ODERNHEIM. (hpd) Gerade im Zusammenhang mit Ostern werden Theologen, allen voran Papst Franziskus I. nicht müde, Jesus als den ersten neuen Menschen zu preisen, der die traditionellen Schranken gegenüber den Armen, den Frauen, den öffentlichen Sündern und Dirnen durchbrach, ihnen ganz frei und vorbehaltlos entgegenging, vorzugsweise ihnen seine Liebe schenkte. Jesus also ein Liebhaber der Armut und der Armen?
Denn auch mit dem Begriff der Dirne, der Prostituierten verbinden wir oft die Vorstellung von materieller Not. Aber die entsprechenden Stellen in den Evangelien legen eine solche Deutung gar nicht nahe. Das ganze, durchaus zwiespältige, ja widersprüchliche Verhältnis Jesu zur Armut können wir an dieser Stelle nicht darlegen. In unserem Zusammenhang ist lediglich festzuhalten: Wie sündig die Frauen, deren Nähe Jesus vornehmlich suchte, auch gewesen sein mögen, arm waren sie nicht. Und Dirnen im üblichen Sinne waren sie auch nicht. Es drängt sich vielmehr der begründete Verdacht auf, dass Jesus ihre Nähe nicht so sehr deshalb suchte, um irgendeine neue Haltung, um Vorurteilslosigkeit den Sünderinnen gegenüber zu manifestieren, sondern weil sie reich und vermögend waren und ihn finanziell unterstützen konnten.
Da ist zunächst die begüterte Maria Magdalena, so genannt nach ihrem Heimatort Magdala, einer Stadt am See Genezareth. Diese Maria muss eine dominierende Rolle im Kreis um Jesus gespielt haben. In den vier kanonischen Evangelien wird sie immer als erste innerhalb der Frauenschar um den Meister angeführt. Ziemlich übereinstimmend spricht ihr die Tradition der Schriftauslegung bis auf den heutigen Tag eine Schlüsselrolle zu.
Diese zeigt sich besonders in ihrem Verhalten bei der Passion und Auferstehung Jesu, wie sie die Evangelien in einer naiv, noch nicht widerspruchsfrei entwickelten Theologie konstruiert haben. Da steht Maria Magdalena bei ihm unterm Kreuz auf Golgatha (Joh. 19,25), nachdem die Männer alle die Flucht ergriffen haben. Sie ist es, die sich sein Grab merkt, damit es nicht mit einem anderen verwechselt werden kann. Sie ist die erste, die dem Auferstandenen begegnet. Bei Markus, im ältesten Evangelium, heißt es ausdrücklich: “Als Jesus aber früh am ersten Tag der Woche auferstanden war, erschien er zuerst der Maria aus Magdala, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte” (Mk. 16,9).
Offenbar ist Maria Magdalena der erste Mensch, der die Auferstehung Jesu verkündete, der alle anderen Anhänger Jesu, die ob seines Todes niedergeschlagen waren und alles andere als seine Auferstehung für möglich hielten, aufrichtete und mit neuem Mut erfüllte (vgl. Mk. 16,10; Joh. 20,17).
Im Johannesevangelium erhält sie sogar die zentrale Aufgabe der Verkündigung der Frohbotschaft von der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu direkt und wortwörtlich von diesem selbst. Weisungsgemäß predigt sie also sogar den Aposteln von dem zentralen Ereignis der christlichen Heilsbotschaft (Joh. 20,18). Ganz offensichtlich war es eine Frau, die die erste Geige in der ersten Gemeinde nach dem Tod Jesu gespielt und die dogmatische Meinungsbildung initiiert hat. Der Auferstehungsglaube als das Herz der christlichen Botschaft ist von Maria Magdalena, einer anscheinend mit Charisma ausgestatteten Frau, auf den Weg gebracht worden!
Fast das ganze Mittelalter fand nichts Anstößiges daran, sie auf vielen Bildern als die zu zeichnen, die den Aposteln und ersten Christen predigt. Apokryphe Evangelien bezeichnen dementsprechend ihren Glauben, nicht den des Petrus, als den Fels, auf dem die Kirche erbaut ist, und Petrus selbst als den, der in ihrer Anwesenheit zu schweigen hat. “Mein Herr”, klagt Petrus in der “Pistis Sophia”, “wir können diese Frau nicht länger ertragen. Sie nimmt uns jede Gelegenheit, etwas zu sagen. Immer wieder ergreift sie das Wort.”
Man sollte an dieser Stelle einen Moment innehalten und sich einen wirklich entscheidenden Sachverhalt klar zu Bewusstsein bringen: Ohne eine Frau, ohne diese Frau Maria Magdalena gäbe es wahrscheinlich gar kein Christentum, weil sie es war, die die Auferstehung erfunden und als erste verkündet hat. Ohne die Auferstehung Jesu fällt aber gerade das alles Entscheidende der christlichen Religion weg, hat diese keinerlei Existenzberechtigung mehr. Mit Recht sagt Paulus, der das palästinensische Christentum erst in die Weite der damaligen griechisch-römischen Welt geführt und da hoffähig gemacht hat: “Gäbe es keine Auferstehung der Toten, so wäre auch Christus nicht auferstanden; wäre aber Christus nicht auferstanden, so wäre ja unsere Verkündigung hinfällig und hinfällig auch euer Glaube” (1 Kor. 15,13f).
Am Anfang des Christentums mit seinem Mittelpunkt, dem Auferstehungsglauben, steht eine Frau! Eine liebende Frau. Denn nur eine Liebende vermag einen Toten auferstehen zu lassen, kann ihn sich so stark einbilden, dass er real vor ihr zu stehen scheint. Nur die gewaltige, grenzenlose Liebe vermag aus dem Nichtexistierenden, nicht mehr Existierenden wieder einen lebendig Existierenden zu schaffen. Wir brauchen hier gar nicht zum Instrumentarium der Psychoanalyse zu greifen. Von sieben Dämonen soll ja Maria Magdalena, wie Lukas berichtet, besessen gewesen sein; das heißt aber: von einer ganzen Fülle dunkler Kräfte, was doch wiederum ihre starke Vitalität bezeugt. Doch brauchen wir, wie gesagt, gar nicht über die Art dieser Kräfte und Triebe analytisch zu fachsimpeln. Denn es genügt die Unbedingtheit einer Frau, die liebt, um Maria Magdalenas Auferstehungshalluzination zu erklären.
Wer hätte das gedacht? Am Startpunkt des so patriarchalisch-maskulinen Christentums mit seinem so männlichen Gott Jahwe, den auch Jesus in den Evangelien nie als Mutter anspricht, mit dem er nie ein Gleichnis der Mutterliebe verknüpft, steht eindeutig eine dominierende Frau. Es gehört sicher zu den besonderen Kuriositäten der Menschheitsgeschichte, dass die mitgliederstärksten Konfessionen des Christentums, die Katholiken und die Orthodoxen, den Frauen alle kirchenamtlichen Rechte, ganz besonders das Priesteramt verweigern.
Begonnen hat das allerdings schon früh, schon Paulus aus Tarsus bereitete offenbar der in der Urgemeinde bestehenden Führungsrolle der Frauen um Maria Magdalena und ihrer unmittelbaren Nachfolgerinnen ein ziemlich jähes Ende. Und die Spuren des “Ur-Matriarchats” im Christentum wurden im Laufe der Zeit so gut wie möglich, und das heißt: fast restlos verwischt und getilgt!
Wie stand Jesus selbst zu Maria Magdalena? War er ihr nur dankbar, weil sie “über ihr Vermögen frei verfügen konnte, um Jesus zu finanzieren”, “wahrscheinlich die Witwe eines Großgrundbesitzers” (so die ev. Theologin E. Moltmann-Wendel) war? Ich meine, dass es mehr war, dass die beiden eine große erotische Liebe verband. Wer die Begegnung zwischen ihr und ihm bei Joh. 20,11–18 unvoreingenommen und einfühlsam liest, wird mir beipflichten, dass wir hier eine der zartesten, romantischsten Liebesgeschichten der Weltliteratur von unerhörter Kürze, aber auch Aussagekraft vor uns haben.
Alle Tiefen und Höhen einer brennenden Liebe finden sich hier komprimiert in acht Versen: Zuerst die tiefe, hoffnungslose Traurigkeit ob des Verlustes des Geliebten: “Maria aber stand außen bei der Gruft und weinte…” Dann das leise, erste Erwachen von Hoffnung: “Wie sie nun weinte, beugte sie sich in die Gruft hinein; da sieht sie zwei Engel in weißen Kleidern dasitzen, den einen beim Haupte und den anderen bei den Füßen, da, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und die sagen zu ihr: Weib, was weinst du denn?” Darauf ihre Antwort, die ihre ganze Liebe zum Ausdruck bringt: Sie haben mir alles, nämlich “meinen Herrn hinweggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben”. Und dann genügt ein einziges Wort, das Aussprechen ihres Namens durch den Geliebten, um ihn sofort zu erkennen: “Jesus sagte zu ihr: Maria.”
Es ist der Ton, der die Musik macht. Es ist die für sie absolut unverwechselbare Stimme ihres Geliebten, die sie ohne jede Möglichkeit einer Täuschung erkennen lässt, dass Er es ist, den sie vorher, als er noch nicht zu ihr gesprochen hatte, für den Gärtner gehalten hatte. Ihn hören, ihn an seiner Stimme erkennen und einfach weg sein, einfach dahinschmelzen sind dann schon fast ein und dasselbe. Und wieder drückt sich das in einem einzigen Wort aus: “Rabbuni”, mein Lehrer, mein geliebter, über alles geliebter Meister! Jetzt will sie ihn berühren, umarmen, liebkosen, wie sie das hunderte Male vor seinem Tod getan hat. Der Text bei Johannes schweigt darüber, aber die konsequente Stufenfolge der Szenen und der nächstfolgende Satz, den der Evangelist notiert, erfordern und beweisen es. Denn “Jesus sagte zu ihr: Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht zum Vater aufgefahren”. Wenn Jesus ihr gebietet, ihn nicht zu berühren, dann muss sie es unmittelbar vorher versucht haben. Keine Frau berührt so mir nichts, dir nichts einen Mann, mit dem sie nicht schon vorher vertrauten Umgang hatte.