Weihnachtsgeschichte wie aus der Koranschule

(hpd) Pünktlich vor Weihnachten hat Benedikt XVI. den dritten Band seiner Jesus-Trilogie mit den Geburts- und Kindheitsgeschichten Jesu vorgelegt. Nirgendwo wird deutlicher, wie weit sich das Oberhaupt der katholischen Kirche schon von einer seriösen Forschung verabschiedet hat. Offenbar ist katholischer Glaube anders nicht mehr möglich.

Eine Rezension von Heinz-Werner Kubitza

Joseph Ratzinger ist zwar Oberhaupt einer nicht gerade wissenschaftsfreundlichen Religion, will aber nach eigenem Anspruch (siehe Band 1 seiner Jesus-Trilogie) nicht auf den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verzichten. Für Katholiken gibt es traditionell und in Ratzingers  Verständnis im Besonderen keinen Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft (im Islam gibt es übrigens einen solchen Widerspruch auch nicht). Er bekennt sich zum „Ernst der historischen Suche“ und möchte „mit den Texten in Dialog“ treten, signiert sein Buch aber auf der gleichen Seite „am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel“ (S. 9).

Was Ratzinger nach diesem Marienbekenntnis liefert, hat mit einem Ernstnehmen der wissenschaftlichen Forschung aber nicht mehr das Geringste zu tun. Ratzinger argumentiert mit Ergebnissen der Forschung nur dort, wo sie ihm ins dogmatische Konzept passen. Wo dies nicht der Fall ist, ignoriert er sie und bringt fromme Blumigkeit.

Gerade die Geburts- und Kindheitsgeschichten Jesu gelten in der neutestamentlichen Forschung als reine Legenden aus später Zeit. Um es etwas zugespitzt zu sagen: Daran ist nichts wahr. Doch für Ratzinger gilt: Daran ist alles wahr. Die ältesten Überlieferungen kannten Markus, in der Redenquelle Q und bei Paulus kannten keine Kindheitsgeschichten. Lukas und Matthäus haben offenbar umlaufende Legenden aus unterschiedlichen Quellen gesammelt, wenn nicht sogar selbst erfunden, auf alle Fälle jedoch das Vorgefundene redaktionell bearbeitet und ihren Evangelien vorangestellt. Theologisch stellen sie für die Forschung ein spätes Stadium der Überlieferung dar.

Doch Ratzinger meint nun allen Ernstes, Maria, die Mutter Jesu, als Quelle für Lukas und Matthäus reklamieren zu können. Maria habe all diese Legenden erzählt. Ratzinger selbst sagt, dass diese seine Sicht die „moderne kritische Exegese“ als „einfältig“ ansehen würde (28). Da hat er in der Tat das richtige Wort gefunden. Und da haben wir, ebenfalls aus den Evangelien, andere Nachrichten. Demnach gehörte die Jesusfamilie anfangs nicht zu seinen Anhängern. In einer bekannten Stelle hält sie Jesus sogar für verrückt und will ihn mit Gewalt zurückholen (Mk 3, 21). Maria kommt in den ältesten Schichten der Überlieferung eher schlecht weg. Erst nach Jesu Tod gehörten sie und weitere Angehörige Jesu offenbar zur jüdischen Sekte, aus der dann das Christentum erwuchs. Und selbst bei Matthäus und Lukas stehen die Geburtsgeschichten isoliert, es wird darauf später kein Bezug mehr genommen. Ratzinger aber erklärt das späte Auftreten dieser Legenden „aus der Diskretion der Mutter und der Kreise um sie“(28).

Gegen alle Ergebnisse der Forschung sind es für ihn keine Legenden, sondern Historie. „Matthäus und Lukas wollten in ihrer je eigenen Art nicht „Geschichten“ erzählen, sondern Geschichte schreiben, wirkliche, geschehene Geschichte“ (29). „Die Erzählungen bei Matthäus und Lukas sind nicht weiterentwickelte Mythen.“ (61) Lukas habe sich, „wie er im Vorwort des Evangeliums sagt, entschlossen, „allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen“ (73). Damit steht der Papst quer zur exegetischen Forschung und weiß dies auch. Er selbst räumt ein, dass „inzwischen auch durchaus kirchlich gesinnte Exegeten wie Ernst Nellessen oder Rudolf Pesch gegen die Historizität“ stehen oder sie zumindest offen lassen (126). Der Hinweis von Lukas, allem sorgfältig nachzugehen, wird von Exegeten mit Recht nicht ganz ernst genommen, denn man weiß, dass Lukas Quellen verwendet (Mk+Q+Sondergut) und seine Arbeit eine Schreibtischarbeit war.

Natürlich ist Maria für Ratzinger Jungfrau gewesen. Zwar benennt er selbst einige antike Parallelen (eine jungfräuliche Geburt wurde in der Antike von vielen bedeutenden Männern und Halbgöttern behauptet, war geradezu ein literarischer Topos), doch: „Bei sorgsamer Lektüre ist offenkundig, dass weder im einen noch im anderen Fall wirkliche Parallelen zur Erzählung von der jungfräulichen Geburt Jesu vorliegen.“(61) Weil natürlich alle Parallelen immer irgendwie anders gelagert sind, ja gelagert sein müssen, meint Ratzinger hier klar erkennbare Legenden in die geschehene Geschichte hinüberretten zu können.

So einfach würde es sich kein Religionswissenschaftler machen, aber Ratzinger ist eben weniger Wissenschaftler als Chefdogmatiker. Der Dogmatik wird alles untergeordnet, auch begründete Einwände von Theologen. Und dazu, dass die Jungfräulichkeit Mariens sich auf einen Übersetzungsfehler zurückführen lässt, sagt Ratzinger nichts. In (fast) jedem Kommentar zur Stelle kann man nachlesen, dass Matthäus beim Zitat seiner Stelle „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger (Jes 7, 14) die Septuaginta (LXX) zitiert, die griechische Übersetzung des AT. Dort wurde das Wort „Almah“ für „junge Frau“ fälschlicherweise mit „parthenos“=Jungfrau wiedergegeben. Mit keinem Wort geht Ratzinger darauf ein, obwohl er diesen gravierenden Einwand natürlich kennt. Er verschweigt ihn mit voller Absicht. Stattdessen kommt ein Bekenntnis: „Ist es also wahr, was wir im Credo sagen: „Ich glaube … an… geboren von der Jungfrau Maria“? Die Antwort lautet ohne Einschränkung: Ja.“ (64)

Und er bezeichnet die Jungfrauengeburt mit der „wirkliche[n] Auferstehung aus dem Grab“ sogar als „Prüfsteine des Glaubens“ (65), und lässt damit sogar moderneren Katholiken keine Fluchtmöglichkeit. Der Verstand muss gekreuzigt werden, sonst ist für ihn offenbar kein Glaube möglich. Doch für Ratzinger „geht es [hier] nicht um Unvernünftiges und Widersprüchliches“ (65). Man muss schon ein exegetisch völlig verbohrter Katholik sein, um Ratzinger hier zu folgen. Doch bei einer weltweiten Verbreitung des katholischen Aberglaubens bei über einer Milliarde Menschen, gibt es davon mehr als genug. Im Vatikan gilt solche Verstocktheit gar als Tugend.

Auch die an Weihnachten gern gepredigte Geburtsgeschichte bei Lukas ist für ihn Historie. Magier aus dem Osten, Stern von Bethlehem, Gold, Weihrauch und Myrrhe, ein geradezu inflationärer Engelstourismus mit Weissagungen und Traumerlebnissen: Alles was ein antiker Mensch sich von einer schönen Legende erwartet, wird von Ratzinger im 21. Jahrhundert als verlässlich und vertrauenswürdig angesehen. Selbst die Volkszählung, die es so nie gegeben hat und deren Erwähnung bei Lukas schlicht auf einem Missverständnis eines 80 Jahre alten Geschehens beruhte, wird vom Papst als historisch erfunden. Warum Joseph mit seiner Gattin denn überhaupt wegen einer Volkszählung ihren Heimatort Nazareth verlassen musste, das funktioniert doch heute völlig anders? Ratzinger weiß die Antwort: Weil sie dort Grundbesitz hatten! „Demgemäß dürfen wir annehmen, dass Josef aus dem Hause David in Bethlehem über Grundbesitz verfügte, so dass er zur Steuererhebung dorthin gehen musste.“ (73) Ratzinger fällt es dabei nicht auf, dass er selbst in seinem Buch nur ein paar Seiten weiter betont, dass die Eltern im Tempel nur das Armenopfer darbringen können. Eben hat er noch den Immobilienbesitz bemüht, plötzlich liegt Ratzinger sehr daran festzustellen, das Lukas „uns noch einmal unmissverständlich wissen [lässt], dass die Familie Jesu zu den Armen Israels zählte…“ (89).

Der Papst biegt sich die Texte so zurecht, wie er sie braucht, sieht die Geschichten so lange gläubig an, bis unten die katholische Dogmatik herauspurzelt. Zweinaturenlehre, Trinität, all die viel späteren Erfindungen einer in Schwärmerei geratenen Dogmatik verhaftet der Papst in allem, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Die permanente Überinterpretation, das ständige Suchen und Finden angeblicher Parallelen in anderen biblischen Schriften machen das Buch (neben den historischen Phantastereien) so unseriös. Weil das Wort „Myrrhe“ in der Geburtsgeschichte vorkommt, aber auch im Johannesevangelium bei der Passion erwähnt wird (also ganz woanders) „rückt durch die Myrrhe das Geheimnis des Kreuzes wiederum mit dem Königtum Jesu zusammen und kündigt sich geheimnisvoll schon in der Huldigung der Weisen an.“ (115)

Oder die angebliche Flucht der Familie Jesu nach Ägypten, die von der Forschung lediglich als Vorlage dafür angesehen wird, damit der Evangelist wieder ein AT-Zitat anbringen kann („Aus Ägypten rief ich meinen Sohn“); Ratzinger macht daraus einen zweiten Exodus und aus dem kleinen Säugling einen zweiten Mose: „Mit der Flucht nach Ägypten und mit seiner Heimkehr ins Gelobte Land schenkt Jesus den endgültigen Exodus.“ (119) Aus den wenigen und dürren Worten zu Joseph entwickelt Ratzinger ausgedehnte Charakterstudien. In den (unhistorischen) Weisen sieht er „die Bewegung der Völker zu Christus“ (108). Ja selbst im Gruß des Engels, dem griechischen Chaire (Sei gegrüßt) „öffnet sich … die Tür zu den Völkern der Welt hin; es deutet sich die Universalität der christlichen Botschaft an.“ (38)

Wir wollen mal hoffen, dass Maria den griechisch sprechenden Engel auch verstanden hat (bei Gott ist ja nichts unmöglich). Ratzingers Buch ist voll solcher an den Haaren herbeigezogener Bezüge, Vergleiche, Wortassoziationen, Übertreibungen. Ein Theologiestudent dürfte sich solche Phantasierundflüge jedenfalls nicht erlauben, ohne vom Professor gerügt zu werden.

„Zur rechten Auslegung gehört gerade die Demut“, meint Ratzinger (133). Er selbst zeigt von dieser Tugend (wenn sie denn überhaupt eine ist) bei seinen Auslegungen nur wenig. Sonst wäre er vorsichtiger mit seinen Behauptungen der Historizität von Legenden. Und es ist auch ein Armutszeugnis, dass ein Mann von der geistigen Kapazität wie Ratzinger so unhistorisch, so unwissenschaftlich, so einseitig dogmatikorientiert argumentiert. Natürlich ist er Exponent seiner Kirche und versucht sie zusammen zu halten, was er wohl nur durch die Flucht ins Irrationale und abseits der Wissenschaft für möglich hält.

Wenn er das selbst glaubt, was er hier schreibt (und das müssen wir wohl annehmen, wenn wir ihn als Autor ernst nehmen wollen), dann ist dies ein Zeichen dafür, was religiöser Aberglaube auch aus an sich sehr intelligenten Menschen machen kann. Dann muss man hier einen religiös bedingten, zumindest partiellen Realitätsverlust feststellen. Die Konsequenzen seiner Historisierung von Legenden sollten ihm doch klar sein. Denn wenn er die Latte der historischen Kritik so niedrig legt, wie er es hier in seinen Jesusbüchern tut, dann ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Legenden des Koran, des Buddhismus, anderer Religionen oder der Esoterik, warum diese dann nicht auch wahr und historisch sein sollten. Viele der absurden Geschichten des Koran und der muslimischen Überlieferung über Mohammed sind doch nicht halb so absurd wie diese, die uns Ratzinger hier als Historie präsentiert.

Und das ist es abschließend, was mich beim Lesen gestört hat: Ständig das Gefühl zu haben, dass in der Weise, wie Ratzinger sich hier über Jesus und Maria verbreitet, sich auch ein Moslem genau so über Mohammed verbreiten könnte, mit denselben historischen Unzulänglichkeiten, dem bewussten Verschweigen von Fakten, denselben frommen Phantastereien, mit den gleichen von Überzeugung vorgetragenen weihrauchschwangeren Vernebelungsaktionen und mit der gleichen frömmigkeitskompatiblen Sprache. Solche Bücher wie die Jesusbücher des Papstes ziehen die an sich seriöse neutestamentliche Forschung auf das Niveau von Bibel- oder Koranschulen herunter. Offenbar ist gläubiger Katholizismus nicht mehr anders möglich.

Dr. Heinz-Werner Kubitza hat evangelische Theologie studiert und ist Verlagsleiter des Tectum Wissenschaftsverlags. Er ist Autor der Bücher „Der Jesuswahn. Wie die Christen sich ihren Gott erschufen“ und „Verführte Jugend“.