(hpd) Der studierte Philosoph und Theologe Gert Scobel, einem weiterem Publikum durch seine TV-Sendungen "Kulturzeit" und "scobel" bekannt geworden, hat sich auf die schwierige Suche nach einem "Ausweg aus dem Fliegenglas" begeben. Aber, um es vorweg zu nehmen: Auch er hat ihn, trotz großer Anstrengung und Ausdauer, nicht finden können.
Es gibt noch Überraschungen. Nachdem uns der Autor 398 Seiten lang neugierig gemacht hat, „wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können“ - so der Untertitel seines Buches - , nachdem wir also die Hoffnung fast schon aufgegeben haben, dass wir das noch erfahren, was wir immer schon wissen wollten, da lüftet er auf Seite 399 unten das Geheimnis: „Mein Rat: Statt auf dogmatische Lehrsätze und die Lehren der Religion zu starren wie das Kaninchen, das vor der teuflischen Schlange der Unorthodoxie Angst hat, ist es befreiender und vor allem auch lohnender, sich mit den Weisheitstraditionen in Verbindung zu setzen.“
Diesen Rat halten wir für durchaus vernünftig und beherzigenswert - auch wenn er nach dieser langen Einleitung etwas unvermittelt kommt und wir ihn so nicht erwartet haben. Aber hören wir nochmal genau hin. Was will uns Scobel eigentlich sagen? Will er sagen, dass wir Hilfe und Trost in den bedrängenden Fragen des Lebens (Krankheit, Unglück, Sterben und Tod), wenn überhaupt, dann anderswo, also eher außerhalb als innerhalb des christlichen Glaubens, z.B. in den östlichen Weisheitslehren des Buddhismus, finden können? Oder will er sagen, dass er den christlichen Glauben selbst als eine solche Weisheitslehre verstehen und etablieren will?
Für beides gibt es in Buch Belege. Für die erste Version spricht, dass er, wenn es auf den letzten 30 Seiten des Buches konkret wird, regelmäßig auf buddhistische Vorstellungen und (insbesondere) Übungen Bezug nimmt. Eine Überwindung der existentiellen Sorge und Angst - so Scobel - ist Menschen nicht möglich durch „Dichten und Denken“, sondern nur durch die besondere Form einer Praxis, die „einen möglichen Ausdruck findet in jener buddhistischen Übung der Weisheit durch das absichtslose ‚Sitzen im Hier und Jetzt’…Es gibt in diesem Sinn keine ‚erlösende Wahrheit’, die sich in einem Wort, einem Satz, einer Lehre einfangen lassen würde…(Noch gibt es) die eine Wahrheit, dir erst ‚hinter’ der Wirklichkeit der Erscheinungen auftritt… Was es gibt, ist nur die fließende Welt der Erscheinungen und ihre immer neuen Beschreibungen“ (S. 432).
Dies sind unverkennbare Hinweise auf typisch östliche Weisheitstraditionen, die neuerdings auch hier im Westen Verbreitung finden - allerdings außerhalb der kirchlichen Orthodoxien. Dies wäre also ein Weg, der von dem, was hierzulande Christentum heißt, wegführt. - Oder will Scobel uns doch das nahe legen, was eben als zweite Möglichkeit genannt wurde: christlichen Glauben, entgegen einer anders lautenden 2000jährigen Tradition, ganz bewusst als Weisheitslehre (nach dem Vorbild etwa des Buddhismus) zu verstehen und zu praktizieren?
Dafür spricht der ganze Aufbau des Buches. Welchen Sinn hätte es sonst, in langen Kapiteln erst die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Vernunftgebrauchs zu erörtern, dann verschiedene Varianten der theologischen Glaubenslehre (von Paulus über Luther bis Bultmann) durchzugehen, um dann einfach nach Osten abzubiegen und die mühsam errungene Übersicht über westliche Denk- und Glaubensbemühungen beiseite zu legen?
Bleiben wir also bei der zweiten Lesart. Sie hat ohne Zweifel erheblichen Charme. Stellen wir uns einen Augenblick ein Christentum als Weisheitslehre vor Augen: kein Gerede mehr von göttlichen Offenbarungen, keine Gottesvorstellung, keine Dogmatik, kein Himmel, keine Hölle, keine Sakramente, keine Erbsünde. Insbesondere aber: kein Glauben (etwa an eine „Erlösung“, die wiederum nur durch Glauben wirksam wird). Positiv gewendet: eine Spiritualität, nur dem Weg menschlicher Selbstvergewisserung und der eigenen Erfahrung verpflichtet. – Wäre das nicht etwas ganz und gar Neues? Eine Revolution im Denken, Fühlen und Tun? Ein Schritt in eine andere spirituelle Kultur?
So ist es in der Tat - aber: wir haben uns da eben etwas vor Augen gestellt, was es nicht gibt; wir haben uns zu einem Phantasiebild hinreißen lassen. Dass solches Christentum als Weisheitslehre ohne Glauben auskäme, kollidiert bereits mir dem von Scobel selbst formulierten Programm, das ja gerade den „Einklang“ von Vernunft und Glauben bewerkstelligen will.
Lassen wir uns dennoch nicht entmutigen und fragen noch einen Augenblick weiter: Was stünde diesem neuen, entdogmatisierten Christentum eigentlich im Wege? Im Grunde nicht die Person Jesu. Diese Figur, soweit sie in dem Wust der evangelischen Übermalungen, Umdeutungen und Verfälschungen überhaupt erkennbar ist, hätte durchaus das Zeug zu einer im besten Sinn mythischen Figur - auch wenn sie im Unterschied etwa zur buddhistischen Meditation keine vergleichbare Übung oder Praxis hinterlassen hat. Aber Jesus ist milde, menschenfreundlich, unkonventionell, er lebt im Einklang mit sich selbst, er achtet alle unabhängig von ihrer sozialen Stellung, ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrem Lebenswandel. Dies alles, seiner Umgebung entsprechend, spätjüdisch-apokalyptisch eingefärbt. Er will die Schranken zwischen den Menschen einreißen, er predigt die Liebe. So jedenfalls kann man ihn sich vorstellen.
Was, oder besser gefragt: wer steht also im Wege? Es ist ohne Zweifel an erster Stelle Paulus, der selbsternannte Apostel, der - nebenbei bemerkt - Jesus selbst gar nicht gekannt hat. Dennoch, vielleicht gerade deshalb ist er der eigentliche „Erfinder“ (Nietzsche) des Christentums, so wie wir es geschichtlich vorfinden. Er ist es, der das historische Geschehen (das Leben und vor allem den Tod Jesu) seiner natürlichen Menschlichkeit entkleidet und mit einer surrealistischen Interpretation überzogen und verdeckt hat. Er hat aus seiner (wie er in schöner Bescheidenheit anmerkt: von Gott selbst ihm gewährten) „Einsicht“ (Eph 3,2f., ebenso Gal 1,11ff.) in die ewige Bedeutsamkeit von Jesu Leben und Sterben eine Lehre gemacht und möchte alle Welt (nicht ohne drohende Untertöne) zu dieser Sicht der Dinge bekehren. Er ist es, der eine unvoreingenommene Annäherung an den Menschen Jesus heute fast unmöglich macht.
Scobel versäumt es, auf diese Differenz zwischen Jesus und Paulus in der gebotenen Deutlichkeit aufmerksam zu machen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Mehr noch: er zitiert, wenn es um den Kern des Christentums geht, den er ja erhalten will, mit Vorliebe aus den Paulusbriefen - ohne zu bemerken, dass gerade hier das Fundament für das gelegt wird, was er heftig kritisiert: die Dogmatisierung des Glaubens.
Liest man Scobels Buch, insbesondere die Abschnitte über Glauben im religiösen Sinn, dann fällt auf, dass er Theologen zitiert (durchgängig aus der evangelischen Fraktion), die in der Tat eine Art existentieller Glaubensauffassung vertreten (Ebeling, Tillich, Bonhoeffer, Bultmann). Will sagen: Theologen, die sich (formulieren wir es vorsichtig) darum zu bemühen scheinen, wieder näher an die Person Jesu, durch das Dickicht einer anders lautenden Tradition hindurch, heranzukommen; die sich daran orientieren möchten, was die Zeitgenossen Jesu mit ihm erlebten - und die das dann ihren „Glauben an Jesus“ nennen. Freilich: Man braucht eine gute Kondition und viel guten Willen um solche, im schönsten, in sich kreisenden und (nur) sich selbst bestätigenden Theologen-Jargon vorgetragenen Stellungnahmen auszuhalten.
Da heißt es z.B. (ich gebe ein paar Kostproben):
„Der Glaube des Urchristentums verstand sich als das Zum-Ziel-Gekommensein Jesu, jedoch ausschließlich so, dass dieser Glaube bezeugte: Jesus ist auferstanden.“ Das Neue des christlichen Glaubens sei nicht ein neuer Glaubensgegenstand, sondern „die Entstehung, das Erwecktwerden, das Lebendigwerden des Glaubens selbst“ (Gerhard Ebeling, zitiert auf S. 285).
Das, was geglaubt wird (fides quae creditur), der Glaubensinhalt, sei identisch mit dem Glauben oder Glaubensakt selbst (fides qua creditur). „Ohne Offenbarung Gottes im Menschen ist die Frage nach Gott und nach dem Glauben an Gott nicht möglich. Es gibt keinen Glauben ohne Teilhabe an dem Gegenstand des Glaubens“ (Paul Tillich, zitiert auf S. 263f.).
Die Vernünftigkeit des Glaubens sei seine „Nichtausweisbarkeit“. „Der Glaube ist in seiner Bezogenheit auf seinen Gegenstand nicht ausweisbar…Denn die Behauptung seiner Ausweisbarkeit würde ja die Erkennbarkeit und Feststellbarkeit Gottes außerhalb des Glaubens behaupten…“ (Rudolf Bultmann, zitiert auf S. 388).
Auch Scobel selbst steht in manchen seiner Formulierungen den eben zitierten Theologen-Tautologien in nichts nach:
„Die Bedingung für die Vernünftigkeit des Glaubens besteht, so paradox es auch klingen mag, gerade darin, dass man sich ihm als Phänomen nur so nähern, ihm nur so gerecht werden kann, dass man glaubt. Die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens besteht in dem (mittels Vernunft und Empirie überprüfbaren) Sachverhalt, dass es nicht gelingt, dem Glauben anders (auf andere Weise) als im Glauben gerecht zu werden“ (S. 388).