In seinem im Sommer erschienenen Buch dokumentiert der argentinische Journalist Uki Goñi die Verstrickung des Vatikans in das transatlantische Netz der Fluchthilfe.
Am Rande der Frankfurter Buchmesse führte der hpd ein Gespräch mit dem Verleger Theo Bruns, der das Buch gemeinsam mit Stefanie Graefe auch übersetzt hat.
hpd: Warum hat die Assoziation A ein Buch zum Thema „Fluchthilfe“ gemacht? Es gab doch bereits einige Veröffentlichungen zu dem Thema.
Theo Bruns: Ich denke, diese Einschätzung beruht auf einer Wahrnehmungstäuschung. Die berühmt-berüchtigte „Odessa“, die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, ist insbesondere bekannt geworden ist durch den Thriller „Die Akte Odessa“ von Frederik Forsyth. Ein Fluchthelfer des Vatikans, Bischof Hudal, tauchte sogar mal als Figur in einem „Tatort“ auf. An seriöser historischer Forschung über diese Fluchthilfeoperation liegt hingegen de facto nur wenig vor. Es gibt einige schmale Vorarbeiten von Thomas und Rena Giefer („Die Rattenlinie“) sowie von Ernst Klee, der die Zusammenarbeit des Vatikans mit flüchtigen NS-Verbrechern untersucht hat („Persilscheine und falsche Pässe“). Und es existiert eine Dissertation des Kölner Professors Holger Meding mit dem Titel „Flucht vor Nürnberg?“ (1992), wobei hier das Fragezeichen schon andeutet, dass der Autor die Fluchthilfe für im Wesentlichen individuell gestaltet hält, ohne dass eine Organisation dahintergestanden hätte. Aus meinem Blickwinkel ist es also eher so, dass ein ganz zentrales Kapitel der Nachkriegsgeschichte und des Nachwirkens des Nationalsozialismus von der deutschen Geschichtsschreibung weitgehend vernachlässigt wurde. Mit dem Buch von Uki Goñi liegt die erste seriöse und vor allen Dingen umfassende Arbeit vor, die das gesamte Panorama dieser Fluchthilfeorganisation über mehrere Kontinente hinweg schildert.
hpd: Was sind die zentralen Ergebnisse der Studie Uki Goñis und inwiefern geht das, was er herausbekommen hat, über das hinaus, was in den von dir genannten Werken präsentiert wird?
Theo Bruns: Das zentrale Ergebnis ist der detaillierte und quellengestützte Nachweis dass es tatsächlich eine organisierte Fluchthilfe gab, an der die argentinische Regierung, schweizerische Behörden, das Internationale Rote Kreuz und vor allem der Vatikan mitwirkten. Dem Autor ist es gelungen, auch die institutionellen Verankerungen dieser Fluchthilfeorganisation nachzuzeichnen. Die Schaltzentrale war angesiedelt im Präsidentenpalast von Juan Domingo Perón, der ab 1946 Präsident Argentiniens war und von 1943 bis 1945 bereits einer Militärjunta angehört hat. In Peróns Nachrichtenabteilung war ein neuer Geheimdienst geschaffen worden, der unmittelbar ihm unterstand und von Rudolfo Freude geleitet wurde. Der war der Sohn des obersten Nazis in Argentinien, des deutsch-argentinischen Unternehmers Ludwig Freude, der nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen NS-Deutschland und Argentinien als eine Art Schattenbotschafter fungiert hatte. Rudolfo Freude hat sich dann aus dem ersten Kreis ankommender Flüchtlinge, es handelte sich im Wesentlichen um Mitglieder der europäischen Kollaborationsregimeaus Belgien und Frankreich, ein Team rekrutiert, das in die Einwanderungsbehörde implantiert wurde. Von dort aus wurden Basen in Europa aufgebaut, zunächst in Skandinavien, dann in der Schweiz und schließlich in Italien. Dieses Netz hat die Fluchthilfe geplant und organisiert. Diese Zusammenhänge hat Uki Goñi in argentinischen Archiven recherchiert, insbesondere in der Einwanderungsbehörde, deren Akten in der Forschung völlig unbekannt waren. Da hat er wirklich Neuland betreten.
Zum zweiten finde ich an dem Buch bemerkenswert, dass es die gesamte Breite dieser Fluchthilfe nachzeichnet. Denn es waren nicht nur deutsche und österreichische Nazis, die nach Argentinien beziehungsweise Südamerika flohen, sondern Vertreter praktisch aller europäischen Kollaborationsregime: des Vichy-Regimes, der belgischen Rexisten, der rumänischen „Eisernen Garde“, fast die gesamte Führungsspitze des kroatischen Ustascha-Regimes.
hpd: Wie ist Uki Goñi zu seinen Ergebnissen gekommen, welche Archive konnte er auswerten? Mich interessiert natürlich auch, wie es mit der Kooperationsbereitschaft der entsprechenden Behörden ausgesehen hat.
Theo Bruns: Uki Goñi hat seine Recherchen begonnen im Archiv der Einwanderungsbehörde in der Hoffnung, dort die aufschlussreichsten Quellen zu finden. Denn dort wurden alle Einwanderer nach Argentinien registriert – wenn auch nicht immer unter ihrem richtigen Namen. Es gab für jeden Vorgang eine eigene Akte, in der das Datum der Einreise, der Namen des Antragstellers für die Einreisegenehmigung (das war nicht immer unbedingt der einwandernde Flüchtling selbst) und das benutzte Schiff festgehalten wurden. Aufgrund dieser Akten der Einwanderungsbehörde ist es Uki Goñi gelungen, über 300 namentlich bekannte Kriegsverbrecher ausfindig zu machen.
Am Anfang hat er die Arbeit mehr oder weniger heimlich durchgeführt, indem er vorgab, er forsche allgemein zur argentinischen Einwanderungsgeschichte nach 1945. Als klar wurde, nach was er wirklich sucht, ist er behindert worden. Außerdem wurden die Archive mehrfach gesäubert. Das frappanteste Beispiel dafür ist, dass im Jahr 1996 alle Akten, die bekannte Kriegsverbrecher wie Eichmann, Mengele, Barby oder Priebke betrafen, aus dem Archiv herausgeholt, auf einen riesigen „Scheiterhaufen“ geworfen und verbrannt wurden. Das war 1996 unter der Herrschaft des Peronisten Carlos Menem. Pikant ist, dass ein Jahr später der gleiche Präsident Menem feierlich eine Historiker-Kommission eingesetzt hat, die der argentinischen Nazi-Connection nachgehen sollte. Da waren die entsprechenden Akten natürlich nicht mehr auffindbar.
Desweiteren hatte Goñi Zugang zu Akten, die erst in den letzten Jahren durch die US-amerikanischen Geheimdienste CIA und CIC freigegeben wurden; die amerikanischen wie auch die britischen Geheimdienste waren in der Anfangsphase teilweise recht gut informiert. Darüber hinaus hat er, soweit das möglich war, noch in Italien recherchiert. Die Archive des Vatikans sind allerdings weiterhin weitestgehend verschlossen. Und schließlich war er in der Schweiz, wo die argentinische Fluchthilfe – mit Billigung des schweizerischen Polizeipräsidenten Heinrich Rothmund – eine Zentrale installiert hatte. Das war übrigens der gleiche Polizeichef, der ab 1942 jede jüdische Einwanderung in die Schweiz völlig unterbunden hat und dann nach 1945 flüchtenden Nazis, die aus Deutschland klandestin in die Schweiz eingereist waren, den Transit über die Schweiz nach Argentinien ermöglicht hat
hpd: Könntest du kurz zusammenfassen, wie es zu dieser Kooperation von nationalsozialistischen Fluchthilfestrukturen, argentinischer Regierung und der katholischen Kirche gekommen ist?
Theo Bruns: Zwischen dem Vatikan und Argentinien gab es eine Interessenidentität, nämlich die Frontstellung gegen den Kommunismus. Am Anfang waren es ja vor allem Mitglieder von Kollaborationsregimes, die explizit katholisch orientiert waren, wie zum Beispiel die kroatische Ustascha, denen die Flucht ermöglicht wurde. Bei Perón lagen noch andere Motive vor. Zum einen spielte eine weltanschauliche Nähe insbesondere zum italienischen Faschismus eine Rolle, zum anderen schwebte ihm damals vor, Argentinien zur dritten Weltmacht aufzubauen. Dieses Ziel wollte er mit Hilfe deutscher Wissenschaftler und Rüstungsexperten, erreichen. Ich möchte aber betonen, dass dies nur ein Motiv unter anderen war. Es gibt ja den Rechtfertigungsstrang, Perón von der Nähe zum Faschismus freizusprechen und in ihm nur den Pragmatiker zu sehen, der die argentinische Wirtschaft aufbauen wollte, Luftfahrttechniker und Raketenexperten ins Land holen wollte. Diese Sicht wird eindeutig dadurch widerlegt, dass unter den Einwanderern eine große Anzahl an Kriegsverbrechern war, die außer Massenmord kein weiteres Expertentum vorweisen konnten.
hpd: Wie kam die Zusammenarbeit auf der organisatorischen Ebene zustande? Wie kamen die argentinische Regierung und der Vatikan zusammen?
Theo Bruns: Bereits kurz nach Kriegsende gab es eine Delegationsreise eines argentinischen Kardinals und eines argentinischen Erzbischofs nach Rom, wo auf Bitten des Vatikans die Flucht der ersten NS-Kollaborateure nach Argentinien eingeleitet wurde. Es ist zu vermuten, dass damals die ersten Kontakte geknüpft wurden. Argentinien war neben Ägypten – eine weitere sehr bedeutende Fluchtroute, die aber wenig erforscht ist – das Land, das mit Abstand die größte Bereitschaft zeigte, NS-Verbrecher und Kollaborateure aufzunehmen. Umgekehrt bot der Vatikan die Möglichkeit, die Flüchtlinge vorübergehend in Italien unterzubringen, lieferte zum Teil auch falsche Pässe, und erleichterte so den Transfer der Faschisten über den Atlantik nach Argentinien.
hpd: Du hast bereits erwähnt, dass es anfangs in erster Linie katholische Faschisten waren, denen geholfen wurde, und du hast darauf hingewiesen, dass sich die Fluchthilfe nicht auf Nationalsozialisten beschränkte, sondern dass auch die Kollaborationsregime ihr Personal über diesen Weg aus Europa hinausschleusen konnten. Lässt sich überblicken, wem alles geholfen wurde? Aus welchen Funktionen kamen die Leute, zu welcher Hierarchieebene gehörten sie? Spielten Seilschaften aus bestimmten Teilen des Parteiapparates eine Rolle?
Theo Bruns: Für die Kollaborationsregime gilt: es waren die Spitzen dieser Regime. Zum Beispiel ist die Führungsspitze des Ustascha-Staates fast geschlossen in Argentinien untergekommen, der Präsident Ante Pavelic ebenso wie zahlreiche seiner Minister. Ähnlich verhält es sich bei anderen NS-Marionettenstaaten wie Rumänien oder der Slowakei. Hier wäre zum Beispiel der Name Ferdinand Durcansky zu nennen, eine führende Figur des katholischen Tiso-Regimes. Oder Pierre Daye, ein belgischer Kollaborateur und rabiater Antisemit, der während der deutschen Besatzung Sportminister war.
Was die deutsche Seite angeht, ist die Fluchthilfeoperation eingefädelt worden vom Auslandsgeheimdienst der SS, dem Sicherheitsdienst Ausland. Es war vor allem die mittlere Funktionärsebene, die diese Strukturen nutzte, darunter allerdings sehr prominente Namen wie Adolf Eichmann, Organisator der Endlösung; Josef Mengele, KZ-Arzt in Auschwitz; Gerhard Bohne, einer der leitenden Organisatoren der Euthanasieaktionen; Erich Priebke, verantwortlich für das Massaker in den Adreatinischen Höhlen in Italien. Es gab also durchaus einige Hauptkriegsverbrecher unter den nach Argentinien Geflüchteten. Zum Teil haben sie sich auch in eigenen Seilschaften organisiert, was aber noch sehr schlecht erforscht ist. Es gab in Argentinien das „Kameradenwerk“ von Hans Ulrich Rudel, dem „Flieger-As“ aus Hitlers Luftwaffe, der auch nach 1945 sich offen und unverfroren zum Nationalsozialismus bekannt hat. Rudel hat zum Beispiel die weitere Flucht Mengeles nach Paraguay und Brasilien organisiert; er hat von Argentinien aus auch verhaftete und verurteilte Kriegsverbrecher unterstützt. Welche genaue Rolle diese Netzwerke bei der Organisation der Fluchthilfe gespielt haben, ist aber bis heute weitgehend unbekannt. Man hat die Chiffre „Odessa“ eingeführt, selbst Simon Wiesenthal hat sie verwendet, aber genau erforscht ist dieses Kapitel bislang nicht. Es gibt mehr Gerüchte, Legenden und Mythen als gesichertes Wissen. Dem nicht genauer nachgegangen zu sein, ist in jedem Fall ein zentrales Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung.
hpd: Wie würdest du in einer abschließenden Bewertung die Rolle des Vatikans in diesem Fluchthilfenetz bewerten?
Theo Bruns: Man kann nur sagen, die Rolle des Vatikans ist absolut skandalös. Er hatte die zentrale Stellung inne, ohne die Hilfe des Vatikans wäre weder die massenhafte Flucht von NS-Verbrechern nach Lateinamerika noch nach Ägypten möglich gewesen. Die zentralen Personen sind bekannt: der österreichische Bischof Alois Hudal in Rom und der kroatische Priester Krunoslav Draganovic. Von Seiten des Vatikans ist immer behauptet worden, dass dies ohne Wissen der höheren Hierarchie des Heiligen Stuhls geschah, insbesondere sei Papst Pius XII. nicht eingeweiht gewesen. Das wird heute aufgrund von neueren Forschungen, die sich unter anderem auf erst kürzlich freigegebene britische Geheimdienstdokumente stützen, von ernsthafte Wissenschaftlern als unwahrscheinlich angesehen. Es ist ziemlich deutlich geworden, dass der Vatikan bis in die Spitze hinein, also bis zum Papst, unterrichtet war und diese Fluchthilfeoperation gebilligt und mitgetragen hat.
Uki Goñi: Odessa – Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Verbrecher. Übersetzt von Theo Bruns und Stefanie Graefe. Berllin: Assoziation A, 2006. 400 Seiten, kartoniert, Euro 22.- ISBN 3-935936-40-0