Paläobiologie und Klimawissenschaft

"Wir versäumen, uns an den Klimawandel anzupassen"

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Prof. Dr. Wolfgang Kießling
Prof. Dr. Wolfgang Kießling

Prof. Dr. Wolfgang Kießling ist Inhaber des Lehrstuhls für Paläobiologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Kießling war einer der Leitautoren des sechsten Sachstandsberichts des IPCC und ist der meistzitierte Paläontologe Deutschlands. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Analyse globaler Biodiversitätsmuster in der Erdgeschichte mit besonderem Augenmerk auf den marinen Bereich. Mit dem hpd sprach er über das Risiko eines erneuten Massenartensterbens vor dem Hintergrund der anthropogenen Klimakrise.

hpd: Herr Prof. Kießling, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich würde gerne mit einer Definition beginnen: Was ist ein Massenartensterben eigentlich und wie viele davon gab es in der Erdgeschichte bisher?

Prof. Dr. Wolfgang Kießling: Oft hört man Definitionen wie: "Wenn mehr als 75 Prozent der Arten aussterben, sprechen wir von einem Massenartensterben". Das aber ist etwas irreführend. Ein Artensterben ist definiert als Rate des Aussterbens vor dem zeitlichen Hintergrund, wobei sich der "Hintergrund" auf die Frage bezieht, wie viele Arten normalerweise pro Zeiteinheit aussterben.

Das heißt, die Definition ist relativ, wir berücksichtigen erdgeschichtlichen Kontext?

Ganz genau. Die "Big 5", die fünf großen Massenartensterben, von denen oft die Rede ist, beziehen sich außerdem nur auf Meerestiere. Für die damalige Zeit haben wir zu wenige Daten von Landtieren. Alles, was wir über diese fünf großen Artensterben wissen, entnehmen wir marinen Fossilien. Es ist tatsächlich etwas unglücklich, dass wir heute bessere Daten über Landtiere haben, während das Artensterben im Meer sehr schwer zu fassen ist.

Vor etwas mehr als einem Jahr haben Sie ein Paper im Wissenschaftsjournal PNAS veröffentlicht, in dem Sie sich für eine stärkere Berücksichtigung paläontologischer Erkenntnisse im Kontext der Erderwärmung stark machen. Was kann uns die Paläontologie über frühere Massenartensterben sagen?

Ich bin der Meinung, dass die Paläontologie sehr viel beitragen kann, weil wir diese langen Zeitskalen betrachten. Wir sehen, was vor einer Klimakrise passiert ist und wir sehen, was am Ende rauskommt. Aktuell stehen wir am Anfang einer beginnenden Klimakrise und wissen nicht, wie es weitergeht. Ein Blick in die Vergangenheit liefert da einige sehr erhellende Beispiele.

Wir können aber noch mehr machen, als nur zu beobachten. Wir können bemessen, welche Ökosysteme historisch besonders empfindlich gegenüber klimatischen Veränderungen und deswegen im Moment wahrscheinlich überdurchschnittlich gefährdet sind. Wir können auch Aussagen darüber treffen, wie es mit der Anpassung aussieht – können Arten sich überhaupt an substantielle Klimaveränderungen anpassen?

Diese langen Zeitskalen allerdings sind auch unser Nachteil. Viele Menschen glauben nicht, dass wir einen Beitrag leisten können, weil wir Zeiträume von über 100.000 Jahren betrachten. Heute aber interessiert uns ein Horizont von maximal 100 Jahren, alles darüber hinaus kommt im Diskurs gar nicht mehr vor.

Frühere Massenaussterben gingen ohne menschliche Beteiligung einher. Heute ist sich die Wissenschaft einig, dass wir es mit einem anthropogenen Klimawandel zu tun haben, wir haben ihn verursacht. Gibt es quantifizierbare Szenarien aus der früheren oder tiefen Vergangenheit, die auch auf die anthropogene, treibhausgasbasierte Klimakrise anwendbar sind?

Bezüglich des Klimawandels lässt sich das erstaunlich gut vergleichen. Was heute der Mensch macht, haben früher Vulkane gemacht. Das war eine besondere Art des Vulkanismus, der nicht explosiv, sondern ruhig verläuft und vor allem Treibhausgase emittiert. Vulkanische Gase sind zwar reich an Schwefeloxiden, die abkühlend wirken, entscheidend ist aber die Frage, ob diese Schwefeloxide in die Stratosphäre gelangen. Nur wenn sie durch explosiven Vulkanismus hochgeschleudert werden, wirken sie abkühlend. Verläuft die vulkanische Aktivität eher ruhig, sprechen wir von sogenannten Flutbasalten, die halbe Kontinente bedecken und gigantische Mengen an Treibhausgasen produzieren. Hinzu kommt, dass Magma mit organischem Material im Boden reagiert und so zusätzliche Treibhausgase freisetzt.

Quasi wie die Schmelze der Permafrostböden?

Ganz genau. Tatsächlich ist das größte Massenaussterben der Erdgeschichte, das aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Klimawandel zusammenhängt, durch Flutbasalte in Sibirien, den sogenannten Sibirischen Trapp, verursacht worden. Ironischerweise, denn auch heute sorgen wir uns um den sibirischen Permafrost. Damals, vor 252 Millionen Jahren, starben über 80 Prozent der marinen Arten aus.

Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und Massenartensterben. Momentan prognostizieren wir bis zu 4 Grad Celsius Erwärmung bis zum Jahr 2100. Gibt es irgendeine Korrelation zwischen der durchschnittlichen Erwärmung eines Planeten und der Wahrscheinlichkeit eines solchen Artensterbens?

Tatsächlich ist das gar nicht so einfach. Erst vor zwei Jahren ist eine Arbeit erschienen, die das durchgerechnet hat und zu dem Ergebnis kam: Mit einer durchschnittlichen Temperaturveränderung von 5,2 Grad ist paläontologisch gesehen immer ein Massenaussterben einhergegangen.

Immer? In 100 Prozent der Fälle?

Ja, aber Vorsicht: Wir haben nur fünf große Massenaussterben, von denen einige auch durch Abkühlung verursacht wurden. Das macht die Sache etwas komplizierter. Letztendlich kommt es vor allem auf die Magnitude an. Was wir fälschlicherweise oft machen, was auch im IPCC hin und wieder vorkommt, ist ein Vergleich von Raten. Wir sagen: "Die heutige Rate des Klimawandels ist höher als früher". Das aber ist ein statistisches Artefakt ohne Aussagekraft. Je länger der Zeitraum ist, über den ich eine Rate betrachte, desto geringer ist die Rate zwangsläufig. Natürliche Prozesse fliegen nicht wie eine Rakete mit konstanter Geschwindigkeit, sondern bewegen sich eher wie ein Auto. Es wird mal langsamer gefahren, mal schneller, und ab und zu wird eine Pause eingelegt. Und da wir Fossilien nur vergleichsweise grob auflösen können, teilweise bewegen wir uns da in einem Bereich von plus/minus 10.000 Jahren, werden die Raten scheinbar geringer.

"Arten können sich an viele Dinge anpassen, aber in Bezug auf zu hohe Temperaturen gibt es für Tiere einfach Grenzen."

Im Rahmen der Veröffentlichung des sechsten IPCC-Klimaberichts sprachen Sie von einer "adaptation gap", zu deutsch: Anpassungslücke. Was ist damit gemeint?

Genau darum geht es in den drei IPCC-Bänden von Arbeitsgruppe 2. Es wird von Anfang an beklagt, dass alle nur über Minderung reden. Wie wir dem Klimawandel Einhalt gebieten, ist die Aufgabe von Arbeitsgruppe 3. Aber wir von Arbeitsgruppe 2 stellen fest, dass wir versäumen, uns an den Klimawandel anzupassen.

Diese Anpassung erfordert zeitliche Planung. Man denke an den steigenden Meeresspiegel: Ad hoc wird festgestellt, dass Städte wie Manila und New Orleans versalzen, und dann wird was gemacht. Dabei ist vorher abzusehen, dass das passiert. Ende des Jahrhunderts haben wir sehr wahrscheinlich über 50 Zentimeter Meeresspiegelanstieg, da muss ich jetzt planen, um dann soweit zu sein. Und das betrifft besonders Inseln, in der Südsee beispielsweise, die keine Hebung durchmachen. Da muss man jetzt bereits anfangen, über Umsiedlungen nachzudenken.

Es gibt aber auch noch andere Aspekte, unsere Städte zum Beispiel. Immer mehr Menschen kollabieren unter der Hitze, weil es zu wenige Kühlinseln gibt. Da klafft, insgesamt, eine große Lücke.

Stichwort Umsiedlung, Migration: Welche Migrationsbewegungen werden wir in der Tierwelt beobachten? Tiere können auf Erwärmung schließlich auf zwei Arten reagieren, sie können nach Norden beziehungsweise Süden oder sie können nach oben.

Oder nach unten. Im Meer sogar eher nach unten.

Stimmt, im Meer eher nach unten.

Klimainduzierte Migration polwärts beobachten wir bereits jetzt. Im Meer sind wir schon bei durchschnittlich 5 Kilometer pro Jahr. Damit ist nicht gemeint, dass die Tiere selbst wandern, sondern dass sich ihr Verbreitungsgebiet verändert. An Land ist diese Quote deutlich geringer, aktuell ein bisschen mehr als 1 Kilometer pro Jahr. An Land können die Tiere schließlich nicht so frei migrieren wie im Meer, weil der Mensch überall Barrieren errichtet hat.

Gerade in den Tropen, wo es bereits sehr heiß ist, wird die Biodiversität signifikant abnehmen, wenn Tiere polwärts migrieren. Aber auch außerhalb der Tropen sehen wir weltweit eine Veränderung in der Fischereiindustrie: Einerseits werden die Fische kleiner, andererseits fangen wir die gleichen Fische, die wir vor 50 Jahren gefangen haben, sind heute ganz woanders. Dem Kabeljau beispielsweise wird es in der Nordsee zu warm, er wandert ab ins Polarmeer.

Wir können in den Paläodaten sehen, dass das, was sich viele erhofft haben, nämlich eine Anpassung der Tierwelt an den Klimawandel, so einfach nicht funktioniert. Arten können sich an viele Dinge anpassen, aber in Bezug auf zu hohe Temperaturen gibt es für Tiere einfach Grenzen.

Welche Maßnahmen können wir basierend auf diesen Beobachtungen ergreifen, um das Level an Biodiversität, das wir haben, irgendwie zu erhalten? Was können wir tun, um es den Arten einfacher zu machen?

Um Arten zu erhalten, brauchen wir Schutzgebiete. Das ist ein richtiges Forschungsgebiet: Wie können wir diese Schutzgebiete etablieren? Glücklicherweise wurde auf der letzten Biodiversitätskonferenz die Einigung erzielt, dass 30 Prozent der Areale an Land und im Meer als Schutzgebiete ausgewiesen werden.

Das Problem ist: Diese Areale dürfen nicht statisch sein, sie müssen dynamisch sein und sich verändern können. Und sie müssen, das ist essentiell, vernetzt sein. Arten müssen sich zwischen Schutzgebieten hin und her bewegen können – wenn zwischendrin eine Megacity kommt, nützt das beste Schutzgebiet nichts.

Das heißt, wir brauchen so etwas wie Korridore.

Genau.

Was aber machen dann marine Populationen, die in "Sackgassen" wie dem Mittelmeer oder der Ostsee leben?

Man kann genau berechnen, wohin sich Arten bewegen sollten, indem man die Verschiebung der Isotherme betrachtet und darauf quasi einen Vektor zeichnet. Der Pfeil zeigt dir, wohin du migrieren solltest. Das Mittelmeer ist da ein hervorragendes Beispiel: Im westlichen Mittelmeer zeigen die meisten Vektoren nach Südfrankreich. Das heißt, die Meerestiere werden dorthin wandern, sind aber dann dort gefangen. Ihnen bliebe nichts anderes übrig, als sich anzupassen – was, wie wir anhand der Paläodaten wissen, nicht wirklich passiert. Solche Fallen sind vielleicht der Hauptgrund, warum Arten durch Klimawandel aussterben.

Noch einmal vielen Dank für Ihre Zeit und den Einblick in dieses spannende Forschungsfeld.

Das Interview führte Adrian Beck für den hpd.

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