Esoterik statt Beratung?

(hpd) Das „Handbuch der Beratung“, herausgegeben vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der TU Dresden, gilt als DAS Standardwerk professioneller Beratungsarbeit in der Schnittmenge von Pädagogik und Psychotherapie. Soeben ist unter dem Titel „Neue Beratungswelten“ Band 3 erschienen, zu dem Colin Goldner einen Beitrag verfasst hat, den er in gekürzter Form auch der hpd-Leserschaft vorstellt.


Esoterik, Spiritualität und Heilslehren statt Beratung?

Übersinnliches hat, wie immer, wenn es den Menschen „schlecht“ geht, Hochkonjunktur. Wie immer in Phasen gesellschaftlichen Umbruches, in denen tradierte Werte und Normen zunehmend Geltung verlieren und zugleich reale ökonomische Probleme unüberwindbar werden, tendieren viele zu regressiver Flucht in metaphysische Versprechungen und Heilslehren, die, hergeleitet vorgeblich aus „kosmischen“ oder „universellen“ Gesetzen, sich als ewig gültig und verläßlich darstellen. Und wie immer treten Geschäftemacher sonder Zahl auf den Plan, die die Verunsicherung und die Sorgen der Menschen für ihre Zwecke ausnützen, naheliegenderweise auch und gerade in der (psychologischen) Beratungsarbeit: an den Rändern der herkömmlichen, theoretisch fundierten und in langjähriger Praxis bewährten Beratung haben sich in den letzten Jahren ausgedehnte Graubereiche para- bzw. pseudowissenschaftlicher Hilfsangebote etabliert, die, basierend auf esoterisch-spirituellen Heilsvorstellungen, mit ernstzunehmender Beratungsarbeit so viel gemein haben wie Astrologie mit Astronomie: nämlich gar nichts. Längst haben die Ideen und Praktiken dieser Szene freilich auch Eingang gefunden in die professionelle Beratertätigkeit, die Grenzen zwischen seriöser Hilfestellung und unsinniger bzw. kontraproduktiver Quacksalbererei sind fließend geworden.

Nicht nur altbekannte Verfahren wie Hellsehen, Horoskopebeschau oder Tarotkartenlegen erleben einen seit Jahren anhaltenden Boom, selbst ursprünglich nur Insidern bekannte Namen und Begriffe wie I-Ging, Kabbala oder Runenmagie sind heute weiten Kreisen geläufig. Allen Ernstes wird unter dem Signet von „Beratungsarbeit“ die Aura Ratsuchender ausgependelt, Chakren werden gelesen, Bach-Blüten und Kristall-Essenzen verabfolgt. PSI- oder transpersonale KI-Kräfte werden beschworen, auch Kontakte zu Verstorbenen oder zu Schutzgeistern aus jenseitigen Sphären; gerne auch zu galaktischen Wesen, die in UFOs die Erde umkreisen oder von irgendwelchen Planeten aus ihre Botschaften senden. Germanische und keltische Vorstellungen tauchen da auf, daneben buddhistische, taoistische oder indianische: ein schier undurchdringliches Wirrwarr ideologischer, religiöser und kultureller Versatzstücke, das vielfach auch noch verquickt mit Elementen aus dem Fundus der etablierten Kirchen und Religionsgemeinschaften daherkommt.

Allein in der Bundesrepublik dürften nach vorsichtiger Schätzung zehn bis zwölf Millionen Menschen – Tendenz steigend – den Ideen und Praktiken der Esoterikszene aktiv zugeneigt sein (nicht gerechnet die Anhänger der etablierten Kirchen und Religionsgemeinschaften, deren Angebote sich insofern nur unwesentlich von dieser unterscheiden): als regelmäßige Leser einschlägiger Zeitschriften und Bücher, als Käufer esoterischen Zubehörs, als Teilnehmer an Seminaren, Workshops und sonstigen Veranstaltungen.

Die Zahl der Esoterikgläubigen und damit das Reservoir potentieller (Beratungs-)Kundschaft liegt indes noch weit höher: Wie eine Zusammenschau verschiedener Erhebungen der letzten Jahre (Forsa, Infratest dimap, TNS Emnid u.a.) zeigt, sind etwa  40% der Deutschen der Überzeugung, ihr Leben sei bestimmt oder jedenfalls durchzogen von übernatürlichen Wirkkräften. Jeder fünfte hält es für möglich, Kontakte zum Jenseits bzw. zu Toten herstellen, jeder siebte glaubt an Magie und Hexerei. Fast zwei Drittel aller Deutschen glauben an die Existenz von Schutzengeln, allerdings nur (noch) 27% an die eines leibhaftigen Teufels (mit abnehmender Tendenz). 40% glauben, bestimmte Menschen seien befähigt, durch Beschwören oder Handauflegen Krankheiten zu heilen und über 50% sind davon überzeugt, Methoden wie Ayurveda oder Bach-Blütentherapie böten eine echte Alternative zur Schulmedizin. Zwei von drei Bundesbürgern fürchten sich vor Erdstrahlen; jeder zweite glaubt an außerirdische Wesen, jeder dritte an UFOs. Mehr als 30% lesen regelmäßig ihr Horoskop, jeder zweite davon in der Überzeugung, dass die astrologischen Voraussagen auch (fast immer) einträfen; grundsätzlich halten 35% die Zukunft für vorhersagbar. Dem mit Abstand weitestverbreiteten paranormalen Überzeugungssystem, nämlich dem Glauben an die Wirkkraft des Mondes auf irdische Geschicke, hängen 92% der Deutschen an. An Gott, in verschiedensten Erscheinungsformen, glauben 62% (Goldner, 2010).

Hinzu kommt die schwer zu bestimmende Zahl der esoterischen Berater und Heilslehrer selbst, die haupt- oder nebenberuflich ihre Dienste anbieten; sie dürfte (zuzüglich entsprechender Dienstleister aus den etablierten Kirchen und Religionsgemeinschaften) inzwischen bei rund einer halben Million liegen. Der Umsatz der bundesdeutschen Esoterikszene (wiederum zuzüglich der entsprechenden Umsätze der etablierten Kirchen und Religionsgemeinschaften) liegt schätzungsweise zwischen 20 und 25 Milliarden Euro pro Jahr (ebd.).

(...) Esoterische Hilfsangebote hatten in den zurückliegenden Jahren immense Zuwachsraten zu verzeichnen. Es entwickelte sich ein gigantischer „Psycho-Supermarkt“, in dem heute ein kaum mehr übersehbares Sammelsurium an Verfahren und Techniken angeboten wird. Die Grenzen zur Psychotherapie sind fließend: Je nach Kenntnisstand und Vorliebe des einzelnen Beraters werden die jeweiligen Praktiken mit (in klinischem Gesamtkontext) durchaus brauchbaren Entspannungs-, Visualisierungs- oder Meditationsübungen angereichert, daneben auch mit Übungen aus atem- oder körpertherapeutischen Ansätzen. Vielfach werden auch Einzeltechniken aus Verfahren der behavioristischen, systemischen oder humanistisch-psychologischen Therapie herangezogen. Manch esoterisch-spiritueller Praktiker arbeitet zusätzlich mit (pseudo-)medizinischen Alternativheilverfahren wie Homöopathie, Akupunktur oder Reflexzonentherapie. Die Kombinationsmöglichkeiten sind unbegrenzt, unentwegt kommen irgendwelche „Neuerungen“ hinzu.

Die meisten der angebotenen Verfahren und Verfahrenskombinationen entbehren jedweder Plausibilität, geschweige denn ernstzunehmender Belege. Sie bewirken – über einen allemal möglichen Placeboeffekt hinausgehend – rein gar nichts. Abgesehen von finanzieller Übervorteilung des Rat- oder Hilfesuchenden besteht ihre Gefahr in erster Linie darin, dass der rechte Zeitpunkt zum Einsatz einer verfüglichen und wirksamen Hilfestellung versäumt wird. Einige der eingesetzten Verfahren bzw. Verfahrensfragmente, vor allem jene, die aus klinisch-therapeutischem Kontext herausgebrochen sind,  können allerdings auch fatale Folgen zeitigen. Vor allem in der Hand unzureichend qualifizierter Praktiker – die wenigsten Berater der Szene verfügen über eine seriöse Ausbildung, über eine klinische schon gar nicht  – können sie massive Probleme hervorrufen, bis hin zum Einbruch psychotischen Wahngeschehens. Dennoch ist der Zulauf in die esoterischen Beratungseinrichtungen ungebremst.

Neue Kundschaft wird über einschlägige Szeneblätter und Magazine geworben, daneben sind es vor allem Boulevardmedien und Regenbogenpresse, die in ihrer meist völlig unkritischen Darstellung esoterischer Praktiken  diesen als Werbeforen dienen. Auch über entsprechende Ratgeberliteratur wird ein breites Publikum angesprochen. Völlig unsinnige, teils aber auch psychodynamisch tiefgreifende und damit riskante Verfahren werden hier als „praktische Lebenshilfe“ vorgestellt. Ein nicht unerheblicher Teil esoterisch-spiritueller Verfahren wird auch an Volkshochschulen angeboten.

Es gibt keinen Überblick, wieviele esoterisch-spirituelle Beratungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum ihre Dienste anbieten. Nach vorsichtiger Schätzung dürfte die Zahl, einschließlich der Praktiker, die in einer Ecke des eigenen Wohnzimmers, vom Telephon aus oder über das Internet ordinieren, bei hundert- bis hundertzwanzigtausend liegen. Da sich esoterisches Gedankengut mittlerweile auch in einer Vielzahl ansonsten durchaus wissenschaftsverpflichteter ärztlicher und psychologischer Praxen, darüberhinaus in Schulen, öffentlichen Beratungsstellen und Behörden festgesetzt hat, liegt die Zahl der Einrichtungen, in denen para- oder pseudowissenschaftliche Methodik zur Anwendung kommt, tatsächlich noch bedeutend höher. Auch die Kirchen führen neben ihrem ureigenen Angebot spiritueller bzw. spiritistischer Seelsorge (mithin der Austreibung von Teufeln) zunehmend Praktiken der Esoterikszene im Sortiment.

Nur die wenigsten Praktiker, die auf dem Beratermarkt ihre Dienste anbieten, sind zur Ausübung seriöser Beratungstätigkeit befähigt. Da es das Berufsbild des Beraters in engergefasstem Sinne gar nicht gibt, bedarf es auch keiner Befugnis. Es existieren insofern keinerlei rechtlichen Bestimmungen, die die Tätigkeit eines Beraters reglementieren oder wenigstens eine Grundqualifikation dafür vorschreiben würden: Jedermann, egal ob mit oder ohne Eignung, Befähigung, Erfahrung oder Fachausbildung, kann sich nach Gutdünken selbst zum Berater graduieren und hinfort als solcher (gewerblich) tätig werden. Beratungsarbeit findet insofern in einem juridischen Freiraum statt: niemand stellt die Frage nach fachlicher Qualifikation, niemand überprüft die Praxisgepflogenheiten und niemand kann den Berater für falsche Ratschläge und Maßgaben zur Rechenschaft ziehen (sofern er sich an die für jedermann geltenden Gesetze hält).