WIEN. (hpd) Martin Walser macht wieder mal von sich reden. Nicht mit einem neuen Buch. In einem Interview mit „The European“ rechnet er mit dem Atheismus ab. Oder was er dafür hält. Ein peinliches und tragisches Schauspiel. Eine Kritik an einem durchschnittlichen Religions-Apologeten.
Martin Walser mag keine Atheisten. Er versteht sie nicht. Muss er auch nicht. In einer einigermaßen demokratischen Gesellschaft hat jeder das Recht, seine Vorurteile und Meinungen vor aller Welt auszubreiten. Auch in einem langen Interview mit „The European“. Genauso wie jemand das Recht hat, nicht vor Martin Walsers literarischen Leistungen in Ehrfurcht zu erstarren. Sei es, dass man es nicht so hat mit der Ehrfurcht, sei es, dass man Martin Walser nicht für den größten deutschsprachigen Literaten mindestens des 20. Jahrhunderts hält.
Was man zumindest angesichts dieses Interviews gegenüber dem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller empfinden sollte, ist Mitgefühl. Ein 85-Jähriger versucht, sein Leben Revue passieren zu lassen, ohne biografisch zu werden. Im Mittelpunkt seiner Gedanken steht die Frage, ob alles umsonst war. Mehr oder weniger gekonnt verkleistert er das mit einer halbgelehrten Geschwätzigkeit, die große Namen um sich wirft, dass einem normalen Menschen schwindlig wird beim Lesen.
Walser will sich rechtfertigen. Vor der Welt. In seiner Vorstellung auch vor einem höheren Richter. So ganz offen traut er sich das nicht auszusprechen. Sicherheitshalber versteckt er sich hinter Kafkas Prozess und seinem Protagonisten Josef K („Je mehr er sich um die eigene Rechtfertigung bemüht, desto klarer wird ihm, dass er nicht gerechtfertigt ist. Ihm fehlt da etwas“). Oder hinter der gesamten Menschheit („Sie konnten sich nicht selbst rechtfertigen. Sie waren sich nicht genug, so sein zu dürfen wie sie waren. Deswegen benötigten sie dazu eine höhere Instanz“).
Walser darf die Frage nach dem Scheitern oder Nichtscheitern der eigenen Existenz und des eigenen Schaffens nicht offen aussprechen. Genauso wenig darf er denken, dass alles umsonst war. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Eine sehr nachvollziehbare Befindlichkeit eines bedeutenden Literaten im Winter seines Schaffens und seines Lebens. Das steht ihm zu.
Atheisten: Zu wahren Kulturleistungen unfähig
Was ihm nicht zusteht, ist, aus dieser persönlichen Befindlichkeit die große Welterklärung zu machen. So bedeutend, dass sich die ganze Welt nur in ihm und durch ihn erklären lassen würde, ist Martin Walser auch nicht. Dass er sich nur unter religiösen Menschen wohlfühlt, ist seine Sache. Dass er Atheisten unterstellt, sie könnten keine bedeutende Kunst zustande bringen und seien nicht imstande, sich zu rechtfertigen, ist die übliche klerikale Phrasendrescherei. Das ist an sich eine Zumutung. Dass er sich hinter lauter Kafkas, Barths und Kierkegaardens verstecken muss, ist Feigheit. Da ist einem der gewesene Austropopstar Rainhard Fendrich lieber, der in einem Interview sagte: „Für mich ist ein Atheist ein Trottel.“ Das ist ehrlich. Auch wenn er sich nachher für die Aussage entschuldigt hat.
Natürlich sagt Walser nicht offen, dass Atheisten keine Künstler sein können und nebenbei in der Philosophie nichts Interessantes hinterlassen haben. Was er sagt, reicht. „Die meiner Meinung nach wichtigste Begabung, um glauben zu können, ist der Sinn für das Schöne. Wir haben die Fähigkeit, etwas schön zu finden. Nehmen Sie Bach oder Schubert. Ihre zu Gott gewandte Musik hat unsere irdische Existenz ausgefüllt und geformt.“ Bei einem Atheisten hingegen ginge dieser Reichtum der Geschichte verloren… Wer von der Urfrage, und das ist für ihn die Frage nach Gott, nichts wissen will, betreibe im besten Falle U-Literatur… Hinter uns lägen 2.000 Jahre der Frage nach Gott. „Die völlige Beruhigung im heutigen Atheismus, also auch von Intellektuellen, halte ich geradezu für eine Vernichtung unserer Geistesgeschichte.“
Viel deutlicher kann man es nicht sagen, wenn man die eigene Todesangst, die eindeutig Walsers Gottessehnsucht befeuert, hinter einigen der bedeutendsten Schriftsteller und Künstler überhaupt verstecken will.
Lernen Sie Geschichte!
Wenn man Walsers Philosophieren (besser: Schwadronieren) über die Grenzen der Sprache, den Weltschmerz des Künstlers und die westliche Kultur liest, wird man den Eindruck nicht los: Der Mann mag viele philosophische Schriften gelesen haben, wenn auch eher einseitig. Von Geschichte hat er keine Ahnung. Von Kulturgeschichte am allerwenigsten. Für einen Schriftsteller mag das angehen. Für den Philosophen, als den sich Walser sieht, nicht. Außer Phrasen über angebliche 2.000 Jahre europäischer Geistesgeschichte hat er nichts zu bieten. Das stammt aus dem Wortschatz religiöser Apologeten, die dem Geist des Mittelalters verhaftet blieben. Die Aussage ist in sich ein faktischer Fehler.
Gab es vor 2.000 Jahre kein europäisches Geistesleben? Wo sind Sokrates und Plato geblieben, wo Cicero? Schöpft nicht jeder westliche Schriftsteller auch aus deren Schaffen? Warum kennt Walser, der so gerne als Sprachkritiker posiert, Aristoteles nicht? Interpretierten den nicht viele Philosophen des Mittelalters geradezu als Wegweiser zu ihrem Gott? Oder zumindest zu einer christlichen Philosophie? Eigenartig, dass das jemand vergisst, der das geistige Schaffen Europas teleologisch zu einem Streben nach Gott verklärt.
Von 2.000 Jahren bleiben höchstens 500
Gleichzeitig erklärt Walser großzügig das gute halbe Jahrtausend nach der Zeitenwende, bis sich das Christentum dank politischer Macht durchgesetzt hatte, en passant zum christlichen Zeitalter um. Als ob das ganze Römische Reich nur obsessiv nach dem christlichen Gott gesucht habe, als ob seine gesamte Kunst nur diesem einen Streben untergeordnet gewesen wäre. Die nächsten 500 Jahre mag eine Elite intensiv nach einem christlichen Gott gesucht haben, Kultur brachte sie kaum hervor. Da sahen die obersten Gottessucher vor. Sicherheitshalber ließen sie fast das gesamte antike Schriftenwesen vernichten oder nach Bedarf großzügig umdeuten. Auch gern mit Plagiaten, Einfügungen und Fälschungen. Es dauert bis heute, die geistesgeschichtlichen Scherben dieser Herrschaften zusammenzukehren.
Erst dann beginnt das, was Walser mit seiner ausschließlich christlich verstandenen europäischen Geistesgeschichte meinen könnte. Da mag lange die Suche nach einem Gott viele Schriften motiviert haben. Nur sind nicht einmal alle spätmittelalterlichen Ritterromane und Minnestücke in diesem Kontext zu sehen. Spätestens seit der Renaissance suchen viele Künstler auch nach etwas anderem: Schönheit um der Schönheit willen, der Wahrheit, der Natur des Menschen. Je mehr sie von der Welt wissen, desto weniger suchen sich nach dem christlichen Gott des Martin Walser. Je mehr sie von der Welt verstehen, desto weniger brauchen sie ein höheres Wesen.
Bleiben von 2.000 Jahren Geistesgeschichte bei einigermaßen nüchterner Betrachtung höchstens 500, wo Gottesbegriff oder Gottessuche so dominant waren, wie es sich Walser und andere Religionsapologeten vorstellen.
Was empfindet Walser bei Brittens Musik?
Und was war mit der Schubertschen Musik? Woher weiß Walser, ob und wie religiös Schubert war? Woher weiß er, dass es nur die Sehnsucht nach dem höheren Wesen war, die Schubert antrieb? Hat er mit ihm gesprochen? So alt ist Martin Walser auch wieder nicht. Bei Bach mag die Religiosität im Vordergrund gestanden haben. Allein, woher will Martin Walser wissen, ob das für Bach nicht mangels anderer Denkmöglichkeiten die Metapher für künstlerisches Streben um seiner selbst willen war? Was empfindet ein Martin Walser bei Benjamin Brittens Musik? (Britten war Atheist) Fehlt ihm die innere Schönheit? Oder vernichtet Britten die Geistesgeschichte? Hat Walser H.G. Wells je gelesen? (Auch der ein Atheist.)
Niemand würde bestreiten, dass mittelalterliche oder frühneuzeitliche Kathedralen zu den beeindruckendsten Bauwerken gehören, die die Menschheit hinterlassen hat. Man kann vermutlich auch jedem das geringste Kunstverständnis absprechen, den die Bauten von Angkor Wat unbeeindruckt lassen, um einen Blick über die Grenzen des Kontinents zu wagen. Nur, was macht einen Martin Walser so sicher, dass allein eine „Hinwendung zu Gott“ die Architekten und Handwerker motiviert hat? Wer sagt, dass es nicht Freude an der eigenen Kunstfertigkeit war, nicht Eitelkeit? Ein Gefühl, das Martin Walser nicht fremd sein dürfte. Wer sagt, dass die Bauherren und Geldgeber allein die höhere Ehre des christlichen Gottes oder der Götter der Khmer im Auge hatten? Wer sagt, dass es ihnen nicht um den eigenen Ruhm ging, um eigene Macht? Wer sagt, dass niemand dieser Menschen auf Pilgerströme gehofft hat?
Soll man jedes Wort auf die Goldwaage legen?
Man hört die Einwände seiner Verteidiger: „Man soll nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen“.
Der Mann ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Man soll.
Er hat davon gelebt, dass man jedes seiner Worte ernstnahm. Warum bei einem Interview eine Ausnahme machen? Dass er in diesem Interview die sehr auswechselbare Rolle des Religions-Apologeten spielt, ist seine Sache.
Nicht der Atheismus vernichtet die europäische Geistesgeschichte. Walser tut es. Er vergisst die eine Hälfte, die andere deutet er nach Bedarf um. Das ist keine Philosophie. Das ist schnöde Propaganda, durchsetzt von Ressentiments, Verständnislosigkeit und beliebigen Phrasen. Kann er nichts Besseres als die Standard-Apologeten der Religionen dieser Welt nachäffen? Mit Ausnahme der kurzen literarischen Analysen gibt es im ganzen Interview keinen Gedanken, den nicht schon jemand anderer formuliert hätte. Nur eloquenter und meist mit deutlich weniger Präpotenz.
Wenn Martin Walser glaubt, dass sein gesamtes Leben umsonst gewesen ist, wenn es keinen Gott gibt – dann soll er. Nur bitte ohne Angriffe auf Andersdenkende. Und ohne die unerträgliche Anmaßung, er und er allein könne definieren, was wertvolle Kultur ist. Es ist tragisch und peinlich, wie ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller versucht, mit halbgelehrter Phrasendrescherei der eigenen Gottessehnsucht eine Bedeutung zu geben, die die Nachwelt beeindrucken soll. Er soll sich die Frage selbst stellen und die Welt von seiner Geschwätzigkeit verschonen.
Christoph Baumgarten