HAMBURG. (hpd) Die Universität Hamburg lädt seit 2003 jedes Jahr zu den Carl Friedrich von Weizsäcker - Vorlesungen in den „Philosophenturm"
– dieses Jahr mit Philip Kitcher zum Thema „Ethics after Darwin".
Philip Kitcher, Professor für Philosophie an der Columbia Universität in New York, verkörpert wie seinerzeit Carl Friedrich von Weizsäcker übergreifende „Brückenschläge" in der Verbindung von Naturwissenschaften und Philosophie.
Sein Vortrag am vergangenen Montagabend über „Evolution und die Herkunft der Ethik" gab (auf Deutsch) einen Überblick zum Thema, den er in darauf folgenden vier Vorträgen (auf Englisch) für das Fachpublikum vertiefte. Zeitungslesern in Deutschland ist er schon einmal begegnet, als er in einer Ethik-Debatte der Wochenzeitung DIE ZEIT 2006 den Beitrag schrieb: „Ethik ohne Gott".
Dieser Titel benennt auch bereits den Kern seiner Ausführungen. Er versteht sich wissenschaftlich ausdrücklich als Naturalist, der nicht an „übersinnlichen" oder „metaphysischen" Erklärungen der Welt interessiert ist, sondern sie in der Entwicklung der Welt und des Menschen selber begründet.
Das Wollen eines Gottes kann keine Ethik begründen
Wir alle stellen fast jeden Tag ethische Fragen und äußern Urteile: Was tust du? Darfst du das? Das ist nicht gut! etc., aber woher wissen wir eigentlich, was „richtig" und was „falsch" ist? Die tradierte Alltagslösung gibt sich mit der Antwort zufrieden, dass die Grundsätze der Ethik die Tradition, die Vorfahren, den Willen Gottes erläutern. Doch das Wollen eines Gottes kann keine Ethik begründen, nicht die Quelle einer ethischen Wahrheit sein, da es jeweils willkürliche Befehle sind, die als zeitgemäße Begründung nicht genügen.
Auch diverse philosophische Versuche, Ethik zu begründen - Die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft, das größtmögliche Glück Vieler, u. a. m. - greifen zu kurz. Darwin, als Naturwissenschaftler, hat dagegen eine neue Sichtweise entwickelt. Zum einen sind alle Lebewesen evolutionär verwandt und zum anderen erfolgt die Entwicklung durch Auswahl in einer immer fortschreitenden Tradition. Mit anderen Worten: Die Eigenschaften der heutigen Welt sind als Ergebnisse einer langen Geschichte zu verstehen. Dieser Aspekt wird von Religionen wie von Philosophen bisher negiert.
Das soziale Leben unserer Vorfahren beginnt bereits bei den Primaten, die in kleinen Gruppen leben und lernten, dass Altruismus ihnen Vorteile verschafft. Altruismus ist dabei nicht biologisch zu verstehen, denn aus der Verbesserung der Fortpflanzungschancen anderer Lebewesen entsteht keine Ethik. Erst im psychologischen Altruismus, d.h. der Änderung der eigenen Wünsche, damit sich die Wünsche der anderen erfüllen können, ohne dass sich dadurch die eigenen egoistischen Wünsche erfüllen müssen, entwickelt sich Ethik. Auch ein „soziales Verhalten" ist noch kein Altruismus, da „soziales Verhalten" durchaus aus der Berechnung eines daraus für sich selbst entspringenden Vorteils entstehen kann, Altruismus jedoch selbstloses Verhalten ohne Berechnung des eigenen Vorteils ist.
Gibt es überhaupt Altruisten?
Ist Altruismus dabei ein hehres Ideal oder tatsächlich vorhanden, zum Beispiel im Opfer der Eltern für ihre Kinder? Ja, bereits bei Schimpansen wurde beobachtet, dass sie helfen, ohne dadurch als Ausgleich oder Forderung einen eigenen Vorteil zu erwarten. Der evolutionsbiologische (oder „darwinische") Vorteil der „Mutterliebe", der sich erst nur auf die Verwandten bezog, erforderte in der Gemeinschaftsentwicklung und einer größeren Zahl von Gruppenmitgliedern die Entwicklung der Fähigkeit des Altruismus. Beides entwickelte sich gleichzeitig, ein Wechsel aus einerseits gegenseitiger Konkurrenz und, andererseits, dem gemeinsamen Vorteil durch einen erweiterten Altruismus.
Dieses „Koalitionsspiel" ist jedoch weder zu berechnen noch zu kalkulieren. Das Leben ist ebenso brüchig wie stabil, ebenso egoistisch wie Gemeinschaft stiftend. Der Aufwand zur Stabilisierung ist also groß, die Gruppen bleiben entsprechend klein.
Menschliche Gesellschaften beruhen auf Fortschritt
In einfachen Gruppen besteht eine grobe Bestrafungsart, bei der jedoch der Zusammenhang zwischen „Verbrechen" und „Strafe" erkannt wird, woraus das „Gewissen" entsteht. Menschliche Gesellschaften bedürfen dann jedoch der Sprache, denn erst mit der Sprache werden Regeln diskutierbar und lassen sich Regeln vereinbaren - die erste Ethik entsteht.
Verschiedene Gesellschaften sind somit „Lebensexperimente" kultureller Konkurrenz, in denen sich die geeignetsten Experimente durchsetzen.
Nach der Sprache entsteht die Schrift und in der Schriftentwicklung gibt es bereits vor 4.000 Jahren Gesetzessammlungen wie den „Codex Hamurabi". Sie sind ein Schritt in der ständigen Veränderung ethischer Praxis. Vom Homerischen Heldentum zum Ideals der Solidarität. Die Erweiterung des Mitleids gegenüber Armen und Unterdrückten. Die Anerkennung der Rechte der Frauen. Die Ablehnung der Sklaverei.
Auch wenn wir nur lückenhafte Beweise und Belege haben, gibt es genügend Erkenntnisse für diese Entwicklung.
Wer hat ethische Grundsätze zuerst erkannt?
Religionen führen die Ethik auf Gott zurück. Aber es gibt einfach zu viele Götter, daraus resultierende Ethiken und jeder, dem es gelingt, sich als Sprachroher eines dieser Götter zu etablieren, wird sie für seine Zwecke instrumentalisieren.
Philip Kitcher ist sich da sehr sicher: Ethik entsteht aus der Lebenspraxis unserer Vorfahren, den „Lebensexperimenten" einer Reihe zielloser und sich ablösender Veränderungen. Die Frage, ob es „ethischen Fortschritt" gibt, beantwortet Kitcher mit einem klaren „Ja", die Frage, ob es eine „ethische Wahrheit" gibt – trotz der Existenz einer Anzahl „stabiler Sätze" – mit einem klaren „Nein". Die Mehrheit unseres Wissens ist gelernt, durch Erziehung und kulturelle Standards.
Insofern ist Ethik eine Art „Gesellschafts-Technik", sei es zur Regelung von Streitigkeiten, sei es zur Verteilung von Ressourcen. Allerdings müssen diese Regeln auch befolgt werden und dabei kann der „allmächtige Beobachter" in Gestalt eines Gottes von Nutzen gewesen sein.
Die historische Entwicklung der Arbeitsteilung und des Handels brachte auch einen ethischen Fortschritt. Dennoch bleibt „Ethik" – als Verstärkung unserer begrenzten Fähigkeit zum Altruismus – ein ständiger Prozess ohne Stillstand.
Carsten Frerk