Ein evangelisches Wort...

BERLIN. (hpd) Als am 25. Juli 1933 mit „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"

die Sterilisierung von Behinderten gerechtfertigt wurde, legten die katholischen Bischöfe Protest ein. Wenn die Sterilisierten sich keine Sorge um unerwünschten Nachwuchs machen müssten, seien schändliche Exzesse die Folge. Die evangelischen Kirchen schlossen sich dieser Sichtweise nicht an und positionierten sich diametral zur katholischen Kirche. Doch ein besonderes Mitleid mit den Behinderten brachte keine Konfession auf. Nicht die Begründung für die Opposition, sondern die Opposition gegen die Sterilisierungen selbst, wurde abgelehnt.

Aus einem Flugblatt des Reichsverbandes der evangelischen Taubstummen-Seelsorger Deutschlands, das in den Jahren 1933 und 1934 verteilt wurde:

 

                          Ein Wort an die erbkranken evangelischen Taubstummen

Die Obrigkeit hat befohlen: Wer erbkrank ist, soll in Zukunft keine Kinder mehr bekommen. Denn unser deutsches Vaterland braucht gesunde und tüchtige Menschen.

Viele Menschen haben von Geburt an ein schweres Gebrechen oder Leiden. Die einen haben keine gesunden Hände, Arme oder Füße. Die anderen sind am Geiste so schwach, daß sie die Schule nicht besuchen konnten. Wieder andere sind blind. - Und du selbst, lieber Freund, leidest an Taubheit. Wie schwer ist das doch! Du bist oft traurig darüber. Du hast wohl oft gefragt: „Warum muß ich taub sein?" Und wie traurig sind wohl auch Deine Eltern gewesen, als sie merkten, daß Du nicht hören konntest!

Es gibt taubstumme Kinder, deren Vater oder Mutter auch taubstumm ist. Es gibt auch Taubstumme, deren Großeltern ebenfalls taubstumm waren. Sie haben das Gebrechen ererbt. Sie sind erbkrank.

Zu diesen Menschen sagt die Obrigkeit: Du darfst Dein Gebrechen nicht noch weiter auf Kinder oder Großkinder vererben; Du mußt ohne Kinder bleiben.

Wenn Du an ererbter Taubheit leidest, bekommst Du wohl eine Vorladung vor das Erbgesundheitsgericht. Da geht es um die Frage, ob Du auch niemals Kinder haben sollst. - Vor allem eins: Nichtwahr, Du wirst die Wahrheit sagen, wenn Du gefragt wirst. Denn so will es Gott von Dir! Du wirst die Wahrheit sagen auch dann, wenn das unangenehm ist.

Vielleicht bestimmt das Erbgesundheitsgericht: Du sollst durch eine Operation unfruchtbar gemacht werden. Du wirst traurig. Du denkst: „Das möchte ich nicht. Ich möchte heiraten und Kinder haben. Denn ich habe Kinder lieb." Aber nun überlege einmal: Möchtest du Schuld daran sein, daß die Taubheit noch weiter vererbt wird? Würdest Du nicht sehr traurig werden, wenn Du sehen müßtest, daß Deine Kinder oder Enkelkinder auch wieder taub sind? Würdest Du Dir dann nicht selbst schwere Vorwürfe machen? Nein, das möchtest Du doch wohl nicht. Die Verantwortung ist zu groß.

Sieh, da will die Obrigkeit Dir helfen. Sie will Dich bewahren vor Vererbung Deines Gebrechens.

Aber, sagst Du, unangenehm, sehr unangenehm ist das doch. Denn die Menschen klatschen darüber, wenn ich unfruchtbar gemacht bin. Sie verachten mich. - Nein, so musst du nicht denken. Die Obrigkeit hat befohlen: Niemand darf über die Unfruchtbarmachung sprechen. Du selbst auch nicht. Merke wohl: Du darfst zu keinem Menschen darüber sprechen! Auch deine Angehörigen nicht! Und der Arzt, der Richter, sie alle müssen darüber schweigen!

Gehorche der Obrigkeit! Gehorche ihr auch, wenn es dir schwer wird! Denke an die Zukunft Deines Volkes und bringe ihr dieses Opfer, das von Dir gefordert wird! Vertraue auf Gott und vergiß nicht das Bibelwort: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen."

                 Reichsverband der evang. Taubst.-Seelsorger Deutschlands

 


Einleitung: Lukas Mihr

Quelle Flugblatt: ERNST KLEE, "Die SA Jesu Christi" - Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt am Main 1989, S. 93.