Moscheen und ihre Imame vom Staat mit finanziert.

Betrachtet man, wie die Religionen in Europa selbst zur Religionsfreiheit stehen, dann gibt es viele Menschen, die Religionsfreiheit für sich gerne in Anspruch nehmen, nicht aber für andere wünschen. Die PEW-Stiftung zählt zu diesen Staaten: die Türkei, Weissrussland, Russland, Aserbaidschan, Bulgarien, Moldawien und Griechenland.

Religionsfreiheit kann zwar staatlich durchgesetzt werden, wird aber nur dann zur Identität, wenn die Religionen dies auch für andere akzeptieren, einschließlich für Atheisten und Nicht-Religiöse. Unsere Religionsfreiheit ist letzlich ein Deal zwischen (katholischer) Kirche und Aufklärung.

Die beiden „Neuankömmlinge“ in Deutschland, Muslime und Orthodoxe Osteuropas, kommen eben nicht aus Ländern mit Religionsfreiheit, sie haben also auch keine positiven Erfahrungen damit. Es fehlt ihnen die historische Erfahrung, dass Religionsfreiheit dem Glauben nicht schadet.

Ein besonderer Störfaktor zwischen den Religionen seien dabei die Medien, die jedes noch so kleine Ereignis aufgreifen (wie kürzlich die angekündigte Koranverbrennung durch einen verrückten und isolierten Prediger in den USA), um religiöse Fanatiker anzustacheln. Sie schlagen ihr Kapital aus den Widersprüchen zwischen den Religionen und schreiben eine Gewalt herbei, die sie dann wieder als Bestätigung darstellen. Religionsfreiheit bedeute jedoch auch Religionsfrieden.

Will beantortete die erste Frage, ob sich das auf den einzelnen Menschen bezogene Recht auf Religionsfreiheit als identitätsschaffenden Konzept für Europa eigne, mit einem klaren Ja. Aber welches Konzept des Freiheitsrechts gelte im modernen Staat? Unsere religiösen Freiheitsrechte gehen auch auf die Französische Revolution zurück, auf die Trennung von Staat und Religion, dass der Staat selbst keine Religion als seine eigene vertritt und dass er auch keiner Religion oder Weltanschauung mehr dient. Die Idee der individuellen subjektiven Grundrechte verlangt die Anerkennung des Selbstbstimmunsgrechts des Individuums. Zur Entwicklung der Menschenrechte gehört deshalb, dass Diskriminierungen aus religiösen Gründen verboten werden und die staatsbürgerliche Gleichstellung der Religionen und Weltanschauungen gewährleistet wird. Erst in diesem Gefolge bilde sich Relgionsfreiheit als individuelles und korporatives Grundecht heraus.

Gradmesser für die tatsächliche Religionsfreiheit ist dabei die Akzeptanz der negativen Religionsfreiheit, beispielsweise in der Frage von Kruzifxen in Klassenzimmern und Gerichtssälen. Das Abhängen von Kreuzen in öffentlichen Räumen sei insofern ein Ausdruck der Religionsfreiheit.

Hinsichtlich des Islam in Europa betonte sie, dass ein identitätswahrender Umgang mit dem Islam praktizieren muss, auf der Basis der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Religionen sind im freiheitlichen Verfassungsstaat nicht eine dem Staat vorausliegende innere Antriebs- und Bindungskraft. Religionen haben unter der Geltung der Menschenrechte die Selbstbestimmung des Individuums auch in religiösen Fragen zu akzeptieren. Diese Fragen sind allen Religionen zu stellen, nicht nur dem Islam. Die Frage ist jedoch, ob der Islam bereit ist, eine vergleichbare Entwicklung wie die katholische Kirche nachzuvollziehen, die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 schließlich die Religionsfreiheit anerkannt hat.

Die Berichtersattung über die anschließenden Fragen der Abgeordneten und die Antworten der Sachverständigen ist schwerlich möglich, da die Abgeordneten der fünf Fraktionen jeweils zwei Fragen stellten und die Sachverständigen sich bemühten, diese zehn Fragen jeweils in einem Durchgang zu beantworten.

C.F.