Freidenker und Kultur in Deutschland

(hpd) Das am vergangenen Wochenende von Laizistinnen und Laizisten in der SPD ausgesandte „Roßdorfer Signal“ zielt darauf, „die 1919 stecken gebliebene Trennung von Staat und Religion zu vollenden.“ Passend zu diesem in letzter Zeit erneut häufiger geäußerten Ruf ist nun das Buch „Dissidenten“ wieder erschienen.

Die verbesserte Neuauflage im Tectum-Verlag bietet die interessante und wahrscheinlich unverzichtbare Darstellung einer Geschichte der freidenkerisch-humanistischen Bewegung in Deutschland, die für die Anhänger und Protagonisten aller säkularen Konzepte wohl zur Pflichtlektüre zählen sollte.

 

„Wir fordern die Politik und insbesondere die SPD dazu auf, ein modernes Religions- und Weltanschauungsrecht zu entwickeln und auf diese Weise die 1919 stecken gebliebene Trennung von Staat und Religion zu vollenden.“ So steht es im „Roßdorfer Signal“, das die SPD-Laizistinnen und -Laizisten während ihres letzten Bundestreffens formulierten und als Erklärung verabschiedeten. Ein Phänomen der jüngeren Zeit sind Beschlüsse mit dieser Stoßrichtung freilich nicht. Doch was könnte oder sollte an die Stelle von ausgemusterten Modellen gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Praxis treten, für deren Ersatz nicht nur der IHEU-Gründer Julian Huxley in der Hoffnung auf einen nachhaltigen Abschied vom Komplex der traditionellen Religionen plädierte?

Das vom Kulturwissenschaftler Horst Groschopp, Direktor der Humanistischen Akademie Deutschlands, verfasste und 1997 erstmals veröffentlichte Fachbuch „Dissidenten – Freidenker und Kultur in Deutschland“ zeichnet mit der Geschichte freireligiöser, freidenkerischer und humanistischer Kulturbewegungen unter anderem die äußerst vielgestaltige Beschäftigung mit dieser fundamentalen Frage in der Region des heutigen Deutschlands zwischen 1840 und 1914 nach. Es heißt, dass sich bis 1914 etwa 20.000 bis 25.000 „Konfessionslose“ organisiert hatten, um sich ein alternatives Fundament abseits von kirchlichen Vorgaben und haltloser Beliebigkeit zu verschaffen. Festgemacht wird die historische Darstellung am Entstehen, Wirken und Umfeld des Weimarer Kartells, die laut Autor eine Bündnisvereinigung „gegen die Vorherrschaft der christlichen Kirchen und für religiöse und weltanschauliche Selbstbestimmung“ gewesen ist. Deren Vertreter vielfach maßgebliche Triebfedern für den Prozess der Trennung von Staat und Religion waren, wie er sich in den Forderungen der Weimarer Reichsverfassung niedergeschlagen hat und laut jüngster Bilanz der SPD-Laizisten dann 1919 stecken geblieben ist.

Die im damaligen Dietz-Verlag veröffentlichte erste Auflage von „Dissidenten“, darauf weist der Autor hin, ist nur geringfügig modifiziert und im nötigen Umfang korrigiert worden. Erarbeitet wurde das Buch zwischen 1994 und 1996, also vor rund anderthalb Jahrzehnten. Ein die zeitgenössische Gegenwart beschreibender Abschnitt des ersten Kapitels zur Einführung liest sich jedenfalls und mit Ausnahme von Details aus der Laienperspektive so, dass sie auch als heutige Zustandsbeschreibung wirken kann, weshalb das Werk nicht offenkundig unter der bewusst unterlassenen Neuaufarbeitung zu leiden scheint. Das in sechs Kapitel gegliederte und rund 500 Seiten umfassende Buch zur freidenkerisch-kulturellen Historie stellt dabei den Begriff des Dissidenten in den Blickpunkt, der seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 für jede vom obrigkeitlichen Diktum abweichende konfessionelle Identität gegolten hatte und die bis 1936 behördlicherseits auf „Abtrünnige“ gegenüber den Amtskirchen angewendet wurde.

Fülle der Darstellungen über Hintergründe

Wohl nicht zuletzt ist „Dissidenten“ zur Standardliteratur der Geschichte von Freidenkern und ihren Organisationen geworden, weil die Fülle der Darstellungen über Hintergründe der an der zur Gründung des Weimarer Kartells führenden Personen, Vereine und ihren Ansichten einer Laienperspektive nach, außerordentlich groß ist und damit sicherlich viele problematische Wissenslücken schließen kann. Gewiss sind solche sich in heutigen Diskussionen zeigende Defizite auch ein Anstoß zur Neuauflage gewesen, weshalb die Aufschlüsse über die Historie auch weiterhin diskutierter Konzepte für die Interessen konfessionsfreier Menschen – sei es Lebenskunde-Unterricht, „weltliche Seelsorge“, Kulturarbeit, die Distanz zwischen lebenspraktisch orientierten Arbeitsansätzen und theorie- bzw. ideologielastigen Akademiker-Clubs, Kirchenaustrittskampagnen, das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion und vieles andere mehr – wie auch die regionale oder soziale Herkunft der Beteiligten und Spaltungen, Lagerbildungen und Brüche innerhalb der Kulturbewegung und ihrer Organisationen beim Blick auf heutige Inhaber ernstgemeinter Anliegen sicherlich guten Gewissens unverzichtbar genannt werden dürfen. Ebenso wie die Kenntnis der Irrwege, die Darwinisten, Monisten oder andere zu beschreiten vorschlugen oder beschritten haben bis hin zum Nachdenken über Ursachen des Abreißens von wünschenswerten Aufschwungsprozessen. Denn selbst wenn sich der Einfluss religiöser Auffassungen und Haltungen auf das gesellschaftliche und private Leben sowie die Kultur während der letzten 100 Jahre in einigen Bereichen sichtbar verändert hat, sind in anderen, aus der Perspektive von konfessionsfreien und nichtreligiösen Menschen, sehr relevanten Bereichen kaum Fortschritte zu verzeichnen.

Schaffung von echten Perspektiven

Nur eine Randnotiz, aber trotzdem bemerkenswert, ist schließlich auch die nüchterne Einordnung, die der Autor am Ende den heute wieder entstandenen Vereinigungen „weltlicher Humanisten und Freidenker“ als Teil einer modernen „unbestimmten und buntscheckigen Soziokultur“, und der für sie möglichen Rolle, zukommen lässt. Im Vorwort hob er zwar selbst die Einschätzung des früheren Bundesvorsitzenden des Humanistischen Verbands Deutschlands, Klaus Sühl, anlässlich der ersten Veröffentlichung des Buchs hervor, wonach der „kulturelle Ansatz einer freidenkerisch-humanistischen Bewegung keine Perspektive geben könne.“ Nützlich bei der Schaffung von echten Perspektiven, die eine Überwindung der von Konfessionsfreien beklagten Dominanz von Kirche und Religion mit dem Ziel einer säkularen und humanistischen Realität leisten könnte, dürfte aber in jedem Fall die vertiefte und nun wieder erhältliche Auskunft darüber sein, in welchen historischen Kontext und welche Tradition Organisationen konfessionsfreier oder säkularer Menschen von weltanschaulichen oder politischen Kontrahenten heute eingeordnet werden können; sofern sie es nicht selbst tun oder bereits eingeordnet sind. Genauso nützlich wie das Wissen darüber, welche sozialen oder organisatorischen Ansätze sich in der Vergangenheit als erfolgreich und tragfähig erwiesen haben und welche Versuche heute als vermeidbare Fehler gelten können. Wenigstens deshalb dürfte es lohnen, sich mit „Dissidenten“ (noch) einmal zu beschäftigen.

Arik Platzek

Horst Groschopp, Dissidenten – Freidenker und Kultur in Deutschland, 2., verbesserte Auflage, Marburg 2011 (Tectum Verlag), 536 S., 34,90 Euro.