(hpd) Erstmals gibt es einen wissenschaftlich hochrangigen, präzise beschreibenden, seriös informierenden und hochinformativen Nietzsche-Kommentar aus konsequent humanistischer, aufklärungs- und demokratiebejahender Perspektive. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Als nach 1945 im zunehmend Goldenen Westen die 1000jährige braune Herrschaft breitflächig wieder durch primär schwarze Dominanz ersetzt wurde, hielten viele Friedrich Nietzsche für einen Stichwortgeber der braunen Pest; andere hingegen favorisierten ihn als tabubrechenden und exemplarischen Geistesbefreier. Dabei ist es lange geblieben. So versuchten Letztere ihn gegen erhebliche Widerstände zumal in unseren Südstaaten an Kant oder Hegel anzuschließen, ihn philosophisch sowie akademisch hoffähig zu machen. Das erfolgte meist um den Preis erheblicher Verharmlosung (Entnietzschung) und beeindruckend selektiver Interpretation. Andere kritisierten Nietzsche basal, zeichneten sich freilich selten durch breitere Textkenntnis aus.
Inzwischen ist vieles anders, denn längst werden Nietzsches Texte ohne vorheriges Schielen nach rechts, links oder gar oben ernster genommen. Selbst Nietzsche-Devotionalienmuseen wurden gründlich durchlüftet und verbliebene Hausaltäre als museal belächelt. So wurde Nietzsche einer der weltweit meistgelesenen deutschsprachigen philosophischen Autoren. Doch selbst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts nach Nietzsches Tod gab es noch immer keinen wissenschaftlichen Kommentar seiner Werke. Verwunderlich ist das nicht, weil ein auch nur bedingt überzeugender Kommentar angesichts des riesigen, brisanten Textcorpus, der nur noch stichprobenartig einsehbaren Sekundär- und Tertiärliteraturflut, vor allem aber der von Nietzsches Schriften geforderten Interdisziplinarität und thematischen Breite so hohe Anforderungen an Kommentatoren stellt, dass bisher jeder ebenso wie jeder Verlag das hohe Risiko des Scheiterns und der Blamage gescheut hat.
Doch nun erscheint nicht nur ein historisch-kritischer, sondern sogar ein historischer und kritischer Kommentar, wohl ein Novum, zu Nietzsches Werken, herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Das lässt Seriosität und Qualität erwarten; und mit Recht einfordern. Die wesentlichen Vorgaben bietet der Eröffnungsband in seiner Allgemeinen Einleitung.
Der Kommentar startet mit einem Paukenschlag. Das vertrackteste, schwierigst zu verstehende Buch Nietzsches ist sein erstes, seine Richard-Wagner-Verherrlichung „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der [griechischen] Musik“ (GT), 1872. Um die GT zu beurteilen, müsste man sich in der griechischen Kultur des 5. Jh.s v.u.Z. auskennen, überblicken, worum es bei den Bayreuther musikalischen Erlösungsplänen Wagners der frühen 1870er Jahre ging, vor allem, welche Rolle Nietzsche dabei spielte. All das kann man dem Kommentar der GT von Jochen Schmidt zwar entnehmen, der so differenziert in klarer Sprache formuliert, wie sich das selbst ein Spezialist nur wünschen kann; doch das entscheidende Leistungsvermögen des Bandes wird damit noch nicht einmal berührt. Sonst würde er hier nicht vorgestellt.
Dieser GT-Kommentar zeigt nämlich, wie man Nietzsche (und Autoren vergleichbaren Niveaus) lesen könnte: sie bis zur Vivisektion ernst nehmend, mit und gegen jeden Strich, auf kaum einen rhetorischen oder Verbergungstricks mehr hereinfallend; aber auch keinen Vorwand suchend, schnell fertig zu werden. Verblüffend ist, dass ein kritischer Leser besser, als wenn er Nietzsches berühmt-berüchtigte GT liest, während seiner Lektüre lernt, wie wichtig das Epigonen- und Décadencethema im vorletzten Jh. war, das wir ja noch heute nicht ,los‘ geworden sind: Wer erinnert sich nicht an ein Bonmot Guido Westerwelles; welche bedeutende Rolle die Altertumswissenschaften spielten; wie Zusammenhänge der Werkentwicklung Nietzsches einzuschätzen sind; wie er bestimmte Themen aufgreift. Vor allem freilich, dass dieser enragierte Christentumskritiker, der in vielem von der für europäische Identität zentralen griechischen Leitkultur des 5. Jh.s her dachte, sich für Sklaverei und gegen Demokratie und Menschenrechte ,für alle‘ äußerte, denn auch er teilte die Angst vieler Aufklärer, ohne ,Druck von oben‘ würde das große Chaos ausbrechen. So formulierte er in bürgerlichen Kreisen des 19. Jh.s mehrheitlich Vertretenes so eloquent, dass viele, die seine Schlagworte übernahmen, sich an der Eleganz der Formulierungen berauschten, nicht jedoch auf deren Inhalte genauer achteten; und Nietzsches Ängste nicht spürten.
So bietet dieser Kommentar eine schwerlich übertreffbare Informationsquelle für an Nietzsches Geburt der Tragödie aus wissenschaftlichen Gründen Interessierte ebenso wie einen unverzichtbaren, längst überfälligen Härtetest für jeden Nietzscheinteressenten und zumal -liebhaber. Außerdem eine permanente, produktive Provokation zu kritischerer Lektüre und erhöht faktenkongruenten, möglichst kenntnisreichen Nachdenkens. Übrigens nicht nur zur GT oder auch nur zu Nietzsche. Das dürfte den Intentionen des Freiburger emeritierten vergleichenden Literaturwissenschaftlers Jochen Schmidt entsprechen, der eine Doppelstrategie maximaler, seriös recherchierter und komprimiert dargebotener Information mit im Effekt Nietzschekritischen Passagen aus konsequent humanistischer, aufklärungs- und demokratiebejahender Perspektive zu verbinden vermochte: beides in der deutschsprachigen Interpretationsszene nicht unbedingt die Regel. Und in der Art ihrer geglückten Integration extraordinär.
Verständlicherweise verbergen sich im gleißenden Licht der Stärken auch dieses Kommentars Schwächen: So berücksichtigt er nur die der Erarbeitung der GT direkt vorausliegenden beiden Jahre, nicht jedoch Nietzsches längst dokumentierte so konsequenzenreiche Entwicklung während seiner Kindheit, restlichen Schüler- und der Studentenzeit, deren Kenntnis manche GT-Besonderheit verständlicher machen könnte. Doch gerade Kritiker sollten fair bleiben: Ausweitung der Perspektiven führt allzuoft zur Verdünnung des Gehalts. Deshalb: gerade, weil sich dieser Kommentar auf die GT und ,nur‘ ihre direkte Genese konzentriert, ist er so exemplarisch, so informativ und konsequenzenträchtig.
Könnten die übrigen Bände auch nur annähernd das vorgegebene Niveau halten, hätte in einigen Jahren jeder Interessent, der eine Schrift Nietzsches besser verstehen (und sein Bewusstsein schärfen) möchte, die Chance, einen Kommentar zu nutzen, der in vielem auf die wohl entscheidenden Fährten bringt.*
Hermann Josef Schmidt
Jochen Schmidt: Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band 1/1. Berlin/Boston: de Gruyter, 2012, 456 S., ISBN 978-3-11-028692-2, 69,95 EUR.
* Diese Skizze ist nur eine bescheidene Andeutung einer in der Aufklärerpostille des deutschen Sprachraums, der Zeitschrift Aufklärung und Kritik 3/2013, S. 243-253, der Gesellschaft für kritische Philosophie, vorgelegten Skizze des Vf.s, ihrerseits eine auf 1/7 komprimierte Fassung von Nietzsche-Historisierung als Depotenzierung? Ein wohlbelegtes, überfälliges, Diskussionen stimulierendes Wagnis: Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, der Eröffnungsband 1/1: Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, von Jochen Schmidt, vorgestellt, diskutiert und aus genetischer Perspektive ergänzt.