Warum ist Europa wichtig? (2)

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Dr. Margret Steffen

(hpd) In dieser Interview-Serie geht es jeden Mittwoch um den Einfluss der Europawahl auf Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben und Sterben.

Dr. Margret Steffen ist Expertin für europäische Gesundheitspolitik von ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft). Sie befasst sich insbesondere mit Arbeitsbedingungen, Diskriminierungsschutz und Gerechtigkeitsfragen.

Hier zeigt sie am Beispiel der Privatisierung im Gesundheitswesen auf, wie Gewerkschaften Einfluss nehmen können.

 

Hallo Margret Steffen,
als Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung treten Sie für ein soziales, diskriminierungsfreies und solidarisches Europa ein. Welche Rolle spielt die europäische Politik bei Ihren Aktivitäten?

Steffen: Deutschland hat mit der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung eine Gesundheitsversorgung, die weitgehend solidarisch ist und sich am Gedanken der Daseinsversorgung orientiert. Die EU-Kommission erhebt auch keinen Anspruch auf die Gestaltung der Gesundheitssysteme.

Aber Ziel der augenblicklichen europäischen Politik ist die Entwicklung des Binnenmarktes und dazu gehören auch die Dienstleistungen und Produkte des Gesundheitswesens. Mit dem scheinbaren Sachzwang „Binnenmarkt und Wettbewerb“ ergänzt die Europäische Kommission die Politik der Nationalstaaten hin zur Privatisierung des Gesundheitswesens. Dass Europa dadurch indirekt zu einem Treiber der weiteren Privatisierung des Gesundheitswesens wird, wurde insbesondere bei den Auseinandersetzungen um die Dienstleistungsrichtlinie von 2004 deutlich. Und seit diesem Zeitpunkt sind wir, bin ich mit Fragen der europäischen Gesundheitspolitik befasst.

In Deutschland führen solche Entwicklungen zum Beispiel zum jüngsten Zusammenschluss der Krankenhauskonzerne Helios/Rhön, das heißt das Gesundheitswesen ist einem beispiellosen Umstrukturierungsprozess ausgesetzt. Politische Veränderungen in der Gesundheitsgesetzgebung, die Finanzierung und der demographische Wandel schlagen sich in Branche und Betrieb in einem Trend nieder, der sich durch Ökonomisierungs- und Privatisierungstendenzen auszeichnet.

 

Welche Ziele verfolgen Sie in der Europapolitik?

Die prinzipiellen Ziele von ver.di in Sachen Gesundheitspolitik unterscheiden sich in Deutschland und in Europa nicht wesentlich. Für ver.di und die Gewerkschaften in Europa ist eine solidarische, zugängliche und sichere Gesundheitsversorgung, die als öffentliche Daseinsversorgung finanziert, organisiert und gesichert wird,  von entscheidender Bedeutung. Wir setzen uns für die Festschreibung der Gesundheits-, der sozialen und der Pflegedienste ein – wie es auf Europadeutsch heißt - als „Dienste im allgemeinen Interesse“.
Konkret heißt das:

  • Ein solidarisches Gesundheitswesen, das allen Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status und ihren finanziellen Möglichkeiten einen ungehinderten Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung ermöglicht.
  • Eine Gesundheitsversorgung, die der Allgemeinheit dient und der Daseinsversorgung verpflichtet ist. Gesundheitsversorgung und damit verbundenen Dienstleistungen dürfen nicht den Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes unterstellt werden.
  • Die Durchsetzung der beschäftigungs-, tarif- und sozialpolitischen Interessen der Beschäftigten gegenüber Arbeitgebern und Politik. Für ver.di gilt, das Grundrecht der Arbeitnehmerfreizügigkeit an sozialen und solidarischen Prinzipien auszurichten, den Grundsatz „gleiches Geld, für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ umzusetzen und die Weiterentwicklung des Arbeits-, Gesundheits- und Sozialschutzes voranzutreiben.

 

Welche Strategien verfolgen Sie?

Im Lissabon-Vertrag 2009 hat sich die EU wie gesagt klar und deutlich für die Entwicklung des Wettbewerbs und die Förderung des Binnenmarktes ausgesprochen und sie will auch das Gesundheitswesen und die Sozialen Dienste für den Wettbewerb öffnen. Auch bei den Gesundheitsdiensten soll das Prinzip von Angebot und Nachfrage regieren. Das heißt z.B. die Privatisierung von Krankenhäusern wird unterstützt oder Leistungen der Daseinsversorgung sind öffentlich auszuschreiben und werden – wie die Erfahrung zeigt – oft an den billigsten Anbieter vergeben. Die Gewerkschaften und andere Organisationen haben sich bisher erfolgreich dagegen gewehrt.
Wir haben im Grunde drei Fragen, mit denen wir die Vorschläge von Kommission, Ministerrat und Parlament prüfen:

  • Ist bei der Regelung eines Problems Europa überhaupt zuständig (Subsidiarität)?
  • Sind die vorgeschlagenen Maßnahmen dem Problem angemessen (Verhältnismäßigkeit)?
  • Inwieweit werden die sozialen und arbeitspolitischen Interessen der Beschäftigten in den Gesundheits- und Pflegebetrieben betroffen.

Europäisches Parlament Straßburg © EvelinFrerk

 

Mit welchem Erfolg?

Nehmen wir die Bereichsausnahme der Gesundheitsdienste aus dem Geltungsbereich der Richtlinien. Bei den Richtlinien zur Vergabe und Konzessionen konnte sich ver.di gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und in Zusammenarbeit mit EU-Parlamentariern damit durchsetzen. Ein anderes Beispiel ist die Richtlinie zur gegenseitigen Berufsanerkennung. Hier ist es uns gelungen, dass die Zugangsvoraussetzungen zum Pflegeberuf nicht mit unnötigen Hürden versehen worden sind.

 

Worum ging es bei der Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen?

Im Rahmen des Binnenmarktpaketes hatte die EU-Kommission 2011 einen Vorschlag zur Novellierung der Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen vorgelegt. Im Kern geht es bei dieser Richtlinie um die Mobilität von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in Europa. Zentraler Diskussionspunkt im Gesundheitswesen waren die Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung in der allgemeinen Krankenpflege. Der Richtlinienentwurf sah nämlich vor, die bisherigen Zugangsvoraussetzungen einer mindestens 10-jährigen allgemeinen Schulbildung auf eine 12-jährige allgemeine Schulbildung zu begrenzen.

ver.di hat sich für den Erhalt der bisherigen Zugangsvoraussetzungen ausgesprochen. Für uns  sind Durchlässigkeit, Nicht-Diskriminierung, die Kostenfreiheit der Ausbildung und gleiche Zugangschancen zu Bildung und Beschäftigung die zentralen Ziele in einem sich entwickelnden Europa. Und die Arbeit von ver.di war erfolgreich, denn die mindestens 10-jährige allgemeine Schulbildung, die zum Besuch einer Krankenpflegeschule berechtigt, konnte gesichert werden.

Dafür haben einerseits nationale Gründe gesprochen. Gerade vor dem Hintergrund des in Deutschland prognostizierten Fachkräftebedarfs wäre mit einer Verschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen. Die Umsetzung der Forderung einer 12-jährigen Ausbildung hätte bedeutet, dass ca. 45 Prozent der heutigen Auszubildenden von der Ausbildung zur Pflegekraft ausgeschlossen worden wären. Deutschland wäre zudem gezwungen gewesen, eine Ausbildung unterhalb der Fachpflege zu entwickeln. Damit würde der Trend zu niedrig qualifizierter Arbeit und eine weitere Ausdifferenzierung des Pflegeberufes verstärkt und das Gegenteil zu einer „Aufwertung“ erreicht.

 

Welche sehen Vernetzungen auf europäischer Ebene aus, wie gehen Sie da konkret vor?

Gerade diese Berufsanerkennungsrichtlinie hat gezeigt, wie wichtig das EU-Parlament ist. Wir konnten extrem vernetzt arbeiten, weil wir ein breites Bündnis zwischen Sozialversicherungsträgern, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und wichtigen Lobbyverbänden erreicht haben. Ein ganz zentraler Punkt dabei war, dass wir Geschäftsführungen und Betriebs- und Personalräte aus den Krankenhäusern gewinnen konnten, Einfluss auf die lokalen EU-ParlamentarierInnen zu nehmen. Dies war eine der Aktionen, die zum Nachdenken angeregt hat.  Die Durchsetzung von Interessen geht im europäischen Rahmen oftmals ganz eigene Wege und es sind Koalitionen möglich, die national kaum eine Rolle spielen.

So wurde sehr deutlich, dass die Verankerung der EU-Parlamentarier in ihren Wahlkreisen eine nicht unerhebliche Rolle für die Lobbyarbeit spielt. Brüssel hat oftmals überraschende Partner und Ergebnisse. Im Grunde ist Brüssel ist nicht so weit, wie wir manchmal denken könnten.

 

Wie schätzen Sie die Möglichkeiten für Gewerkschaften ein, ihre Ziele auf der EU-Ebene zu erreichen?

Gewerkschaften sind auf europäischer Ebene einerseits einer der sogenannten Stakeholder wie viele andere auch. Insbesondere wenn wir Einzelinteressen unserer Branche, von Betrieben oder Produkten vertreten. Andererseits nehmen Gewerkschaften in ihrer Rolle als Sozialpartner weitergehende Aufgaben wahr und sind auch institutionell in den europäischen Dialog eingebunden. Das kommt zum einen im Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Kommission zum Tragen, der zu allen Gesetzesvorhaben der Kommission Stellung nehmen und die Position der Kommission beeinflussen kann. Das kommt auch im Institut des Sozialen Dialogs zum Ausdruck. Hier verhandeln Verbände der Arbeitgeber und der europäischen Gewerkschaften über grundlegende Fragestellungen des Arbeits- und Sozialschutzes. Dazu gehören Themenfelder wie Migration, Arbeitnehmerentsendung und Rahmenbedingungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge. Auch wir geben Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben in diesen Bereichen heraus oder verhalten uns zu Fragen der Branche, wie etwa bei Verletzungsgefahren von Beschäftigten durch "spitze und scharfe Gegenstände" im Gesundheitswesen.

Wir Gewerkschaften haben also durchaus Möglichkeiten der Einflussnahme, diese müssen jedoch genutzt und kontinuierlich entwickelt werden. Hier ist es ganz entscheidend, dass wir als Gewerkschaften in Europa in Brüssel auch institutionell vertreten sind. Die Nähe unserer Kollegen und Kolleginnen beispielsweise im "Europäischen Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst" (EGÖD) zum Parlament und zur Kommission ermöglicht ein schnelles Reagieren. Das  erlaubt uns den kurzen Draht zu Parlamentarierinnen, der allein aus der nationalen Perspektive nicht möglich wäre. Gleichzeitig ist der EGÖD die entscheidende Plattform für die Abstimmung von Positionen innerhalb der Gewerkschaftsfamilie. Wenn wir sagen können, dass über 8 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst hinter dieser Forderung stehen und wir bereit sind, uns dafür auch durch Aktionen zu engagieren, dann werden wir gehört.

 

Wie ergeben sich die Konstellationen zur Zusammenarbeit?

Hier könnte frau mit Radio Eriwan antworten, denn das hängt von der Herausforderung und der Problemstellung ab. Der nicht so schöne Fall ist, wenn wir mit unserer Position alleine stehen. Dann ist es schwierig, Parlament, Kommission und Ministerrat inhaltlich zu überzeugen. Aber der Normalfall ist, dass es Gemeinsamkeiten zwischen nationaler und europäischer Politik, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und NGO’s gibt, die in den politischen Prozess eingebracht werden können. Auch für Brüssel gilt, dass ein Gesetzentwurf nach einem Verhandlungsprozess oftmals völlig anders aus sieht. Neben der Gewerkschaftsfamilie sind daran vor allem Vertreterinnen und Vertreter aus den NGO’s, aus den demokratischen Parteien im EU-Parlament oder der Sozialversicherungsträger beteiligt.

Gerade die Zusammenarbeit mit dem EU-Parlament ist in der letzten Legislatur deutlich verbessert worden. Denn einerseits hat das Parlament seit 2009 mehr Rechte und Einfluss und zum anderen sind Parlamentarier gerade für uns als Gewerkschaften ansprechbar aufgrund ihrer Verankerung auf der nationalen Ebene.

 

Was können Einzelne tun, um sich für ein demokratisches und soziales Europa einzusetzen?

Erstens natürlich am 25. Mai 2014 wählen zu gehen. Denn viele Entscheidungen, die wir in unserer Realität finden, werden in Europa getroffen.
Ganz wichtig ist aber auch, einmal zu fragen, welche Rolle das Krankenhaus oder der Wohlfahrtsverband, bei dem ich arbeite, auf europäischer Ebene spielen und welche Positionen dort vertreten werden. Denn die meisten der Gesundheits- und Sozialen Einrichtungen haben eine europäische Vertretung. Als Interessenvertretung besteht die Möglichkeit, die Positionen z.B. von Caritas, der Arbeiterwohlfahrt oder der Kirchen in Europa zu beeinflussen.

Neben dem Sozialen Dialog Krankenhäuser ist jetzt auch ein Sozialer Dialog im Bereich der Sozialen Dienste geplant. Dieser Soziale Dialog eröffnet gerade auch Beschäftigten und Interessenvertretungen als betriebliche Experten Möglichkeiten, sich an der Gestaltung von Arbeitsschutz und Sozialordnung zu beteiligen, die bis unmittelbar in die Betriebe hineinwirken können. Gerade bei den Verhandlungen im Sozialen Dialog ist das Erfahrungswissen, also das spezifische Wissen von Beschäftigten und Interessenvertretungen in den verschiedenen Etappen der Verhandlungen unbedingt notwendig, damit gute betriebliche Lösungen gefunden werden können. Das hat uns in den letzten Jahren die Sozialpartnerrichtlinie "Spitze und scharfe Gegenstände" gezeigt.

Nicht zuletzt ist natürlich immer wieder auch politisches Engagement in den Kommunen, Gemeinden und Städten gefordert. Denn Entscheidungen, die hier getroffen werden, können bis zum Europäischen Gerichtshof "wandern" bzw. zu neuen Gesetzesinitiativen führen. Und dann natürlich gilt es für europäische / internationale Konzerne gerade für Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen alle Möglichkeiten zu nutzen, die zum Aufbau Europäischer Betriebsräte bereitstehen.

Das Interview führte Corinna Gekeler

 

Bislang in der Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)