Haben die Zehn Gebote ausgedient?

HANNOVER. Eine schlanke Gestalt, Drei-Tage-Bart, etwas mehr Haare auf dem Kopf, als landläufig inzwischen die Regel, hellwache, blitzende Augen und

ein abwartendes Lächeln – immer bereit, mit einem Satz in ein Gespräch einzugreifen, Partei zu beziehen, eine Position zu verteidigen: Dr. Michael Schmidt-Salomon, ein keinem inhaltlichen Streit aus dem Weg gehender Humanist. Vorkämpfer für einen weltlichen Humanismus mit Profil. Über einige seiner mitunter recht kess und zugespitzt vorgetragenen Gedanken lässt sich trefflich streiten. Andere sind eingängig und dazu geeignet, dass man sie schnell in sein eigenes nicht-religiöses Weltbild integriert. Alle fordern dazu auf, einen eigenen Standort zu definieren. Schmidt-Salomon hat im Jahr 2006 im Hermann-Reuper-Saal der FREIEN HUMANISTEN in Hannover referiert und stellte seine Thesen auch in anderen Bereichen Niedersachsens zur Diskussion. Nach seinem Roman "Stollbergs Inferno" ist es nun sein Buch "Manifest des evolutionären Humanismus", über das man spricht. In der Sendereihe "Freiheit und Verantwortung" des Norddeutschen Rundfunks wurden die in diesem Buch enthaltenen Überlegungen zu einer Alternative für die christlichen 10 Gebote im Januar 2007 vorgestellt. Der folgende Text basiert auf dieser Rundfunksendung: „Haben die 10 Gebote ausgedient?"

Humanistische Gedanken über die Leitlinien unseres Handelns.

Von Jürgen Gerdes / 28. Januar 2006, 7.15 - 7.30 Uhr, NDR-Info.

Wenn heute jemand in unserem Kulturkreis gefragt wird, welche grundlegenden religiösen Texte ihm bekannt sind, dann wird er wahrscheinlich zwei herausheben, die für Christen von besonderer Bedeutung sind: Das Vaterunser und die 10 Gebote. Im Vaterunser ist in erster Linie das persönliche Verhältnis zu „Gott" in Form eines Gebetes festgeschrieben. Bei den 10 Geboten handelt es sich um ein Regelwerk, in dem es sich um das Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen dreht. Auch wenn im ersten Gebot wiederum „Gott" im Mittelpunkt steht. Die 10 Gebote geben in Form von Handlungsanweisungen Antworten auf Fragen, denen wir im Alltag immer wieder begegnen, vielleicht nicht so eindeutig formuliert, aber doch oft auf ihren Kern zurück zu führen.
• Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um?
• Welches Verhalten ist in einer Situation das Richtige?
• Was darf ich und was darf ich nicht?
• Wie entscheide ich mich?

Alle Völker unserer Erde haben im Laufe ihrer kulturellen Entwicklung Verhaltensregeln aufgestellt, die auf einigen Gebieten Normen setzen. Sehr unterschiedliche Verhaltensregeln waren darunter – immer der jeweiligen Religion angepasst und den Notwendigkeiten ihres Lebensraumes. Nicht selten waren allerdings auch Regeln darunter, die Herrschaftsverhältnisse festschreiben sollten oder einzelnen Macht über andere einräumten. Mit der Entwicklung staatlicher Strukturen gaben diese überlieferten Verhaltensregeln der Gesetzgebung wertvolle Impulse. Es entwickelte sich ein durch Gesetze festgeschriebenes Pflichtenbuch für die Bürger eines jeden Landes. Viel ausdifferenzierter, als ein kleiner Katalog von Geboten, so dass viele Detailfragen einer Regelung zugeführt wurden. Alle mit dem Anspruch auf Einhaltung. Andernfalls droht eine Bestrafung durch den Staat.

Obwohl wir in Deutschland heute mit dem Grundgesetz und anderen Gesetzen ein gutes Fundament besitzen, haben die alten 10 Gebote noch nicht ausgedient. Nicht zuletzt die christlichen Kirchen sorgen dafür, dass sie uns im Bewusstsein bleiben.

Nicht erst in der jüngsten Zeit gibt es allerdings auch ernst zu nehmende Kritiker, die die Ansicht vertreten, die 10 Gebote griffen zu kurz; sie seien wenig hilfreich, wenn es darum geht, ein Gefühl für ein zeitgemäßes Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu gewinnen. Eines Ihrer Argumente ist immer wieder, dass wir als bewusst lebende Menschen im 21. Jahrhundert mit der Beurteilung ethischer Fragestellungen anders umgehen müssten, als mit einem Schwerpunkt auf dem „Du sollst", wie es die 10 Gebote tun. Um zu verstehen, worum es den Kritikern geht, sollten wir uns die christlichen Regeln noch einmal in Erinnerung rufen. In einer Version, wie sie die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) zurzeit im Internet anbietet: Die <10 Gebote> des Christentums:
1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Dr. Michael Schmidt-Salomon, aufmerksamer Beobachter unser Gesellschaft und Autor mehrerer Bücher, ist der Ansicht, dass die Zeit reif ist für eine Neuorientierung. Und dass auch die 10 Gebote - oder besser: Ihr Stellenwert in unserer Gesellschaft - von dieser Neuorientierung erfasst werden sollten. Schmidt-Salomon stellt fest, dass wir heute in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit leben: „Während wir technologisch im 21. Jahrhundert stehen, sind unsere Weltbilder noch mehrheitlich von Jahrtausende alten Mythen geprägt." In seinem Buch „Manifest des evolutionären Humanismus" setzt er sich mit den Fundamenten einer zeitgemäßen, in seinen Worten „evolutionär-humanistischen" Ethik auseinander. Gleichzeitig geht er mit christlichen Vorstellungen ziemlich heftig ins Gericht und scheut dabei auch vor provozierenden Worten nicht zurück. Zur Anregung der Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen, mit denen jeder Einzelne konfrontiert ist, stellt er 10 alternative Gebote zur Diskussion, die er jedoch nicht als „Gebote" versteht, sondern vielmehr als Angebote. Sicher auch, um sie klarer von den christlichen 10 Geboten abzuheben. Doch wird durch Formulierung und Inhalt schnell deutlich, dass es sich hierbei um weit mehr handelt, als um reine Effekthascherei. Eigentlich könnte man sie auch als „10 Aufforderungen" bezeichnen - Aufforderungen, darüber nachzudenken, warum wir so handeln, wie wir handeln. Aufforderungen, den Dingen anders und tiefer auf den Grund zu gehen, als es das Befolgen eines schlichten „Du sollst!" ermöglicht.

Jeder, der einmal in den Konfirmandenunterricht gegangen ist, erinnert sich daran, dass Martin Luther in seinem „Kleinen Katechismus" jedem Gebot die Frage „Was ist das?" nachgestellt hat und dann eine kleine Erklärung hinzufügte. Die meisten Erklärungen beginnen mit den Worten "Du sollst Gott fürchten und lieben". In ähnlicher Form hat Schmidt-Salomon seine jeweils aus nur einem Satz bestehenden Angebote um einige kurze Ergänzungen erweitert. Sie machen verständlicher, in welche Richtung er denkt. Dem Text ist in seinem Buch die folgende Vorbemerkung vorangestellt:
„Diese zehn „Angebote" wurden von keinem Gott erlassen und auch nicht in Stein gemeißelt. Keine „dunkle Wolke" sollte uns auf der Suche nach angemessenen Leitlinien für unser Leben erschrecken, denn Furcht ist selten ein guter Ratgeber. Jedem Einzelnen ist es überlassen, diese Angebote angstfrei und rational zu überprüfen, sie anzunehmen, zu modifizieren oder gänzlich zu verwerfen."

Die 10 Angebote des evolutionären Humanismus (nach Schmidt-Salomon)

1. Diene weder fremden noch heimischen „Göttern", sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern!
Diejenigen, die behaupteten, besonders nah ihrem „Gott" zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fern standen. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!

2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten!
Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch - auch der von dir ungeliebte! - das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits" zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.

3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Bedenke, dass die Stärke eines Arguments völlig unabhängig davon ist, wer es äußert. Entscheidend für den Wahrheitswert einer Aussage ist allein, ob sie logisch widerspruchsfrei ist und unseren realen Erfahrungen in der Welt entspricht.

4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen!
Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch - im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre.

5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens!
Es gibt in der Welt nicht „das Gute" und „das Böse", sondern bloß Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Lernerfahrungen. Trage dazu bei, dass die katastrophalen Bedingungen aufgehoben werden, unter denen Menschen heute verkümmern, und du wirst erstaunt sein, von welch freundlicher, kreativer und liebenswerter Seite sich die vermeintliche „Bestie" Homo sapiens zeigen kann.

6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik!
Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als „unfehlbar" und ihre Dogmen als „heilig" (unantastbar) darstellen müssen. Sie sollten in einer modernen Gesellschaft nicht mehr ernst genommen werden.

7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher!
Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.

8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung triffst!
Du verfügst als Mensch über ein außerordentlich lernfähiges Gehirn, lass es nicht verkümmern! Achte darauf, dass du in Fragen der Ethik und der Weltanschauung die gleichen rationalen Prinzipien anwendest, die du beherrschen musst, um ein Handy oder einen Computer bedienen zu können. Eine Menschheit, die das Atom spaltet und über Satelliten kommuniziert, muss die dafür notwendige Reife besitzen.

9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben!
Sei dir deiner und unser aller Endlichkeit bewusst, verdränge sie nicht, sondern „nutze den Tag" (Carpe diem)! Gerade die Endlichkeit des individuellen Lebens macht es so ungeheuer kostbar! Lass dir von niemandem einreden, es sei eine Schande, glücklich zu sein! Im Gegenteil: Indem du die Freiheiten genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben!

10. Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache", werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen wollen!
Eine solche Haltung ist nicht nur ethisch vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz. Es scheint so, dass Altruisten die cleveren Egoisten sind, da die größte Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt. Wenn du dich selber als Kraft im „Wärmestrom der menschlichen Geschichte" verorten kannst, wird dich das glücklicher machen, als es jeder erdenkliche Besitz könnte. Du wirst intuitiv spüren, dass du nicht umsonst lebst und auch nicht umsonst gelebt haben wirst!

 

Soweit der Originaltext von Dr. Schmidt-Salomon. Wer mit Überlegungen wie diesen zum ersten Mal konfrontiert wird, dem werden sie möglicherweise ungewohnt und ein wenig fremd vorkommen. Einige drastische Aussagen reizen geradezu zum Widerspruch. Wenn Vertrautes - wie die 10 Gebote - in Frage gestellt wird, neigen wir vielleicht ganz automatisch zur Skepsis.

Doch kann der Hinweis zum Benutzen des eigenen Verstandes schlecht sein? Oder ein Aufruf zu Fairness und zum Ertragen von Kritik? Oder gar die Aufforderung, die Konsequenzen des eigenen Handelns abzuwägen? Alle einzelnen Punkte lassen sich zudem auf aktuelle Fragen unserer Zeit anwenden: Auf Fragen von Sterbehilfe und Patientenverfügungen, auf die Frage der Benutzung von Kondomen in der Zeit von Aids, auf Homosexualität und andere Fragen im Zusammenhang mit Sexualität. Auf die Grenzen der Gentechnik ebenso, wie auf viele Fragen, bei denen gerade die Kirchen Probleme haben, mit den Grenzen zu argumentieren, die das christliche Menschenbild setzt.

Wir kommen heute als bewusst lebende, realistische Menschen zunehmend zu anderen Folgerungen, als die Kirchen - leben in steigendem Maße entgegen ihren Regeln. Schmidt-Salomons „10 Angebote des evolutionären Humanismus" bieten die Chance, das eigene Handeln in ein modernes Weltbild einzuordnen, ohne dass man sich dabei verbiegen muss.

Die christlichen 10 Gebote haben sicherlich noch nicht ausgedient. Aber die aktuellen Alternativen sind es unbedingt Wert, dass man über sie nachdenkt.

 

Literaturhinweis:
Die in dem vorstehenden Text enthaltenen Zitate stammen aus dem Buch: Michael Schmidt-Salomon, „Manifest des evolutionären Humanismus", Alibri Verlag, Aschaffenburg, 2005, ISBN 3-86569-010-6, Preis: € 10,- . Das Buch kann über den <Verlag> bezogen werden.

Weitere aktuelle Überlegungen zu einer nichtreligiösen, humanistischen Lebensauffassung finden sich in dem Buch: Joachim Kahl, „Weltlicher Humanismus - Eine Philosophie für unsere Zeit", Lit-Verlag, Marburg, 2005, ISBN 3-8258-8511-9.
Siehe hierzu auch den auf der Website der Freien Humanisten verfügbaren <Text> zu diesem Buch: