Anthroposophie und Faschismus

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Prof. Peter Staudenmaier / Foto: Privat

FRANKFURT/M. (hpd) “Ja, gewiss kam es zu Spannungen…” – ein Interview mit Prof. Peter Staudenmaier über Rudolf Steiners Rassismus und Antisemitismus, deren Stellung im “Mainstream der damaligen Esoterik” und die ideologischen Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus.

Ansgar Martins vom waldorfblog sprach mit Peter Staudenmaier, Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”

Ansgar Martins: Herr Staudenmaier, Sie haben 2010 eine Dissertation über die Verwicklungen von Anthroposophie und Faschismus vorgelegt und bereits seit 2005 in Fachzeitschriften zum Thema publiziert. Was interessiert Sie an der Anthroposophie allgemein? Und was war Ihr konkreter Anlass, sich mit ihr zu befassen?

Peter Staudenmaier: Das hat eine lange Geschichte. 1995 erschien ein Aufsatz von mir über den sogenannten „grünen Flügel“ der NSDAP und die brisante Frage der Ökologie und des Umweltschutzes als Teilaspekte nationalsozialistischen Denkens und Handelns. Da die biologisch-dynamische Landwirtschaft eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte, habe ich auch dieses Thema gestreift. 1999 wurde ich von einer norwegischen Zeitschrift beauftragt, einen Aufsatz speziell zum Thema ‚Anthroposophie und Ökofaschismus’ zu schreiben. Dieser Text erschien 2000 und rief anthroposophischerseits lebhaften Widerspruch hervor, was mich zur weiteren Forschung veranlasste. Daraus ergab sich allmählich ein immer größer angelegtes Projekt.

Steiner war ein Kind des Habsburger Reichs, zeitweiliger Fan des Sozialdarwinisten Ernst Haeckel und formulierte seine Rassentheorien um 1900 nach seiner Konversion zur theosophischen Esoterik Helena Blavatskys. Wie sah das Rassebild aus, das er daraus kompilierte?

Steiners Rassenbegriff war zugleich im populärwissenschaftlichen Umfeld der Jahrhundertwende verwurzelt und durch unverkennbar theosophische Züge gekennzeichnet, welche im deutschsprachigen Europa jener Zeit teilweise innovativ bzw. befremdend wirkten. Ausgehend von Blavatskys entwicklungstheoretischem Ansatz baute Steiner eine Evolutionslehre der Völker- und Rassengruppen auf, wonach die menschliche Seele durch aufeinanderfolgende Verkörperungen in immer „höheren“ Rassen geistig wie leiblich fortschreitet. Diese Stufenleiter der Rassen steht im Mittelpunkt von Steiners esoterischem Verständnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, vom Verhaftetsein in der Materie hin zur geistigen Vervollkommnung.

Diese anthroposophische Rassenlehre entstand in einer Zeit, in der Eugenik und politischer Rassismus populär wie akademisch weit verbreitet waren. Wie radikal waren Steiners Theoreme vor diesem Hintergrund, welche Übereinstimmungen und Differenzen gibt es?

Radikal war Steiners Rassenlehre in dem Sinne nicht, eher im Gegenteil, vor allem im Vergleich etwa zur Ariosophie oder Evola usw. Steiners Ideen lagen vielmehr im Mainstream der damaligen Esoterik. Seine Schüler entwickelten diese Ideen dann weiter, zum Teil in Auseinandersetzung mit völkischen und nationalsozialistischen Rassentheoretikern. Die Übereinstimmungen und Differenzen lassen sich schwer zusammenfassen; da würde ich auf die einschlägigen Arbeiten von Helmut Zander, Jana Husmann und Georg Schmid verweisen.

Es gab in der anthroposophischen Szene einige jüdische Mitglieder, teils (Hans Büchenbacher) auch in wichtigen Positionen, bei Steiner und vielen prominenten Anthroposophen findet sich allerdings antijüdisches Ressentiment zur Genüge. Kam es da nicht zu Spannungen?

Ja, gewiss kam es zu Spannungen, welche sich teilweise in der anthroposophischen Literatur widergespiegelt haben, nicht zuletzt in Steiners eigenen Werken. Einerseits zeugt das von der Breite der anthroposophischen Bewegung, wo ein Hugo Bergmann und ein Karl Heise beide eine geistige Heimat finden konnten. Andererseits bereitete es den jüdischen Mitgliedern Schwierigkeiten, wobei diese sich selbst meistens eben nicht als Juden verstanden (Büchenbacher zum Beispiel, dessen Vater jüdischer Herkunft war, wurde katholisch erzogen). So schrieb etwa Karl Heyer 1931 an Oskar Franz Wienert: „Ihre Besorgnis wegen des Hervortretens des israelitischen Elements – das an sich ja zahlenmäßig bei uns schwach vertreten ist – teile ich seit langem sehr.“ (Brief vom 16.12.1931) Die Lage war nach 1933 natürlich verschärft; Ernst Stegemann z.B. wollte im August 1935 alle „nichtarischen“ Mitglieder aus den Mitgliederlisten der Anthroposophischen Gesellschaft löschen (Ernst Stegemann an Alfred Reebstein, 28.8.1935).

Anthroposophen kontern eine Kritik dieser Rassismen gern, indem sie Steiner als Verfechter einer radikalen Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts profilieren. Es gibt ja auch tatsächlich entsprechende Zitate. Wie fügen sich diese widersprüchlichen Positionen in Steiners Geschichts- und Menschenbild ein und welche Gewichtung haben sie im Vergleich zu den manifesten Rassismen?

Als Gegenargument sind solche Gedankengänge historisch gesehen leider nicht sehr einleuchtend; sie scheinen von der irrtümlichen Annahme auszugehen, Verfechter einer Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts müssten irgendwie frei sein von eigenen rassistischen oder antisemitischen Einstellungen. Das ist in der Geschichte keineswegs immer der Fall. Die gegenläufigen Positionen in Steiners vielschichtigen Theorien lassen sich m.E. nicht eindeutig in der einen oder anderen Richtung festlegen, und eine angemessene Interpretation muss beide Momente miteinbeziehen. Steiner hielt z.B. die verschiedenen Völker und Rassen für „Entwickelungsstufen zur reinen Menschheit hin“ und beschrieb die  „Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer höher stehenden Volks- und Rassenformen“ als einen „Befreiungsprozeß.“ (GA 10, 210). So wird eine Zukunftsvision jenseits der Rassenunterschiede mit einem evolutionären Rassismus verknüpft, eine Verbindung, die im frühen 20. Jahrhundert nicht selten war.

Diese Kontinuität ist mir klar und ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Trotzdem: Ich finde da doch einiges schlicht widersprüchlich. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen demonstrieren: Bis ca. 1909 setzte Steiner die imaginierten ‚Rassen‘ konsequent mit ‚Lehrstufen‘ der Evolution gleich, verschiedene ‚Rassen‘ seien Produkte verschiedener Entwicklungsstufen. Reinkarnation bedeutete hier den Aufstieg des geistigen ‚Ich‘ innerhalb der rassistischen Hierarchie (GA 54, 134). 1910 dagegen erklärte er, die ‚Rassen‘ seien nicht nacheinander, sondern gleichzeitig und als ‚Vereinseitigungen‘ entstanden, die Reinkarnation führe horizontal durch dieselben hindurch, sodass wir „einmal hier, einmal dort inkarniert werden“ (GA 121, 86) und „keine eigentliche Benachteiligung“ zwischen den ‚Rassen‘ bestehe (natürlich hielt er an “aussterbenden” Indianern und mit “Merkmalen der Kindheit” behafteten Afrikanern ungebrochen fest). Ein anderer Fall: 1907 bezog sich Steiner, scheinbar religiös verzückt, auf Christus als Repräsentanten des ‚Ich‘ und affirmierte mit antijüdischer Konnotation die „Blutmischung“, weil sie das Ende biologischer Rassen und den Übergang von der „Blutsliebe“ zum universalen Liebesgebot Christi bedeutete (GA 97, 63). 1923 aber konnte er sich, als schwarze Kolonialsoldaten im Ruhrgebiet stationiert waren, nichts Schlimmeres vorstellen als “Negerromane” und die Entstehung von sog. „Mulattenkindern“ (GA 348, 189). Wie würden Sie derartige Umbrüche deuten?

Als die Ungereimtheiten und Widersprüche eines strapazierten Redners, wie sie eigentlich zu erwarten sind von einem esoterischen Lehrer, der im Laufe der Jahre tausende von Vorträgen zu den verschiedensten Themen gehalten hat. Aber auch als gescheiterter Versuch, die schwankende Botschaft der Theosophie bzw. Anthroposophie im Hinblick auf die Rassenthematik einem wechselnden Publikum unter unterschiedlichen Verhältnissen zu vermitteln. Dass es Steiner schließlich nicht gelang, diese gegensätzlichen Thesen in Einklang zu bringen, liegt nicht nur an der Unbeständigkeit der Esoterik; der Begriff der Rasse in jeglicher Form ist immer höchst widersprüchlich gewesen.

Auch in der wissenschaftlichen Forschungsliteratur wurde die theosophische Rassenlehre oft marginalisiert und das „internationale“ Selbstverständnis von Theosophie und Anthroposophie betont. Konkret etwa bei George L. Mosse („Theosophie konnte in der Tat auch einen neuen Humanismus tragen. Rudolf Steiners 1913 in Berlin gegründete Anthroposophische Gesellschaft verband Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus“), Ulrich Linse („Die Verwendung der Rassen-Kategorie sollte“ nicht „als Beweis für eine rassistische Ausrichtung dienen“) oder James Santucci („Race as presented in The Secret Doctrine is not racist in intent“). Gerade Mosse und Linse sind Experten auf dem Gebiet, wie kommt es zu dieser Unterschätzung der rassistischen Parallelen?

Ich würde da unterscheiden zwischen Apologetik (z.B. Santucci) und einer kritischen Analyse, die in dem einen oder anderen Fall möglicherweise zu kurz greift (z.B. Mosse oder Linse). Mit der Anthroposophie hat sich Mosse nie eingehend beschäftigt, und Linse ist berechtigterweise bemüht, dem alten Bild der Esoterik entgegenzutreten. Über ein derart komplexes Thema lässt sich sowieso streiten, und es wäre verfehlt, von allen Wissenschaftlern die gleiche Interpretation zu erwarten, auch wenn meine Analysen oder Zanders Analysen z.B. im allgemeinen mit denen von Mosse oder Linse übereinstimmen.

Wie gingen Anthroposophen mit dem rassistischen Gedankengut Steiners nach der ‚Machtergreifung‘ 1933 um? Welche Positionen lassen sich ausmachen?

Unter deutschen Anthroposophen war es weniger die Rassenlehre Steiners als der Deutschtumsbegriff, der sich als Anhaltspunkt anbot. Aber auch rassenthematische Überlegungen wurden weitergeführt. Ernst Uehli und Sigismund von Gleich beispielsweise verarbeiteten den Ariermythos, während Richard Karutz eine umfassende anthroposophische Rassensystematik vorlegte. Die Positionen reichten bis hin zur ausdrücklichen Zustimmung zu nationalsozialistischen Grundsätzen, so wie bei Karutz oder Ernst von Hippel. So schrieb Karutz z.B. über Hitler: „Er macht die höhere Entwicklung der Völker von deren ungleichen Zusammensetzung aus einer organisatorisch befähigten und einer zum Herrschen nicht befähigten Rasse abhängig, er empfindet diese Schichtung als eine uralte, bis in die Rassenbildung zurückgehende […] Das setzt einen geistigen Entstehungsgrund für die Rassen voraus, der Nationalsozialismus ist, vielen unbewußt, tatsächlich eine geistige Bewegung, Rassenbildung und Rassenschichtung in Europa gehen tatsächlich bis in jene atlantische Zeiten zurück, von denen Rudolf Steiner spricht.“ (Richard Karutz, Vorlesungen über moralische Völkerkunde, 1934, S. 5)