(hpd/MIZ) Noch nie in den letzten 30 Jahren habe ich so brutal wahrgenommen, wie unterschiedlich die deutschen Nachrichtensender berichten. Warum eigentlich zahle ich GEZ-Gebühren? Um mit meinen eigenen Gebühren Scheinnachrichten zu finanzieren?
Über das angebliche Demokratie-Paket der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) berichtete das ZDF, ohne über die Proteste, ohne über die hinterlistigen Aspekte dieses Pakets ein kritisches Wort zu verlieren.
Schade. Denn Erdoğan macht nichts anderes, als die Demokratie für die Vorbereitung eines Schariastaates zu missbrauchen. Sollten die von ihm eingeführten politischen Veränderungen nicht bald korrigiert werden, haben wir spätestens in zehn Jahren ein weiteres Pulverfass im Nahen Osten.
Die Türkei wird islamisiert, die Jugend einer islamischen Gehirnwäsche unterzogen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, der von Saudi-Arabien protegiert wird, fädelt klug Schritt für Schritt das islamische Recht ein. Dem Journalist Fırat Kozok von der Tageszeitung Cumhuriyet zufolge hat die AKP mit Änderungen im Schulsystem die Weichen dafür gestellt, dass Familien ihre Kinder gegen ihren Willen zur theologischen Schule schicken müssen. Der Koran und das Leben Mohammeds sind die neuen Unterrichtsinhalte auch an anderen Schulen. Das angebliche Geburtsdatum Mohammeds artet geradezu zu einer Show aus. Es werden religiöse Wettbewerbe veranstaltet und die Kinder können an religiösen Reisen teilnehmen, um in Mekka und Medina den letzten geistigen Schliff zu bekommen.
Erdoğan weiß, dass er langfristig planen, den Boden für ein religiöses Regime vielfältig vorbereiten muss. Dafür braucht er eine religiöse Generation. Die Umwälzung der Gesellschaft ist sehr breit angelegt; dazu gehören der Kampf gegen Alkohol und gegen Abtreibung. Beide Themen werden dazu verwendet, Befürworter von Alkoholgenuss und Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als unmoralische Menschen, die sich gegen Gottes Gebote wenden, zu verunglimpfen.
Beraten wird die Regierung, obwohl es keine rechtliche Grundlage dafür gibt, vom Amt für religiöse Fragen Diyanet (die in Deutschland agierende DITIB ist an Diyanet gekoppelt). Und dieses verhält sich zum ersten Mal seit Gründung der Republik 1923, als ob es wie zu Zeiten des osmanischen Reiches im Namen des Islam Recht sprechen könnte.
So erklärte der Diyanet-Vorsitzende Mehmet Görmez, obwohl in der Türkei noch das Zivilrecht gilt, nach Schariamacht-Manier noch bevor ein Gesetz verabschiedet wurde: „Falls kein religiöser Grund vorliegt ist Abtreibung haram [d. h. verboten]“. Und die Zeitungen, einschließlich der linken, gaben diese Aussage als Fatwa bekannt, obwohl das Diyanet gar nicht das Recht hat, eine Fatwa zu erklären. Denn noch spielt das Schariarecht für das Zivilrecht keine Rolle.
Kampf dem Alkohol
Die Verbote, die Erdoğan einführt, werden sehr listig umgesetzt. So ist es in der Türkei nicht mehr möglich, in einem Radius von etwa 500 Meter um eine Moschee herum Wein zum Essen zu bekommen oder einen kalten, klaren Raki oder ein Bier zu trinken. Das gilt auch dann, wenn die Gäste keine Muslime sind. Denn die Toleranz des Islam hört da auf, wo dieser beginnt, das Recht vorzugeben. Obwohl auch Christen und Juden in der Türkei leben, wird in keiner der städtischen Parkanlagen Istanbuls, in denen sich Restaurants befinden, Wein, Bier oder dergleichen ausgeschenkt.
In vorauseilendem Gehorsam versuchen einige Städte, Alkohol gänzlich zu verbieten. Da es immer wieder zu Protesten der Bevölkerung kommt, versuchen sie, ein Verbot indirekt durchzusetzen, indem sie keine Ausschankgenehmigung erteilen. Wenn sich dann Sponsoren von Konzerten oder Festivals zurückziehen, kann es vorkommen, dass die Veranstaltung von AKP-Truppen, die „Allah-u-Ekber“ (Gott ist groß) brüllen, überfallen wird. So soll noch im Nachhinein die Bereitschaft, Alkohol auszuschenken, gebrandmarkt werden.
Bis die AKP kam, gab es Sommercamps für Jugendliche. Nun gibt es Ferienlager für Jungen und Ferienlager für Mädchen. Durch diese Trennung wird Argwohn und Misstrauen zwischen den Geschlechtern gestreut.
Zensur und Kulturlenkung
Die Strafen für TV-Sender, anfangs ein running gag, sind mittlerweile eine bittere Pille. Einige Sender mussten verkauft werden; die Käufer entpuppten sich oft als Personen aus dem Umfeld der AKP, wenn nicht sogar Verwandte von Erdoğan und Fetullah Gülen. Die Strafen für Fernsehserien, die der AKP missfallen, haben mittlerweile ein bizarres Niveau erreicht. Sogar Filme, Klassiker aus den 1950er Jahren, werden, falls sie Szenen enthalten, in denen Alkohol getrunken wird, mit harten Strafen belegt.
Die städtischen Theater werden privatisiert, weil Erdoğan meint: „In den entwickelten Ländern gibt es keinen Staat, der Theater betreibt. Deshalb werden wir die Theater privatisieren.“ Noch bevor überhaupt eine rechtliche Grundlage dafür geschaffen war, haben seine Minister in vorauseilendem Gehorsam begonnen, diese Aussage umzusetzen.
Währenddessen werden Bücher, Plakate, Werbeflächen mal wegen Unzucht, mal wegen Alkohol zensiert.
Nach osmanischem Manier versucht, auch Erdoğan sich wie ein Sultan zu verewigen, indem er an prägnanten Orten der Stadt wie Taksim ve Çamlıca Moscheen bauen lassen will.
Wer sich den AKP-Regeln nicht beugt, bekommt die Macht zu spüren, unabhängig davon, um wen es geht. So wird der Konzern KOC, seit dessen Hotels die Türen für die vor Reizgas flüchtenden Taksim-Demonstranten geöffnet hatten (auch Claudia Roth fand Schutz im Hotel), fortwährend schikaniert. Die AKP stellte eine Finanzkontrollgruppe von 2000 Personen zusammen, die eigens dazu abgestellt wurde, die Buchhaltung der KOC-Gruppe zu überprüfen. Hinzu kommt, dass die AKP-nahen Zeitungen Lügen über den Konzern verbreiten. So soll die KOC-Universität fast ein Jahrzehnt keine Miete gezahlt haben und müsse deshalb die Türen schließen. Mietzahlungen waren jedoch gar nicht vorgesehen gewesen.
Auch die Verlage spüren diese Macht. Denn nicht nur die veröffentlichten, sondern auch die unveröffentlichten Bücher und Zeitschriften sind von der Demokratie à la AKP betroffen. Razzien gegen Verlage finden als Nacht- und Nebelaktionen statt, Publikationen werden beschlagnahmt, noch bevor sie den Markt erreichen. Telefone werden abgehört, das Internet ist nicht unzensiert, oppositionelle TV- und Radiosender leiden unter hohen Strafen.
Und über alle diese Vorkommnisse wird von den öffentlich-rechtlichen Sendern Deutschlands, die sich der seriösen Berichterstattung rühmen, nicht berichtet. Die AKP versucht, aus dem Land ein offenes Gefängnis zu machen, indem sie alle Institutionen auf eine Linie bringt (in der deutschen Geschichte gab es dafür den Begriff „Gleichschaltung“).
Währenddessen versucht die Regierung ihre Skandale zu verheimlichen; die Studenten zu bedrohen und anzugreifen, alle Stimmen gegen sich zum Schweigen zu bringen; Kunst und Statuen (darstellende Kunst ist islamwidrig) zu vernichten; Kritik und Protest gegen den Ministerpräsidenten mundtot zu machen. Das ist keine Demokratie sondern Tayyipokratie.
Alle staatlichen Institutionen sind in der Hand der AKP, die AKP bestimmt, wie Demokratie und Freiheit gelebt werden. Bei den letzten Wahlen, so war zu hören, wurden an städtische Angestellten Wahlzettel ausgeteilt, auf denen die AKP bereits angekreuzt war. Die Betroffenen, d.h. die städtischen Bediensteten und ihre Familienangehörigen, mussten die leeren Stimmzettel, die sie im Wahllokal erhielten, als Beweis, dass sie den „richtig“ ausgefüllten abgegeben haben, zurückgeben. Menschen werden von ihren Arbeitsstellen entfernt, wer nicht die „richtige“ Gesinnung hat, braucht zur Not bis zu ihrer Rente nicht mehr zur Arbeit zu kommen.
Die Gewalt gegen Protestierenden brauche ich nicht mehr zu beschreiben, sie ist durch die weltweite Berichterstattung über die Niederschlagung der Proteste rund um den Gezi-Park hinlänglich bekannt. Und die Chronologie für die Jahre 2002 bis 2008 zeigt, dass all dies von Anbeginn der AKP-Regierung zu deren Politik gehörte, dass Repression gegen jede Form von Opposition und Abweichung von Anfang an ein zentrales Instrument war.
Das ist ein Tayyipologie-Paket und hinterlistige Islamisierung! Die Türkei verdient es aber nicht, von der AKP so gebeutelt zu werden.
Arzu Toker
Der Artikel erschien zuerst in der MIZ 3/13.