"Der Begriff christliche Leitkultur ist falsch"

Ein so eindeutiges Bild widerspricht aber ganz drastisch dem Selbstbild vieler Konservativer, die das Christentum geradezu als Garant von kultureller Entwicklung ansehen. Kann die Kirche denn auf gar keinem Gebiet punkten?

Es gibt feine Elfenbeinschnitzereien und goldene Zierbecher, beide natürlich für den gottesdienstlichen Gebrauch, aber im Vergleich zu den thematisch breiten und handwerklich ausgefeilten antiken und arabischen Leistungen fallen die Werkstücke kaum ins Gewicht. Dagegen können wir in der Baukunst ab dem 11. Jahrhundert eine eigenständige, technisch anspruchsvolle und ästhetisch beeindruckende Entwicklung beobachten. Aber alle Bemühungen sind unter dem Einfluss einer omnipotenten Kirche zur "Ehre Gottes" gedacht und vernachlässigen die übrigen Bereiche des menschlichen und sozialen Daseins. Der mittelalterliche Mensch ist und bleibt sündhafte Masse, wie es Augustinus formuliert hatte.

 

Wie erklärt sich diese Überlegenheit der islamischen Kultur?

Das Kulturgefälle zwischen dem christlichen Mittelalter und dem arabischen Islam ist kein Wunder. Die Araber kennen schlicht keine Berührungsängste, gestatten das Nebeneinander tief verwurzelter Kulturen, verwehren keinem Fremden den Aufstieg und machen sich ohne Scheu das Wissen "Andersgläubiger" zunutze. Die arabische Kultur sucht und nutzt alles, was gut und zweckdienlich ist. Dabei spielt es keine Rolle, aus welchem Land die Gelehrten kommen, welche Weltanschauung sie besitzen.

Was zählt, ist das Wissen und das Können, auch wenn es aus Indien kommt. So blühen unter diesem Schutz die jüdischen Gemeinden auf, so wird die jüdische Intelligentsia in eine arabische Wissenslandschaft eingebunden. Und auch die christlichen Gemeinden kooperieren bereitwillig mit den neuen Herren, soweit sie nicht massenhaft zum Islam konvertieren. Es ist keine Liebesehe, auch gibt es Rückschläge, aber über die Periode von rund siebenhundert Jahren betrachtet, glückt diese kulturelle Synthese unter arabischer Hoheit zum Nutzen aller Seiten.

 

Und was führt dazu, dass Bagdad seinen kulturellen Vorsprung einbüßt und schließlich sogar gegen das christliche Europa ins Hintertreffen gerät?

Im Westen des arabischen Reiches zeichnet sich der Untergang bereits ab dem 11. Jahrhundert ab. Islamradikale Berber aus dem Großraum Marokko, die von Wissenschaft, Forschung und grenzensprengender Kooperation wenig halten, dringen in Spanien ein und im Gefolge des religiösen Fundamentalismus und unter dem Druck zahlreicher Nachfolge-Dynastien wird die islamische Kulturwelt in den folgenden Jahrhunderten zerstückelt.

Gleichzeitig nimmt mit dem Fortschreiten der Reconquista, einer christlich-hispanischen Kreuzzugsbewegung, die Zahl der Gelehrten in den besetzten Gebieten rasch ab. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird unter dominikanischem Einfluss und unter Federführung des Papstes die "Heilige Inquisition" zur Bekämpfung aller Pakte mit dem Teufel gegründet. Ein Geist eifernder Raserei durchzieht das eroberte Land und Kampfschriften gegen Muslime und Juden düngen den Boden für extensive Verfolgungen.

In Gegenwart des Königs und der Kardinäle stürzen sich die Inqusitionsbehörden auf Ketzer und Häretiker, feiern prächtige "Autodafés", verbrennen Hunderte geschundener Halbtoter "ad maiorem gloriam Dei" und statten sich noch im Quälen und Töten mit Moralität aus. Die Stunde der Wölfe ist gekommen. Wer fliehen kann, rennt um sein Leben und flüchtet aus dem Land. Im Osten des arabischen Reiches erobern Mongolen Bagdad und religiöse Fundamentalisten, die den Weg zurück in die angeblich reine Lehre predigen, drängen nach vorne. Die historische Lehre aus diesem Desaster lautet: Wehret den Fundamentalisten den Zugang zum Staat.

 

Kritiker Ihrer Thesen werden auf die großen kulturellen Leistungen der Klöster verweisen, ich erinnere mich etwa an eine Stellungnahme des Deutschen Kulturrates für eine Anhörung im nordrhein-westfälischen Landtag...

Der Deutsche Kulturrat (DKR) ist ein Sammelbecken von "Kunstschaffenden", vom Bund Deutscher Zupfmusiker über die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bis zum Bundesverband der Entwickler von Computerspielen. Als reine Interessenvertretung von Dachverbänden vertritt der DKR Partikularinteressen und liefert schlecht recherchierte Meinungsartikel.

Der Präsident des DKR mag ein begnadeter Cellist sein, aber europäische Kultur ist ein wenig mehr. Die Vizepräsidentin ist gelernte Laborantin, Mitglied des Hauptvorstandes der IG Medien und Mitglied der Bezirkssynode der evangelischen Kirche Leipzig. Sie scheint weder die antike noch arabische Kultur zu kennen, geschweige die Leistungen der Aufklärung würdigen zu können. Als Synodale glaubt sie erkennen zu können, Martin Luther habe "mittels der Reformation die weltliche (!) und kirchliche Ordnung zu ihren christlichen Aufgaben zurückgeholt", wie der DKR im Juni 2011 in einer Kolumne verlauten ließ.

Der zweite Vizepräsident ist ein Multitalent, Sinologe, Kunstgeschichtler, Germanist und Politikwissenschaftler mit unbekanntem Studiumsabschluss. Alle drei Präsidenten verfügen über keine irgendwie geartete spezifische Kompetenz, einen Landtag in Sachen europäischer Kultur oder gar in der Causa Luther zu beraten, der ja bekanntlich die Juden aufs Schlimmste diffamierte und die zum Aufstand entschlossenen Bauern zum Gehorsam gegenüber den Fürsten aufforderte. Das Gutachten des DKR "Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Kultur in Deutschland" ist ein peinlich flacher, kirchenlobhudelnder Erguss ("Ein Dorf ohne Kirche ist kein richtiges Dorf"). Warum der nordrhein-westfälische Landtag ausgerechnet diesen Verband um ein Gutachten zu Fragen von "Kirche und Kultur" gebeten hat, bleibt verborgen.

 

Gesetzt Ihre Einschätzung zum Kern europäischer Kultur wäre richtig, was würde sich aus Ihren Ergebnissen für die aktuellen politischen Debatten um eine "Leitkultur" in Deutschland und Identität ergeben?

Die antike Kultur ist wesentliche Grundlage und Klammer der europäischen Länder und nicht der Euro, wie das flapsige Jahrhundertwort "wenn der Euro scheitert, scheitert Europa" vorgibt.

Athen und Rom, Horte dieser Kultur, bleiben neben dem Frankreich der Aufklärung kulturelle Keimzellen Europas, gleich wie ihre Währung heißt. Der Begriff "christliche Leitkultur" ist gleichermaßen falsch und schädlich. Er stößt Andersdenkende vor den Kopf und schadet damit den Integrationsbemühungen. Dagegen können heutige Muslime mit der antik-griechischen Kultur gut leben, denn ihre Väter haben sie an den Hochschulen von Bagdad und Alexandria absorbiert, akkumuliert, kommentiert. An diese Leistung zu erinnern, sollte zum Repertoire außenpolitisch klugen Handelns gehören. Stattdessen spricht der bisherige Außenminister Westerwelle von "christlich-jüdischer Kultur", die Deutschland und Europa auszeichne.

Europas Kultur und Politik gewinnen ihre Stärke und Ausstrahlung aus den Begriffen Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Wissenschaftlichkeit. Religiöse Dogmen mit ihren unseligen Wahrheitsansprüchen stehen diesen Ansprüchen entgegen. Die Integration weiterer (muslimischer) Dogmen in die Schulen und Universitäten ist daher der falsche Weg, innenpolitischen Frieden zu erhalten. Eine "Leitkultur", die in den Schulen die Kinder auffordert, "Furcht vor Gott zu haben" (wie es in der Verfassung von Rheinland-Pfalz steht), reflektiert Unbildung und einen im Zeitalter des globalen Denkens unwirklichen Provinzialismus. Eine Besinnung auf die wirklichen Wurzeln Europa ist also dringend geboten.

 

Das Interview führte Martin Bauer

Rolf Bergmeier: Christlich-abendländische Kultur – Eine Legende. Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur. Aschaffenburg 2014, Alibri. 238 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 18.-, ISBN 978-3-86569-164-4

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.