„Kampf bis in den Untergang“

(hpd) Der britische Historiker Ian Kershaw führt in seiner Arbeit die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs bis zur totalen Niederlage auf die Fernwirkung der Mentalitäten und Strukturen charismatischer Herrschaft zurück. Es handelt sich in Beschreibung und Deutung um eine ausgezeichnete Arbeit, die aufgrund ihrer analytischen Qualität ein neues Licht auf ein erstaunliches historisch-politisches Phänomen wirft.

Betrachtet man im historischen Rückblick die Endphase von Kriegen, so lässt sich bei erkennbaren Niederlagen von Seiten der Verlierer meist die Bereitschaft zur Kapitulation ausmachen. Wo dies nicht der Fall war, führten häufig Aufstände und Proteste der Bevölkerung zum Ende der militärischen Auseinandersetzungen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war aber weder das Eine noch das Andere der Fall: Obwohl bereits spätestens im Herbst 1944 eine Niederlage als wohl nicht mehr vermeidbar galt, führte man den Krieg auf der Ebene der Bevölkerung wie des Staates bis zum bitteren Ende ungehindert weiter. Der britische Historiker Ian Kershaw bemerkt dazu: „Eine Selbstzerstörung durch Fortsetzung des Kampfes bis zum Letzten, die zu nahezu totaler Verwüstung und vollständiger Besetzung durch den Feind führt, ist außerordentlich selten. Genau so verfuhren jedoch die Deutschen 1945. Warum?“ (S. 11). Diese Frage formuliert er gleich auf der ersten Seite seiner Studie „Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45“.

In neun historisch-chronologisch ausgerichteten Kapiteln beschreibt Kershaw die historisch-politische Entwicklung direkt nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 bis zur endgültigen Kapitulation am 8. Mai 1945. Dabei werden die unterschiedlichsten Ebenen der Ereignisse ins Visier genommen: Es geht sowohl um das gesellschaftliche Leben in Deutschland wie um die Geschehnisse an der Ost- und Westfront, es geht sowohl um die Einstellungen in der deutschen Bevölkerung wie um die Handlungen der militärischen und politischen Elite des Regimes. Auch wenn Kershaw noch einmal in die Archive gegangen ist, fand er keine neuen Erkenntnisse. Allenfalls gilt dies für eher kuriose historische Details wie die Tatsache, dass noch in den letzten Tagen des „Dritten Reiches“ öffentlich Fußballspiele und Konzerte stattfanden, welche eine Normalität angesichts des hereinbrechenden Chaos von Niedergang und Zerstörung vortäuschen sollten. Kershaws neuer Blick und wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn besteht mehr in der analytischen Betrachtung der Ereignisse.

In seine anschauliche Darstellung und ausgewogene Wertung integriert er immer wieder Einschätzungen zur Erklärung dieser „Durchhalte“-Linie bis zum Ende, ohne sich in eindimensionale Deutungen und überspitzten Thesen zu ergehen: Weder in der Forderung der Alliierten nach einer „bedingungslosen Kapitulation“ noch in den Fehlern der deutschen Kriegsgegner könnten die eigentlichen Ursachen dafür gesehen werden. Dies gelte ebenso für die Angst vor der Roten Armee, die Bedeutung des gestiegenen NS-Terrors oder die Rolle von Bormann, Goebbels, Himmler und Speer. „Die Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft und die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen sind die wichtigsten Gründe für Deutschlands Fähigkeit und Bereitschaft, bis zum absoluten Ende zu kämpfen“ (S. 541). Obwohl die Begeisterung der Massen für Hitler schon längst nachgelassen habe, wirkten Mentalitäten und Strukturen von Hitlers charismatischer Herrschaft - nun aber „ohne Charisma“ (S. 541) - bis zu seinem Tod im Bunker weiter.

Kershaw, der als Autor der bislang besten Hitler-Biographie gilt und andere bedeutende Werke zur Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt hat, beeindruckt auch hier wieder als ausgezeichneter Historiker.

Er beschränkt sich nicht auf die eingängige und kenntnisreiche Beschreibung der Ereignisse, sondern präsentiert auch eine überzeugende Antwort auf eine entwickelte Fragestellung. Man mag seine Fixierung auf den Faktor der „charismatischen Herrschaft“, welche bereits seine früheren Arbeiten prägte, durchaus kritisch betrachten. Gleichwohl liefert Kershaw eine komplexe und mehrdimensionale Erklärung, die zahlreiche Gesichtspunkte präsentiert, aber auch eine Gewichtung ihrer Wirkung vornimmt. Dadurch zeichnet er sich auch gegenüber anderen Historikern aus. Bestärkt wird dieses Urteil noch durch differenzierte Einschätzungen im Detail wie: „Natürlich war, wer sein Heim im Bombenhagel verlor, ein Opfer – Opfer eines schonungslosen Bombenkriegs, Opfer aber auch der expansionistischen Politik seiner Regierung, die den Horror ausgelöst hatte“ (S. 519).

Armin Pfahl-Traughber

 

Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Martin Pfeiffer, München 2011 (Deutsche Verlags-Anstalt), 704 S., 29,99 €