Begraben wird die Republik

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Foto: © Evelin Frerk

(hpd) Trotz leiser Kritik in den vergangenen Monaten halten Europas Politiker und Medien dem türkischen Ministerpräsident Reccep Tayip Erdogan nach wie die Treue. Sie übersehen, dass die Islamisierung der Türkei ein bedrohliches Ausmaß erreicht hat und Erdogangs religiöse Restauration weit über die Grenzen des Landes hinausstrahlt. Zu diesem Schluss kommt die Schriftstellerin Arzu Toker in einem Essay für die aktuelle MIZ, den der hpd hier nachveröffentlicht.

 

Es ist nicht lange her, seit viele Europäer und türkische Intellektuelle der AKP und Ministerpräsident Tayyip Erdoğan ihr Vertrauen schenkten. Sie bekundeten ihre Solidarität mit der in der pseudolaizistischen Türkei ach so unterdrückten, unentwegt jammernden Gläubigenschar von Erdoğan und Co. Frauen verschleierten sich demonstrativ oder wurden Mitglied der AKP, als ob ihre Aufnahme als Mitglied ein Beweis für die freiheitlichen und demokratischen Anschauung der AKP bzw. von Erdoğan & Co. wäre.

Sogar als die Spendenaffäre-Akten der deutschen Gerichte den türkischen Be­hörden übergeben wurden, und dann sang- und klanglos verschwanden, blieb der Hinweis, dass sich die Spur in der Nähe Erdoğans verliere, leise. Er wurde für seine Politik gelobt und sogar mit Professorentiteln geehrt. Sobald Erdoğan seine Macht gesichert hatte, kam seine wahre Fratze zutage. Anfang des Jahres bei den Taksim Gezi-Protesten sprach er von “meiner Polizei” und hetzte sie auf die Bevölkerung los. Fotos der Brutalität “seiner” Polizisten liefen um die Welt und weckten die Träumer auf. Endlich ist vielen klargeworden, dass die Demokratie für die islamische Partei AKP nur als Mittel zum Zweck dient.

Viele türkische Intellektuelle setzen sich mit dem Islam nicht auseinander, zumindest nicht öffentlich. Sie wollen in Erdoğans Haltung eine Zuwiderhandlung gegen den Islam sehen. Doch ist dem so? Gebietet der Islam wirklich zum Beispiel die Gleichberechtigung von Nichtgläubigen oder Andersgläubigen? Mit Sicherheit nicht. Es gibt Verse, die dazu auffordern, die Ungläubigen zu ermorden. Die Mörder des Journalisten Hrant Dink und des Priesters Andrea Santoro bleiben im Dunkeln, der Prozess bleibt in Lügen und unterdrückten Beweisen stecken. Hier und da tauchen Hinweise auf involvierte Polizeichefs auf. Das Verwirrspiel um den Mord an Hrant Dink hat solche Ausmaße angenommen, dass jegliche Hoffnung, jemals herauszubekommen, was wirklich passiert ist, geschwunden ist.

Auch zu anderen Anlässen nimmt Erdoğan Einfluss auf die Justiz. Seine Söhne und Töchter (wie auch führende AKP-Mitglieder) sitzen in Stiftungen und erhalten laut Zeitungberichten auf diesem Weg Zugriff auf millionenschwere Grundstücke aus Staatsbesitz. Indem diese dann als Bauland ausgewiesen werden, erzielen sie riesige Gewinne. Sämtliche Anzeigen gegen seine Kinder hat Erdoğan bislang stets abgewehrt; er verhinderte dass Polizei und Staatsanwälte gegen seine Familie vorgingen. (Das ist durchaus ein “islamisches” Verhalten, denn der türkische Staat ist nicht islamisch, also darf er beraubt werden; insofern ist Erdoğan konsequent.)

Doch am 17. Dezember tanzte Staatsanwalt Muammer Akkaş aus der Reihe und gab Anweisung, Bankiers und drei Söhne von Ministern aufgrund seiner seit einem Jahr geheimgehaltenen Ermittlungen zu verhaften. Auch Erdoğans Sohn sollte vernommen werden. Schon organisierte Erdoğan auf Staatskosten Demonstrationen und machte sich zum Märtyrer. Dem Staatsanwalt drohte er: “Na warte, mit dir haben wir noch zu tun.”[1]

Wenn ansonsten eine seiner Machenschaften aufgedeckt wird, verweist Erdoğan gerne auf die Komplotte und Verschwörungen des internationalen Judentums.[2] Dabei müsste gerade er, der eine theologische Schule besucht hat, wissen, dass Mohammed die Juden in Saudi-Arabien, einst Heimat vieler jüdischer Stämme, vernichten wollte. Voller Stolz wird in islamischen Überlieferungen erzählt, wie Mohammed sie erst ausspionieren ließ, dann nachts überfiel, an Ort und Stelle ermordete und ihr Hab und Gut einschließlich der Frauen unter seinen Kriegern aufteilte. Die Verschwörung der Juden gab es damals so wenig wie heute; die Verschwörung Mohammeds und seiner Anhänger, die jüdischen Stämme in Medina auszumerzen, sehr wohl. Auch Erdoğan wurde von Anti­semiten still gefeiert, als er seine islamischen “Hilfsschiffe” in Richtung Gaza-Streifen sendete, damit einen internationalen Eklat verursachte und Israel anschließend als terroristischen Staat sowie den Zionismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete. In einem Video, das auf Youtube zu sehen ist, spricht Erdoğan sogar davon, die Israelis seien “erfahren im Morden”.[3]

Erdoğan weinte in Fernsehsendungen für Tote in Palästina oder Ägypten, wenn sie für die Sache des Islam ihr Leben verloren hatten. Aber er verlor nicht ein Wort des Bedauerns für die Familien der bei den Taksim-Gezi-Protesten getöteten jungen Men­schen. Ganz im Gegenteil. Er sagte: wir lieben den Erschaffer in den Opfern. Solche Opfer sind seine Gegner.

An der Seite der Dschihadisten

Auch im Krieg in Syrien steht Erdoğan auf der Seite derjenigen, die für den Islam in seiner fundamentalistischen Variante eintreten. Es geht ihm nicht um die Unterstützung von demokratischen Kräften, was in der türkischen Presse ganz offen diskutiert wird. So stellten von Erdoğan unterstützte Dschihadisten im syrischen Al Rakka, laut Hüsnü Mahallis Artikel in der Yurt Gazetesi, Istanbul, folgende Verbote auf:

  1. Die Frauen dürfen nicht ohne einen nahen Verwandten alleine auf die Straße gehen; sie dürfen sich nicht schminken; sie dürfen sich beim Gehen nicht provozierend schwingen.
  2. Auf Verpackungen dürfen keine Frauenbilder zu sehen sein. Ansonsten werden sie abgerissen.
  3. Frauen, die mit ihrem Mann auf der Straße gehen, dürfen nicht neben ihm gehen. Sie müssen hinter ihm laufen.
  4. Junge Mädchen und Frauen dürfen sich nicht mit Jeanshosen und Pullover kleiden. Sie müssen islamische Ganzkörperbekleidung benutzen.
  5. Alkohol, Zigaretten und Wasserpfeife sind verboten. Wer widerspricht, wird ausgepeitscht. Bei Wiederholungen wird dem Täter der Daumen und der Mittelfinger abgeschnitten.
  6. Friseurläden werden geschlossen. Männer dürfen die Haare nicht kürzen.
  7. In den Schaufenstern dürfen keine Frauenkleidungen ausgestellt werden. In den Geschäften für Frauen dürfen keine Männer arbeiten. Bei Frauen­schneidereien dürfen keine Männer arbeiten.
  8. Frauenfriseure dürfen keine Bilder aufhängen oder im Schaufenster haben.
  9. Frauen dürfen nicht zu männlichen Ärzten gehen.
  10. Junge Männer dürfen keine westlichen Haarschnitte haben. Sie dürfen keine Hosen tragen, deren Bund tiefer liegt.
  11. Dieben werden die Hände abgehackt.
  12. Frauen dürfen sich nicht an öffentlichen Orten auf Stühle setzen.[4]

Erdoğan als Prophet

Eine gläubige Frau sagte, als Erdoğan gegen Taksim-Gezi die Menschen mit städtischen Bussen zu Großdemos herbeikarren ließ, einem Reporter: “Ich ware gern ein Haar an seinem A…”. Dieser Satz wurde von die Taksim-Gezi-Proteste unterstützenden Medien wiederholt gesendet und immer wieder verulkt. Dabei wurde übersehen, dass diese Aussage von einem zutiefst islamischen Verständnis geprägt ist. Auch von Mohammed ist überliefert, dass er manchmal das schmutzige Wasser seiner Waschungen oder sein Rasurwasser verteilte und dass die Gläubigen sich darum rissen, weil sie Heilung davon erhofften. Frauen auf dieser Welt sind im Islam nichts wert. Sie sind erschaffen, um dem Mann zu dienen und für sein Wohlergehen zu sorgen, damit dieser seine Gebete verrichten und schließlich ins Paradies gehen kann. Insofern ist der Wunsch dieser Frau durchaus islamisch korrekt. Am Erdoğans A… ist sie Erdoğans Allah am nächsten. Erdoğan wird bei vielen seinen Anhängern tatsächlich wie ein Prophet gehandelt.

Unerschöpfliche finanzielle Mögklichkeiten

Laut einem Eintrag bei Wikileaks [5] hat Erdoğan bei schweizerischen Geldhäusern acht verschiedene private Bankkonten. Doch auch auf den Staatshaushalt hat er Zugriff: Noch nie hatte ein Ministerpräsident in der Türkei einen so hohen “örtülü ödenek” (d.h. geheimer, gedeckter Haushalt, Dispo­sitionsfonds). So wird der Betrag genannt, über den der türkische Ministerpräsident frei verfügen kann, ohne jede Erklärung und ohne Rechenschaft geben zu müssen. Diese Summe müsste zum Wohl des Landes eingesetzt werden. Interessanterweise steigt dieser Betrag unter Erdoğan unentwegt an. Ende November 2013 betrug die von ihm ausgegebene Summe, laut der Zeitung Sözcü, über eine Milliarde Lira.[6] Man stelle sich vor, Bundeskanzlerin Frau Merkel würde über 400 Millionen Euro verfügen und diese ausgeben dürfen, ohne dem Bundestag darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Und es würde herauskommen, dass sie radikale christliche Gruppen damit finanziert…

Auch Erdoğans Familienangehörige pflegen aufschlussreiche wirtschaftliche Kontakte: Vor kurzem wurden in türkischen Zeitun­gen Fotos veröffentlicht, die seinen Sohns Bilal mit dem Finanzmann Al Qadi zeigen. Al Qadi gilt als Mann, der für die Finanzen von diversen radikalen islamischen Organisationen zuständig ist. Laut türkischen Zeitungsberichten sind Bilal Erdoğan, Al Qadi und der Saudi Ussama bin Kutb, ein Freund der Familie Erdoğan, an der Firma Boshporus 360 beteiligt und wollen sich das Grundstück der Polizei in Istanbul Etiler, beste Lage, unter den Nagel reißen. Dass die beiden die eigentlichen Firmeninhaber sind, erklärt der in offiziellen Unterlagen als Besitzer angegebene Cengiz Aktürk. Heraus kam das Ganze, weil auch in der Türkei alle möglichen Menschen fortwährend abgehört werden.[7] (Für uns in Deutschland ist es interessant zu wissen, dass Al Qadi auch Anteile an der türkischen Lebensmittelkette BIM hat. Das bedeutet, dass die Finanzierung der von ihm unterstützten islamistischen Organisationen auch durch Geschäfte in Deutschland gewährleistet wird.)

Wachsender Einfluss des Amtes für religiöse Fragen

Das Amt für religiöse Fragen (DIYANET) erreichte in der Zeit der AKP-Regierung eine besondere Stellung. Seit Gründung der Republik war seine Aktivität eingeschränkt gewesen. Nun tritt Diyanet ziemlich forsch auf und verfügt über ein Budget, das fünfmal größer ist als der Etat des Bildungsministeriums. Diyanet mischt bei vielen gesellschaftlichen Streitfragen tüchtig mit: gegen Abtreibung, gegen die Berufstätigkeit der Frauen, gegen “gemischte” Wohn­gemeinschaften von Studenten.

Konflikt mit der Gülen-Bewegung

Doch es gibt auch Risse im Bild des Möchtegern-Sultan. Nachdem Erdoğan lange Jahre die Hilfe Fetullah Gülens und seiner Anhänger in Anspruch genommen hatte, um sich den Weg zur Macht freizuräumen und unter anderem auf diese Weise die Kontrolle über die Polizei erlangte, zeichnen sich nun Konflikte ab. Offenbar fühlt sich Erdoğan mittlerweile so sicher, dass er die Macht nicht mehr teilen möchte.

Nun plant die AKP die Gülen-Nachhilfeschulen zu schließen und der Bewegung so eine wichtige Einnahmequelle zu nehmen, vor allem aber ihre Möglichkeiten, Nachwuchs zu rekrutieren, einzuschränken. Das brachte Gülen auf die Palme und er verfluchte Erdoğan – was wie eine Anweisung an sein Gefolge verstanden werden konnte, Erdoğan die Hölle heiß zu machen. Seitdem werden immer wieder neue Skandale aus Erdoğans engstem Umkreis bekannt. Erdoğan wiederum vergleicht die Gülen Bewegung mitlerweile mit Tieren und droht sinngemäß, er würde in ihre Höhle einmarschieren und sie auseinandernehmen.

Na, denn mal los. Die Linke und die Intellektuellen haben bei der Verteidigung des säkularen Staates versagt, aber vielleicht schaffen es die Islamisten, sich gegenseitig fertig zu machen. Historisch gesehen hat das eine lange Tradition. Die islamische Geschichte ist voller Morde und Racheakte. Abgesehen davon, dass die Kalife und ihre Gegner sich nach Mohammeds Tod gegenseitig massakrierten, gibt es sogar die These, dass Mohammed ermordet worden sei. Doch das soll nicht heißen, dass dies ein Tipp für die Gülen-Bewegung wäre.

Denn die kennen den Koran und die islamische Geschichte mindestens so gut wie ich, auch wenn sie beide verfälschen, indem sie eine Religion des Friedens daraus machen. Da kann dann sogar Frau Dr. Rita Süßmuth im Beirat des deutschen Zweigs sitzen!

 

Arzu Toker

 

Anmerkungen:
[1]: Frei übersetzt heißt das: Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen; zitiert nach Haberler.com am 29.12,2013.
[2]: Vgl. Hürriyet, Cengiz Candar, 23.8.2013, (Erdogan meint sogar, dass Mohammed Mursi in Ägypten durch ein jüdisches Komplott gestürzt worden sei). Auch die taz und die Zeit berichten in ihren Ausgaben vom 21.8.2013, Erdogan mache Israel für den Sturz Mursis verantwortlich.
[3]: Morgenpost, 19.11.2012; Der Spiegel vom 1.3.2013; http://m.youtube.com/watch?v=OrbQsHkVQ_4.
[4]: Hüsnü Mahalli, Yurt Gazetesi, Istanbul, 7.11.2011, Erklärung der selbsternannten Regierung in Al Rakka, Syrien
[5]: 30. Dezember 2004, Nr. 21
[6]: Sözcü Gazetesi, 18.11.2013
[7]: www.odatv.com/n.php?n=yasin-el-kadi-ve-mit…, 7.3.2013; www.mynet.com/…/el-kaide-finansoru-yasin-el-kadi… vom 2.1.2014