Das Scheißleben meines Vaters, das …

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Buchtitel: Piper

(hpd) So knallig und eindeutig der Titel, so knallig und eindeutig und doch mit Verstand beschreibt Andreas Altmann seine Kindheit und Jugend in Altötting. Dem Wallfahrtsort. Mit seinem Vater, dem “Rosenkranz-König Nummer drei”. Ein ehrenwerter Soziopath, tätig im „Altweiber Voodoo-Business“. Schule, Religion, Kirche, Bigotterie, Mutter, Geschwister: alles vorhanden.

Nach Ansicht des Autors weiß der Leser bereits beim Titel, was ihn erwartet. Der vollständige Titel lautet: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Dabei beginnt die Geschichte bereits bei der Geburt, vor der Geburt von Andreas, dem Sohn von Franz-Xaver Altmann. Die Mutter wollte keinen weiteren Schwanzträger in der Familie, litt bereits unter den vorhandenen. Als sie sah, dass das vierte Kind auch ein Junge war, versuchte sie, es, Andreas, mit einem Kissen zu ersticken. Eine Hebamme hielt sie davon ab.

Andreas wurde der Lieblingssohn der Mutter. Bis ein Töchterchen kam, Perdita. Dann nicht mehr. Andreas kam dann immer wieder ins Heim, da die Mutter mit der Erziehung der Kinder vollkommen überfordert war.

Aus den besten Familien des Wallfahrtortes Altötting stammten die Eltern. Die Mutter war von ihrer Familie zwecks Bildung fortgeschickt worden, kehrte zurück und litt unter ihrem Ehemann, bis sie floh und die Kinder mit dem Tyrannen allein ließ. Der konnte, wie sein Sohn später realisierte, nichts dafür. Er, Franz-Xaver, war ein vielversprechender, gut aussehender junger Mann gewesen, der wiederum von seinem Vater in die Existenz des Rosenkranz-Königs hineingezwungen wurde. Ein junger Mann, der bei der SA und SS und am Krieg zerbrochen war, als er nach dem Krieg in die Heimat zurückkehrte. Ein verpfuschtes Leben, das dazu führte, dass jeder Mensch, der ihm nahekam, ebenso verpfuscht wurde. Es herrschte Krieg im Hause Altmann.

Auf 255 Seiten und in drei Teilen – DER KRIEG / Teil eins, DER KRIEG / Teil zwei, Nachwort - breitet Altmann seine Kindheit, seine Jugend, seine anschließenden Versuche, das Beste aus seinem Leben zu machen, aus. Dabei sind die ersten 218 Seiten in 168 Kapitel eingeteilt, Episoden seines jungen Lebens. Auf diese, nachdem er frei ist, folgt das Nachwort. Eingestreut sind Exkurse über die Erfahrungen anderer: Ein Mädchen, Barbara H., das achtjährig vom Religionslehrer, dem Kaplan, aus der Klasse geführt und vergewaltigt wurde oder ein Arztbericht von der abgebrochenen Flasche im Rektum des Altöttinger Pfarrers, Pater A., und anderen Utensilien von der Sado-Maso-Lust der Kapuzinermönche. Eine „in den Himmel und in die Hölle schreiende Diskrepanz ... zwischen der meisterlichen Bigotterie und den zölibatären Schweinigeleien... Mitten im Gnadenwort.“ (S. 123)

Religiöse Sexualaufklärung

Bigotterie und extreme Sexualfeindlichkeit prägen ihn. In dieser Umgebung war ein „Nackter ... das Unnatürlichste, was man sich vorstellen konnte.“ (S. 108) Der sadistische Religionslehrer kam zweimal die Woche in die Klasse, Priester Josef Asenkerschbaumer, genannt „Roter Teufel“. Die Unterweisung in die Geschlechterthematik erfolgte über ein an jeden in der Klasse verteiltes handgroßes Bild einer anständig gekleideten, hübschen Frau. Doch dann der Clou: „Die Rückseite war wie ein Adventskalender. Zwei Karton-Türchen bildeten den Rücken. Und jetzt forderte uns der Religionslehrer auf, die beiden Flügel zu öffnen. Da passierte es: Im Rücken der Frau wimmelte es von Würmern, Schlangen und Spinnen. Der ganze Leib war randvoll mit Tieren, die nichts als Grauen auslösten.“ (S. 31) Das wirkte. Lange Zeit blieb jede sexuelle Äußerung des Leibes verwunschen. Der Katholizismus hat, so Altmann, etliche Sünden „zur Miserabilisierung des Lebens erfunden“. (S. 150)

Andreas führte Tagebuch, paktierte mit einem seiner Brüder und mit Freunden, und in ihm wuchs im Laufe der Jahre eine Stärke, die die Angriffe des Vaters schließlich ins Leere laufen ließen. Klar wird, dass drakonische Strafen, wenn sie willkürlich erfolgen, auch dazu führen können, dass der Bestrafte macht, was er will, da er ohnehin bestraft werden wird, ob er nun tatsächlich gegen eine Regel verstoßen hat oder nicht. Nischen werden gebildet, in denen man sich frei fühlt und einigermaßen geschützt. Am einsamsten blieb stets der Vater, bis zuletzt.

Sprachlich ist das Buch ein Genuss. Durch Wortschöpfungen, wiederholende Aufzählungen, knallharte Beobachtungen und eine dadurch entstehende gewisse, gelegentlich sogar amüsierte, Distanz zum Geschehen lässt sich das beschriebene Grauen gut lesen. Man merkt, dass Altmann sich durch seine Jugend durchgearbeitet hat und einen Ausweg fand. Am Beispiel seines Vaters zeigt er, dass es keine Willensfreiheit geben kann: Die Umstände und die Gene machen einen Menschen zu dem, was er ist.

Andreas Altmann gelang es schließlich, das Beste aus seinem Leben zu machen, er ist inzwischen einer der bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde laut Klappentext mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Seume-Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Aversion gegen Bigotterie und die Kirche ist geblieben.
 

Fiona Lorenz

 

Philipp Möller im Gespräch mit Andreas Altmann (20. September 2011)