(hpd) Der US-amerikanische Anthropologe und Geograph Jared Diamond untersucht in seinem Buch das soziale Miteinander in heute noch existierenden Stammesstrukturen. Ohne eine falsche Romantisierung leitet er draus einige bedenkenswerte Anregungen und Vorschläge zur individuellen und sozialen Verbesserung des Lebens in der modernen Welt ab.
Wie sollen moderne Gesellschaften kontinuierlich auszumachende Probleme in den Bereichen der Erziehung, Gesundheit, Konfliktbewältigung oder Rechtsprechung lösen? Über diese Frage gibt es ebenso regelmäßig mehr oder weniger heftige Debatten in Öffentlichkeit und Wissenschaft. Die vergleichende Betrachtung, die nach Antworten mit Blick in anderen Ländern sucht, kann dazu nützliche Anregungen geben. Hierbei muss es sich gar nicht so sehr um hoch entwickelte Gesellschaften handeln. Auch traditionelle Sozialordnungen fanden Modelle für die erwähnten Problembereiche. Darauf macht der Geographie an der University of California in Los Angeles lehrende Jared Diamond in seinem neuen Buch „Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ aufmerksam. Er berichtete darin von seinen Eindrücken bei der Beobachtung von Stammesstrukturen insbesondere in Neuguinea, wo es noch von Horden und Kleinbauern geprägte Gesellschaften ohne staatliche Institutionen gibt. Was können moderne Gesellschaften von ihnen lernen?
Der Autor veranschaulicht dies anhand von unterschiedlichen Themenbereichen: Zunächst geht es um den Umgang mit Fremden und Händlern, wobei die hohe Bedeutung „politisch-gesellschaftlicher Motive“ (S. 94) für Handelsbeziehungen hervorgehoben wird. Dem folgen Ausführungen zu Konflikten juristischer und kriegerischer Art. Für den erstgenannten Bereich verweist Diamond auf den konstruktiven Einfluss von Familienrichtern und Vermittlern, welcher auch für „unsere Staatsgesellschaften“ (S. 127) mehr Vorteile brächte. Fragen des Umgangs mit Alten und Kindern stehen danach im Fokus seines Interesses: Hierbei betont der Autor, dass „die individuelle Selbständigkeit – auch die von Kindern – als Ideal in Gruppen von Jägern und Sammlern höher geschätzt“ (S. 231) wird als in Staatsgesellschaften. Beim Umgang mit alten Menschen könnten aber unterschiedliche Praktiken ausgemacht werden, welche von der aktiven Einbindung ins soziale Leben bis zu deren Tötung als schwacher Teil der Gesellschaft reichten.
Bezogen auf die richtige Ernährung, die eben in traditionellen Sozialordnungen im Verzicht auf Salz und Zucker bestehe, könne man ebenso gut von traditionellen Gesellschaften lernen. Bilanzierend bemerkt der Autor: „Zu den häufigsten und wichtigsten Beobachtungen gehören die lebenslangen zwischenmenschlichen Bindungen. Einsamkeit stellt in traditionellen Gesellschaften kein Problem dar ... In den bevölkerungsreichen Industriegesellschaften dagegen ist die Gefahr der Einsamkeit ein chronisches Problem“ (S. 524).
Diamond verschweigt indessen nicht die Schattenseiten der Stammesstrukturen, wofür die kritischen Hinweise an die Aussetzung älterer Menschen, die Brutalität der Kriegsführung oder der Mord an Säuglingen stehen. Gleichwohl könne man eben das Studium solcher Gesellschaften auch zur Anregung für die Verbesserung der heutigen Gesellschaften nutzen. Derartige Ideen beziehen sich von den Ernährungsgewohnheiten von Menschen über die Mehrsprachigkeit von Kindern bis zur Vermittlung bei juristischen Konflikten.
Demnach verfällt Diamond entgegen eines falschen und oberflächlichen Eindrucks nicht in eine Romantisierung traditioneller Gesellschaften, die als von Natur aus „gut“ beschrieben werden. Er macht sowohl auf die negativen wie die positiven Seiten von deren Sozialordnung aufmerksam. Hierfür stehen auch die abschließenden Ausführungen zu den Vorteilen der modernen und der traditionellen Welt, verbunden mit der Rückfrage nach den „Lernpotentialen“ in der Letztgenannten.
Der Autor differenziert ebenso bezogen auf die Umsetzung von Erkenntnissen, einerseits hinsichtlich der gesellschaftlichen, andererseits hinsichtlich der individuellen Ebene. Insofern kann man ihm weder Naivität noch Zivilisationsfeindlichkeit unterstellen. Problematisch ist sicherlich der indirekt vertretene Anspruch, eine Art allgemeingültiges Bild traditioneller Gesellschaften anhand von nur wenigen Fallbeispielen zu zeichnen. Gleichwohl genügen die darauf bezogenen Schilderungen für die Anregung zu wichtigen Lern- und Reflexionsprozessen.
Armin Pfahl-Traughber
Jared Diamond, Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, Frankfurt/M. 2012 (S. Fischer-Verlag), 586 S., 24,99 €.