Kinder sind nicht die Leibeigenen der Eltern

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Podium / Fotos: Julia von Staden

STUTTGART. (hpd) Im Humanistischen Zentrum der Humanisten Württemberg hatten sich ein religionskritischer Philosoph, ein Islamwissenschaftler und ein Kinderarzt zur Debatte über die Beschneidung von Knaben zusammengesetzt. Jüdische und evangelische Vertreter hatten sich der Debatte verweigert.

Mit dem Urteil zur Strafbarkeit religiöser Beschneidungen von Jungen vom 7. Mai dieses Jahres, hat das Kölner Landgericht eine Jahrzehnte lang tolerierte und kaum diskutierte religiöse Handlung in Frage gestellt. Nach Auffassung des Landgerichts wird das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen höher gewertet, als das Recht der Eltern auf freie Religionsausübung. Daraufhin folgte eine heftige öffentliche Debatte. Anfang Oktober verständigte sich die Bundesregierung auf einen Gesetzentwurf: Der Eingriff bei Jungen soll weiter straffrei bleiben, Eltern müssten sich jedoch künftig über die Risiken aufklären lassen. Dass damit die Debatte nicht geklärt ist, zeigte die Diskussionsveranstaltung am 28. November, zu der die Humanisten Württemberg eingeladen hatten.

Auf dem Podium diskutierten der Islamwissenschaftler Hussein Hamdan aus Tübingen, der Theologe und Philosoph Dr. Dr. Joachim Kahl und der Vorstand des Verbands der Kinder- und Jugendärzte Dr. Christoph Kupferschmid. Die Gesprächsleitung hatte Andreas Henschel, Geschäftsführer der Humanisten Württemberg.

Schon im Vorfeld der Veranstaltung zeigte sich der schwierige Umgang mit dem Thema der religiösen Beschneidung von Jungen. Drei Wochen vor der Veranstaltung erklärte der Vertreter der jüdischen Gemeinde Württemberg seine Absage und ein Stellvertreter konnte nicht gefunden werden. Darauf erklärte auch der christliche Vertreter von der Evangelischen Kirche, dass er an der Diskussion nicht teilnehmen könne. Dennoch sorgten die verschiedenen Positionen der Podiumsteilnehmer für eine hitzige Debatte.

„Kinder sind nicht die Leibeigenen der Eltern“

Der Religionskritiker Joachim Kahl stellte zu Beginn der Diskussion seine Thesen zum Urteil vom 7. Mai vor, welches er als „wichtigen Schritt auf dem Weg zur Vertiefung des säkularen Rechtsstaats“ bezeichnete. Für seine religionskritische Position fand Kahl  eindeutige Worte: Kinder seien nicht die „Leibeigenen“ ihrer Eltern. Seine Kritik beschränkte Kahl im Weiteren nicht nur auf die Beschneidung von Jungen, sondern sprach sich zudem gegen die Taufe von Säuglingen und Kleinkindern aus.

Die Initiationsriten der drei abrahamitischen Religionen, Taufe und Beschneidung, bezeichnete Kahl als „archaische Relikte der Zwangsmissionierung“. In seiner Argumentation berief sich Kahl auf Artikel 140, Absatz 4 des Grundgesetzes: „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.“ Kahl verwehrte sich des Vorwurfs eurozentristischer Respektlosigkeit gegenüber alten Traditionen und erinnerte als Beispiel an das Verbot der Witwenverbrennung 1829 durch die britische Kolonialmacht in Indien. Seine radikale Religionskritik verdeutlichte Kahl im Laufe der von ihm leidenschaftlich geführten Diskussion, indem er selbst die Pilgerreise nach Mekka als „Unfug“ bezeichnete. Die Beschneidung bei Jungen verdeutliche für Kahl den sogenannten Clash of Civilizations nach Samuel Huntington und forderte hier eine „Kulturevolution von oben“.

„Wichtig: Dialog auf Augenhöhe“

Weitaus distanzierter bei dieser Diskussion trat der Islamwissenschaftler Hussein Hamdan auf, der sich besonders im christlich-islamischen Dialog engagiert und zu diesem Thema in Tübingen promoviert.

Die Beschneidung bei Jungen sei im Islam, so Hamdan, genauso verpflichtend wie im Judentum, aber die Bedeutung sei eine andere. Denn aus islamischer Sicht handelte es sich hier um ein Ritual der Reinheit und nicht, wie im Judentum, um eine identitätsstiftende religiöse Handlung. Es handelte sich bei der Beschneidung von Jungen also um keine Einführung in den Islam. Zudem betonte Hamdan die Unterschiede innerhalb des islamischen Glaubensgebietes. So sei es in der Türkei üblich, die Beschneidung zwischen dem siebten und neunten Lebensjahr eines Jungen durchzuführen – verbunden mit einem größeren Fest. Arabische Muslime führten die Beschneidung der Jungen schon kurz nach der Geburt durch. So gibt es dann auch in Deutschland einen je nach Herkunftsland unterschiedlichen Ausführung der religiösen Beschneidung von islamischen Jungen. Die Art und Weise, wie die Diskussion in den letzten Monaten geführt wurde, empfand Hamdan selbst als schwierig und betonte Hamdan, wie wichtig es sei, einen respektvollen Ton zu finden, um einen Dialog auf Augenhöhe zu führen.

Rückblickend sei die Debatte um das Urteil für zwei Aspekte besonders wichtig gewesen: Erstens mussten sich dadurch Muslime und Juden intensiv mit dem Sinn der Beschneidung von Jungen befassen. Und zweitens hätten Muslime und Juden in Deutschland so eine Gemeinsamkeit entdeckt, die zwar selbstverständlich nicht den Konflikt im Nahen Osten lösen könne, aber ein wichtiger Schritt im Dialog zwischen beiden sei. Er bedauere es sehr, dass kein Vertreter des jüdischen Glaubens anwesend sei, denn seiner Einschätzung nach sei mit einem Beschneidungsverbot jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich.

„Der derzeitige Gesetzentwurf ist zu weit gefasst“

Aspekte der jüdischen Identität griff der Kinder- und Jugendarzt Dr. Christoph Kupferschmid gleich zu Beginn seines Statements auf. In Gesprächen mit jüdischen Eltern erfuhr er, dass sie eine Beschneidung ihrer Söhne nicht durchführen würden, sollte sich herausstellen, dass es ihnen schade. Dies zeige, so Kupferschmid, dass die Beschneidung für diese jüdischen Eltern eben nicht unabdinglich identitätsstiftend sei.

Dann ging er auf die medizinischen Aspekte der Beschneidung von Jungen ein. Zunächst konstatierte Kupferschmid, dass jeder medizinische Eingriff nur dann straffrei sei, wenn es eine medizinische Indikation dafür gebe. Dennoch kämen zu ihm viele Eltern, die ohne medizinische Begründung von ihm eine Überweisung zum Kinderchirurgen haben wollten. Kein Wunder, denn die Kosten für eine Beschneidung liegen bei etwa 500 Euro. Besonders in den USA floriere das „Beschneidungsgeschäft“.

Kupferschmid bemängelte, dass ein minimaler medizinischer Nutzen von Beschneidung nur durch Daten aus dem subsaharischen Afrika belegt werden könne. Demgegenüber stünde ein Risiko in unbekannter Höhe. Es wurden bisher einfach keine Daten hierzu gesammelt und ausgewertet. Auch im Bereich der Traumaforschung gebe es allen Grund dazu, das Wissen zu erweitern. Denn oft würden Säuglinge bei der Beschneidung nicht ausreichend betäubt, obgleich das vorhandene Schmerzempfinden sogar schon bei Föten im Mutterleib nachzuweisen sei. Kupferschmid kritisierte den derzeitigen Gesetzentwurf als zu weit gefasst, denn dieser ermögliche die straffreie Beschneidung auch bei sogenannten Lifestyle-Indikationen.

Kupferschmid bemängelte, dass der Gesetzentwurf so schnell formuliert wurde, denn ein Dialog zwischen den Kirchen und anderen Religionsvertretern sowie den Ärzten über zwei Jahre wäre für einen ausgewogenen Entwurf besser gewesen. Eine entsprechende Petition an der sich unter anderem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie die Humanisten Württemberg beteiligten, hatte nicht die nötigen 50.000 Unterzeichnungen erreicht. Wichtig sei der gesamtgesellschaftliche Diskurs zu diesem Thema. Denn es sei sicher ein schmerzhafter Akt, wenn sich die rechtliche Grundlage maßgeblich verändert würde für etwas, das so lange stillschweigend von uns toleriert wurde.

Das gut informierte Publikum im Humanistischen Zentrum Stuttgart beteiligte sich hoch motiviert an der Diskussion. Dass sich zukünftig auch die Vertreter der christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaft nicht entziehen, bleibt wünschenswert. „Dieser Abend,“ so Andreas Henschel, „soll den Dialog der letzten Monate weiterführen und mehr Verständnis füreinander bringen. Unser gemeinsames Ziel ist es, eine bessere Lösung, als den derzeitigen Gesetzentwurf zu finden.“ Der Abend war ein Schritt in diese Richtung.

Julia von Staden