Eine Form von Kannibalismus

Ein Zwischenruf von Gerd Lüdemann.

Armin Meiwes, der einen Ingenieur aus Berlin

mit dessen Einverständnis entmannte, tötete und zum Teil aß, kennt die Öffentlichkeit als Kannibalen von Rotenburg. Die juristische Seite seines Falles ist immer noch nicht abgeschlossen und beschäftigt gegenwärtig die obersten Verfassungsrichter. Zugleich wirft seine Tat Licht auf Grundmuster archaischen Verhaltens.

Phantasien, einen anderen Menschen zu essen, kennen wir aus der Sprache der Liebe („ich könnte dich fressen") und aus Riten verschiedenster Religionen, nicht zuletzt des Christentums: Seit Urbeginn meinten die Christen, beim Abendmahl den Leib Jesu zu verspeisen und sein Blut zu trinken. Ihrem Glauben zufolge gab Jesus am Kreuz seinen Leib für die Menschen und vergoss sein Blut für deren Heil; Christen erhalten durch Einverleibung dieser beiden göttlichen Substanzen Anteil an der Herrlichkeit des nach drei Tagen auferweckten Gottessohnes.

In der ältesten Kirche entwickelte sich die Kulterzählung von Karfreitag und Ostern, vereinfacht dargestellt, in zwei Richtungen. Zum einen rückte die Kreuzigung Jesu ins Zentrum. Geradezu blutrünstig kultivierten Christen Schmerz und Leiden in der Sehnsucht nach dem Martyrium. Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts trieb dieses Verlangen bei Bischof Ignatius von Antiochien eine wunderliche Blüte, denn er will als Gottes Weizen „durch die Zähne wilder Tiere gemahlen werden, damit (er) als reines Brot Christi gefunden werde". Zum anderen verdrängte die Herrlichkeit der Auferstehung Jesu die Passion fast vollständig. Jesu Erhöhung an das Kreuz wurde als direkte Erhöhung zu Gott aufgefasst mit der Konsequenz, dass die Gläubigen auf der Erde ebenso wie ihr „Herr" jeglichem Leiden enthoben waren.

Obwohl Jesus selbst und den allerersten Jüngern, die aus dem Judentum kamen, der Blutgenuss ein Gräuel gewesen wäre, fanden symbolische Deutungen des Abendmahls unter den meisten Gläubigen keine Mehrheiten. Vielmehr hielten Führer und Anhänger der sich rasant ausbreitenden Kirche die reale Gegenwart des Leibes und des Blutes Jesu im Abendmahl von Anfang an für heilsnotwendig, weil nur so die ewige Seligkeit gewährleistet war - durch das Essen von Jesu Fleisch und durch das Trinken seines Blutes.

An diesem abscheulichen Ritus beteiligen sich jeden Sonntagmorgen auch in Deutschland einige Millionen Menschen in Gottesdiensten beider großen Kirchen, deren Funktionäre unserer Gesellschaft Werte vermitteln wollen.

Der diesjährige Höhepunkt des blutigen Geschäfts ist wieder Karfreitag. Krude Sühnevorstellungen verseuchen dann schutzlose Kinderseelen und versetzen das christlichen Fußvolk, das Halt bei der Mutter Kirche sucht, in Hypnose: „Jesu Leib für euch gegeben, Jesu Blut für euch vergossen." Priesterliche Zeremonienmeister, die sich mit einer Aura des Heiligen umgeben, überwachen die korrekte Durchführung des furchtbaren Opferzeremoniells, das die Gläubigen vor dem Höllenfeuer retten soll. Wie wichtig den kirchlichen Theologen dieser Ritus und seine rechtgläubige Interpretation sind, zeigt sich daran, dass es bis heute offiziell noch kein gemeinsames Abendmahl zwischen Katholiken und Protestanten gibt.

Die Stellung des christlichen Kultpersonals scheint in Deutschland unangreifbar zu sein und die längerfristigen finanziellen Garantien des Staates für die großen Kirchen auch. Seit „wir sind Papst" zu einem geflügelten Wort wurde, sind für den Staat die Kirchen noch wichtiger geworden. Deren Hirten werden für unbegrenzte Zeit weiter dafür sorgen, dass Jesus auch fortan gegessen und getrunken werden kann. Der nicht sehr appetitliche Fall des Menschenfressers Armin Meiwes zeigt indes, worum es beim Abendmahl geht: um eine Form von Kannibalismus. Écrasez l'infâme!