Wird die neue Gemeinschaftsschule „christlich“?

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat dieses Problem erkannt und beantragt, diese Aussage aus der Begründung des Gesetzentwurfs zu streichen: Diese Formulierung sei geeignet, Missverständnisse und Auslegungsprobleme hervorzurufen, denn sie stelle inhaltlich eine Zielsetzung für die neue Gemeinschaftsschule dar und bringe sie unzulässigerweise in einen Zusammenhang mit der Schulform der „christlichen Gemeinschaftsschule“. Auch die Evolutionären Humanisten Freiburg haben sich in Schreiben an die Landesregierung gegen diesen „Etikettenschwindel“ ausgesprochen und beantragt, den Begriff „Gemeinschaftsschule“ künftig nur noch für die „neue“ Gemeinschaftsschule zu verwenden. Zu diesem Zweck verlangen sie, die Artikel 15 und 16 aus der Landesverfassung zu streichen.

Der Gesetzentwurf wird „christlich“ überarbeitet

Die Kirchen sahen das offenbar ganz anders. Die Erwähnung in der Begründung reichte ihnen nicht. Sie haben auf das Kultusministerium eingewirkt, den Bezug der neuen Gemeinschaftsschule zur „christlichen Gemeinschaftsschule“ im Gesetz selber deutlicher herauszuarbeiten.

Deshalb plant das Kultusministerium Baden-Württemberg jetzt eine Neufassung der Gesetzesvorlage: Im Schulgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden, dass die Gemeinschaftsschule eine „christliche Gemeinschaftsschule“ im Sinne der Landesverfassung sei. Der neue Wortlaut liegt noch nicht vor, aber beide Regierungsfraktionen sollen dem Vorhaben zugestimmt haben. Im März will die Landesregierung abschließend hierüber entscheiden.

Man rechtfertigt die Einfügung einer solchen Zusatzklausel damit, dass durch die Gemeinschaftsschule die Grund- und Hauptschulen abgeschafft würden und die Schüler/innen, die eigentlich auf die Hauptschule gegangen wären, hätten ja einen Anspruch auf eine christliche Gemeinschaftsschule. Da sei die Frage erlaubt: Woran erkennt man diese Schülergruppe? Hätten mit dieser Begründung dann nicht auch die drei im Lande bestehenden Gesamtschulen „christlich“ umgetauft werden müssen? Und wie erkennt man die Schüler/innen, die eigentlich auf die Realschule und das Gymnasium gegangen wären? Hätten sie nicht einen Anspruch darauf, eine Schule ohne eine religiös-weltanschauliche Etikettierung zu besuchen?

Das Vorhaben der grün-roten Koalition ist mit der Verfassung nicht vereinbar: Artikel 15 Abs. 1 der Landesverfassung bestimmt eindeutig: „Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 9. Dezember 1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben.“

Für diese Schulen, und nur für diese, schreibt Artikel 16 Abs. 1 der Landesverfassung vor: „In christlichen Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen. Der Unterricht wird mit Ausnahme des Religionsunterrichts gemeinsam erteilt.“

Die Artikel 15 und 16 der Landesverfassung enthalten rechtlich abschließende Regelungen: Ausschließlich die Grund- und Hauptschulen (es ist unstrittig, dass hierzu auch die „Werkrealschulen“ gehören) besitzen einen „christlichen“ Charakter, und nur für sie gilt der zusätzliche Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“.

Es ist unzulässig, diese Schulform durch eine einfach-gesetzliche Regelung zu ändern oder auf andere, neu eingerichtete Schularten zu übertragen. Hierzu bedürfte es einer Verfassungsänderung.

Nach der geltenden Verfassung des Landes gelten für die neue Schulart Gemeinschaftsschule vielmehr lediglich die Erziehungsziele, die in den Artikeln 12, 17 und 21 für alle Schulen definiert sind, nicht jedoch die besonderen Bestimmungen der Artikel 15 und 16.

Wir brauchen keinen neuen Kulturkampf

Die Zeit ist über diesen Sonderstatus der Grund- und Hauptschulen längst hinweggegangen – und das ohne jeden Schaden für den Schulfrieden. Seit dem Verfassungskompromiss von 1967 haben sich die Herkunftsstruktur und die Religionszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler drastisch verändert: Gehörten damals noch so gut wie alle Schülerinnen und Schüler einem der christlichen Bekenntnisse an und entstammten sie fast ausschließlich der deutschen Wohnbevölkerung, so ist inzwischen vor allem in den Ballungszentren der Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund teilweise auf über 50 Prozent gestiegen; viele von ihnen gehören gar keinem oder einem nicht-christlichen Bekenntnis an (sondern vorwiegend dem Islam). Es gibt Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg, deren Schülerschaft mehrheitlich keiner der Religionsgemeinschaften angehört, für die Religionsunterricht eingerichtet ist.

Der „christliche“ Sonderstatus der Grund- und Hauptschulen spielt in der Schul-Realität heute faktisch keine Rolle mehr; hierzu hat nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, z.B. die Entscheidung zur Simultanschule (vom 17. 12.1975 – BVerfGE 41, 29) sowie das „Kruzifix-Urteil“ (vom 16. 5.1995 – 1 BvR 1087/91) beigetragen. Das Kultusministerium hat deshalb schon vor 12 Jahren seine Verwaltungsvorschrift zur „christlichen Gemeinschaftsschule“ aus dem Jahr 1967 ersatzlos erlöschen lassen, in der noch vom Schulgebet, der Anbringung religiöser Symbole in Schulräumen oder der Pflege christlichen Liedguts im Musikunterricht der Grund- und Hauptschulen die Rede war. Auch die aus der badischen Simultanschultradition stammende Verfassungsbestimmung, bei der Bestellung der Lehrer an den Grund- und Hauptschulen auf das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis der Schüler nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen, ist seit Langem obsolet; die Schulverwaltung ignoriert diese Verfassungsbestimmung konsequent.

Der Anspruch der Kirchen und das Vorhaben der Regierung bedeuten einen politisch-historischen Rückschritt; sie markieren den Rückfall in eine durch die bisherige Entwicklung überholte Kulturkampf-Haltung. Es ist weder einseh- noch vermittelbar, warum ausgerechnet diese neue Gemeinschaftsschule, die nicht zuletzt der Schülergruppe mit Migrationshintergrund (und damit oft auch nichtchristlicher Religionszugehörigkeit) bessere Bildungschancen ermöglichen soll, dezidiert an ein einzelnes religiöses Bekenntnis gebunden werden soll. Welches Signal soll der besondere Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ (Art. 16 LV) muslimischen oder konfessionslosen Eltern geben? Der in Baden-Württemberg seit 1967 aufgebaute Schulfrieden wird gestört und die neue Gemeinschaftsschule wird mit einer völlig unnötigen, gefährlichen Hypothek belastet.

Spätestens wenn die ersten Eltern gegen das geänderte Schulgesetz klagen, wird das Bundesverfassungsgericht diese Klausel kassieren und die grün-rote Koalition blamieren.

Frank Walter