"Pius XII. war ein Feigling"

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Dirk Verhofstadt (Foto: privat)

(hpd) Er war der „Vater“ des Reichskonkordats und während des Zweiten Weltkrieges wahrte er die Neutralität des Vatikan – auch als bekannt war, dass in Osteuropa unvorstellbare Kriegsverbrechen begangen wurden und die Juden systematisch ermordet wurden. Trotzdem hat er in der katholischen Kirche viele Fürsprecher: Papst Pius XII.

In seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch untersucht Dirk Verhofstadt, ob der Papst tatsächlich zur Vernichtung der europäischen Juden geschwiegen hat, ob er moralisch versagt oder das ihm Mögliche getan hat. Anhand der vorliegenden Dokumente arbeitet er die Politik des Vatikan im Zeitalter des Faschismus heraus und betrachtet insbesondere das Verhältnis zu Hitlers Verbündeten. Sein Fazit fällt für Pius XII. wenig schmeichelhaft aus. hpd sprach mit dem Autor über die Quellenlage, kirchlichen Antijudaismus und die Vorgeschichte des Reichskonkordats. Übersetzt wurde das Werk übrigens von dem im Juni verstorbenen hpd-Redakteur Rudy Mondelaers.
 

Herr Verhofstadt, welche Quellen sind von Bedeutung, um die Rolle von Papst Pius XII. in Bezug auf die Vernichtung der europäischen Juden bewerten zu können?

Es gibt unterschiedliche Quellen, die uns Informationen liefern. Zum Beispiel gibt es eine Menge von Aussagen von Nazi- und Kirchenführern, Zeitungsausschnitte, historische Dokumente, Unterlagen aus verschiedenen Archiven, Fotografien, persönliche Briefe oder Tagebücher. Aber die wichtigste Quelle sind die Actes et Documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale (Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls bezüglich des Zweiten Weltkriegs). Diese Actes et Documents sind 1964 auf Ersuchen von Papst Paul VI. durch eine Gruppe von Jesuiten zusammengestellt und zwischen 1965 und 1981 veröffentlicht worden. Sie enthalten Briefe und Telegramme, die von kirchlichen und weltlichen Führern in den Vatikan geschickt wurden, sowie die Antworten aus dem Vatikan. Sie wurden in 11 Bänden gesammelt, die rund 8.000 Seiten umfassen. Diese werden allgemein als die bisher umfassendste Dokumentation der Ereignisse und als unstrittige Dokumente, die kein Historiker ignorieren kann, angesehen – obgleich sie nicht vollständig sind, sondern das Ergebnis einer bewussten Auswahl im Auftrag der damaligen Kirchenführung.
 

Reicht das vorliegende Material aus, um zu einem belastbaren Urteil zu kommen, oder warten wir auf die Freigabe vatikanischer Geheimdokumente?

Ich denke, es reicht aus. Trotzdem fehlen in den Actes et Documentes wichtige Dokumente. So vermissen wir einen Teil der Korrespondenz des Berliner Bischofs Konrad Preysing mit Pius XII., die Papiere des umstrittenen österreichischen Bischofs Alois Hudal (die jetzt zur Einsicht bereitliegen bei der Pontificio Santa Maria dell’Anima in Rom) sowie fast alle Dokumente über die Ereignisse in Osteuropa, mit Ausnahme von Polen und den baltischen Staaten. Das ergibt sich auch aus den vielen Hinweisen in den Texten auf Augenzeugenberichte, Briefe und Kommentare, die nicht in der Sammlung enthalten sind.

Also, die Actes et Documents sind sehr wichtig, aber sie sind offensichtlich nur eine Auswahl. Weshalb werden die anderen Dokumente nicht freigegeben? Hat die Kirche etwas zu verbergen? Die wohl- oder auch nicht bewusste Zurückhaltung des Vatikans, seine Archive aus der Kriegszeit vollständig zu öffnen und für unabhängige Forscher zugänglich zu machen, untermauert nur die Annahme, dass es Dinge gibt, die das Bild der Kirche beschädigen könnten und die deshalb nicht ans Tageslicht kommen dürfen. Die Kirche muss erkennen, dass durch diese Haltung die Beschuldigungen gegen sie und ihre Vertreter eher zu- als abnehmen werden. Nur eine vollständige Offenlegung kann erreichen, dass nicht nur die Wahrheit ans Licht kommt, sondern dass auch der notwendige Prozess der Reue, Vergebung und Wiederherstellung ihrer moralischen Autorität eine Erfolgschance bekommt.
 

An welchen grundlegenden politischen Zielen orientierte sich die Politik des Vatikans in der Zeit nach 1918?

Da war zunächst seine Furcht vor dem Kommunismus und dessen erfolgreicher Verbreitung in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa. Pius XI. (und auch Pacelli) zeigte stets mehr Sympathie für „katholische Staaten unter strenger Führung“, wie den spanischen katholisch-korporatistischen Staat, und betrachtete die demokratischen Ideale wie Freiheit, Unabhängigkeit und Eigeninitiative als Krankheiten, von denen der „schwächliche Körper des Christentums geheilt werden muss“. Nach dem dramatischen Ende des Ersten Weltkrieges, als sowohl Deutschland als auch die österreichisch-ungarische Monarchie mit ihrer starken katholischen Präsenz in Trümmern lagen und die „rote Gefahr“ aus dem Osten herankam, entschied sich der Vatikan resolut für totalitäre Systeme, welche die Interessen der Kirche schützen sollten. Daher die Konkordate mit Mussolini und später mit Hitler.
 

Wie lässt sich das Verhältnis der katholischen Machtzentrale zu den faschistischen Bewegungen beschreiben?

Als ein „Pakt mit dem Teufel“. In Deutschland waren zu Zeiten der Weimarer Republik schon Konkordate mit Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) abgeschlossen worden. Nach der Machtübernahme der „Nazis“ wurden die Rechte der Länder beschnitten, sodass der Vatikan auf einen Vertrag mit dem Reich hinarbeitete.

Mit dem Reichskanzler Heinrich Brüning war es Pacelli, damals Staatssekretär im Vatikan, nicht gelungen, ein Konkordat auf Reichsebene abzuschließen, obwohl dieser ein prominentes Mitglied der katholischen Zentrumspartei war. Am 8. August 1931 hatte es in Rom ein Gespräch zwischen Pacelli und Brüning gegeben. Pacelli verlangte von Brüning, ein Konkordat abzuschließen, mit dem die Interessen der katholischen Kirche, vor allem im Bereich der Bildung, gewährleistet werden sollten – eine Forderung, die Brüning ablehnte, da er wusste, dass seine Koalitionspartner einem solchen Vertrag nicht zustimmen würden. Pacelli riet dem Kanzler darauf, nicht länger mit den Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten, sondern mit Hitlers NSDAP. Brüning antwortete, dass Pacelli die Situation in Deutschland und vor allem die wahre Natur der „Nazis“ völlig falsch einschätze. In diesem Moment warf der Vatikan das Ruder herum und beschloss, die Zentrumspartei aufzugeben, um eine Einigung mit Hitler zu ermöglichen. Pacelli fand das offenbar akzeptabler als die Wechselhaftigkeit einer Weimarer Republik, die in die Hände der atheistischen Kommunisten, Sozialisten und Liberalen fallen könnte.

Der deutsche Historiker Gerhard Besier veröffentlichte 2004 sein Buch „Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland: Die Faszination des Totalitären“, in welchem er sich auf die Einstellung Pacellis zu Nazi-Deutschland konzentriert. Behandelt wird der gesamte Zeitraum zwischen 1917, dem Jahr seiner Ernennung zum Apostolischen Nuntius in München, bis 1939, als er zum Papst gewählt wurde. Besier verweist auf ein Treffen zwischen dem Vorsitzenden der Zentrumspartei Ludwig Kaas und Pacelli in Innsbruck am 26. September 1930, zwölf Tage nach der Reichstagswahl, die der NSDAP zu ihrem großen Durchbruch verhalf. Die deutschen Bischöfe wendeten sich damals noch gegen die braune Bewegung, aber Pacelli änderte in diesem historischen Augenblick seinen Kurs. „Angesichts der prekären Lage des Zentrums (...) nach den letzten Wahlen konnte der klärende Ratschlag von Pacelli einen entscheidenden Einfluss ausüben, und das in der Tat in Richtung der Akzeptanz von Beziehungen zu Hitler.“ (Quelle: Bericht der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl, den 30. September 1930, Ausgabe 229-A633, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Botschaft beim Heiligen Stuhl, Best. 29, vol. 1/Lfd., Nr. 441.)

Nach der Machtübernahme durch die Nazis kam es bald zu Kontakten, die den Abschluss eines Konkordats zum Ziel hatten. Die abschließenden Verhandlungen wurden durch den deutschen Rechtsexperten des Innenministeriums Rudolf Buttmann, die ehemaligen Führer der Zentrumspartei von Papen und Kaas, den Freiburger Bischof Conrad Gröber und den vatikanischen Staatssekretär Pacelli geführt. Es kam sehr schnell zu einer Einigung, der am 20. Juli 1933 die Unterzeichnung folgte.

Eugenio Pacelli wird im März 1939 Papst. Zu diesem Zeitpunkt waren die Lateranverträge und das Reichskonkordat abgeschlossen, im Spanischen Bürgerkrieg hatte sich die katholische Kirche vorbehaltlos auf die Seite Francos geschlagen – war Pacelli persönlich mit dieser politischen Ausrichtung einverstanden? Ja. Die vielen Kontakte zwischen Kaas, von Papen und Pacelli lassen vermuten, dass es einen konkreten Plan gab, die katholische Partei, und damit die bestehende Demokratie der Weimarer Republik, für eine Reihe von Vorteilen für die katholische Kirche zu opfern. Das ist auch die Meinung des katholischen Historikers Rudolf Morsey. „Kaas stand bereit, um das Zentrum aufzugeben und die ‘große nationalsozialistische Bewegung’ zu unterstützen“, schreibt er in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ im Jahr 1960.