Öczan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen) im Interview

"Das ist die rote Linie"

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Özcan Mutlu
Özcan Mutlu

Ein "Ja" beim Referendum zu der geplanten Verfassungsreform in der Türkei bedeutet nach Auffassung von Özcan Mutlu (Grüne) das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen. Gleiches gelte im Falle einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe, betonte der Abgeordnete und stellvertretende Leiter der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Interview.

Herr Mutlu, Mitte April soll das türkische Volk über eine Verfassungsreform abstimmen, die Präsident Erdogan umfangreiche Machtbefugnisse einräumen soll. Wie gefährlich ist dieses Referendum?

Brandgefährlich. Ist es erfolgreich, bedeutet das die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in der Türkei; die Autokratie würde manifestiert. Erdogan hätte mit einem Schlag alle Macht über die Exekutive, die Legislative und die Judikative. Er könnte jederzeit Minister entlassen, hohe Richter benennen oder entlassen, nach Belieben Neuwahlen ausrufen und als Parteichef bestimmen, wer ins Parlament kommt. Die Abgeordneten der Regierungsfraktion werden dann natürlich einen Teufel tun, Erdogan zu kritisieren.

Welchen Ausgang erwarten Sie?

Sollte das Referendum fair und gerecht ablaufen, wird die türkische Bevölkerung Nein sagen zu Erdogans Plänen. Sie hat sich in der Vergangenheit immer kurz vor dem Abgrund für den richtigen Weg entschieden. Ich habe jedoch Zweifel, dass es fair und gerecht zugehen wird.

Die Medien in der Türkei sind nahezu gleichgeschaltet, die Opposition kommt in der Berichterstattung kaum noch vor. Seit dem gescheiterten Putsch im Sommer vergangenen Jahres sind 5.000 Journalisten arbeitslos geworden, mehr als 130 sitzen im Gefängnis. Etwa 110.000 Staatsbedienstete, darunter Staatsanwälte, Richter, Polizisten und Lehrkräfte wurden vom Dienst suspendiert, viele sogar inhaftiert. Der Ministerpräsident der Türkei, Binali Yildirim, hat kürzlich in einer Fernsehansprache gesagt: Alle, die Nein sagen zum Referendum, unterstützen den Terror, die PKK und die Gülen-Bewegung, die angeblich hinter den Putschversuch steckt.

Andere drohen, wenn die Vorlage abgelehnt wird, gibt es einen Bürgerkrieg. Es wird also massiv Druck auf die Bevölkerung ausgeübt und Angst geschürt.

Ist ein Bürgerkrieg ein realistisches Szenario?

Wenn die Bevölkerung das Referendum ablehnt, werden Erdogan und die AKP-Regierung das nicht einfach hinnehmen. Wir haben das bereits bei den Wahlen im Juni 2015 erlebt, da war ich OSZE-Wahlbeobachter. Erdogan hat damals im Wahlkampf öffentlich gesagt: Gebt mir 400 Mandate und dann ist das alles friedlich gelöst. Diese 400 Mandate brauchte er, um die Verfassung zu ändern. Doch die AKP verlor zehn Prozent und damit ihre Regierungsmehrheit.

Was geschah? Plötzlich gab es etliche Terroranschläge, Bomben explodierten inmitten von Demonstrationen. Die Regierungsbildung scheiterte, die Wahlen wurden wiederholt. Und die Menschen wählten tatsächlich wieder AKP.

Ihr Parteichef, Cem Özdemir, hat Sanktionen gefordert, falls die Türkei ihren antidemokratischen Kurs fortsetzt. Der richtige Weg?

Wenn wir mit Appellen und Dialog nichts erreichen, müssen wir als Ultima Ratio auch über Sanktionen nachdenken. Das ist vielleicht die einzige Sprache, die Ankara versteht. Dass sie wirken, haben wir gesehen, als die türkische Luftwaffe im November 2015 über dem türkisch-syrischen Grenzgebiet ein Kampfflugzeug der Russen abgeschossen hatte. Wladimir Putin erhob daraufhin weitreichende Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei; das Ergebnis war, dass Erdogan persönlich nach Moskau gereist ist und alles tat, um das Verhältnis beider Staaten wieder ins Lot zu bringen.

Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat der Europäischen Union. Doch sie scheint sich entschieden zu haben - gegen Europa, für eine stärkere Zuwendung nach Asien. Warum sollte die EU dem Land weiterhin eine europäische Perspektive einräumen?

Weil die Verbindungen zwischen Europa und der Türkei seit Jahrhunderten bestehen und Ankara ein wichtiger Partner ist - in der Flüchtlingsfrage, aber auch wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Zudem leben Millionen von Türken in Europa. Statt die Verhandlungen zu beenden, sollten wir neue Kapitel eröffnen - vor allem die, bei denen es um Justiz, Grundrechte und Freiheit geht. Wenn wir die Gespräche stoppen, spielen wir Erdogan nur in die Hände. Er kann sich dann in der Türkei weiterhin als Opfer Europas zelebrieren.

War es ein Fehler, den EU-Beitritt des Landes zu verschleppen?

Definitiv. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat sich, als er 1923 die Republik ausrief, klar für einen Kurs Richtung Westen ausgesprochen. Vor sieben Jahren war das Land auch unter Erdogan viel weiter als viele der zehn Beitrittskandidaten, die wir 2004 aufgenommen haben. Damals hat sich in Umfragen mehr als zwei Drittel der türkischen Bevölkerung für einen Betritt ausgesprochen und ein Drittel dagegen.

Heute ist es umgekehrt. Warum? Weil Europa das Land immer an der langen Leine gehalten und den Demokratisierungsprozess nicht hinreichend gefördert hat. Wir haben Erdogan so zu seiner Allmacht verholfen und eine riesige Chance vertan.

Wo ist die rote Linie für die weiteren Verhandlungen über einen EU-Beitritt?

Sie ist überschritten, wenn die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung abgeschafft und eine faktische Diktatur geschaffen wird. Und wenn die Todesstrafe wieder eingeführt wird. Dann können wir die Verhandlungen beim besten Willen nicht fortsetzen.

Wichtig bleibt aber, jene Menschen in der Türkei zu unterstützen, die für die Demokratie und universelle Werte, wie Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit, kämpfen.

An der Volksabstimmung können sich auch die rund 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland beteiligen. Wie stark ist Erdogans Basis hier?

Bedauerlicherweise ist der Einfluss Ankaras auf die Deutschtürken in Europa, speziell in Deutschland, sehr groß. Bei den Parlamentswahlen 2015 hat die AKP in der Türkei 49 Prozent bekommen, in Deutschland 59 Prozent. Auftritte wie der von Premier Yildirim vor einigen Tagen in Oberhausen befördern diese Popularität noch. Das spaltet die türkische Community und ist Gift für die Integration.

Sollten solche Veranstaltungen dann besser verboten werden?

Nein, damit treiben wir die Menschen nur noch mehr in Erdogans Arme. Er wird dann sagen: Seht nur, das sind Scheindemokraten. Sie wollen Euch nicht, sie können es nicht mal ertragen, dass wir nach Deutschland kommen und mit Euch reden. Das kann nicht unser Ziel sein. 

Warum ist Erdogan bei den Deutschtürken eigentlich so populär? Viele leben doch schon in dritter, vierter Generation Deutschland, sie haben hier ihre Ausbildung gemacht, wurden hier sozialisiert.

Viele leben zwar mit den Füßen auf deutschem Boden, aber mit dem Kopf und mit dem Herzen in der Türkei. Ein Grund ist auch, dass es die deutsche Gesellschaft jahrzehntelang nicht vermocht hat, diesen Menschen eine neue Heimat zu bieten. Wir haben ihnen zu wenig Anerkennung und Respekt entgegengebracht und sind auch institutionell kaum auf sie zugegangen.

Warum haben wir zum Beispiel so wenig deutsch-türkische Lehrer an den Schulen? Warum keinen Türkischunterricht als Wahlpflichtfach oder als zweite Fremdsprache? Warum bilden wir nicht selbst Imame aus, die auf dem Boden unserer Verfassung stehen? Und weshalb gibt es kaum theologische Fakultäten mit Schwerpunkt Islam bei uns?

Wir müssen den jungen Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, klar machen: Nicht, was in Ankara entschieden wird, ist wichtig für Euch. Entscheidend für Euch ist, was in Berlin, was hier im Bundestag, in den Landtagen und Kommunen passiert.             

Das Gespräch führte Johanna Metz für die Wochenzeitschrift "Das Parlament". (Erstveröffentlichung: 27.02.2017)