Erwin Fischer Preis 2006

Am 21. Oktober 2006 wird in Berlin vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) zum fünften Mal der Erwin-Fischer-Preis verliehen -

erstmals nicht an eine Person, sondern an eine Organisation: die Nesin-Stiftung (Nesin Vakfi) in der Türkei.
Nesin Vakfi wurde im Jahre 1972 von dem sich als Atheisten bekennenden türkischen Literaten Aziz Nesin gegründet. Die private Stiftung ist für Kinder und Jugendliche ohne Familien oder mit solchen Familien, die nicht in der Lage sind, für eine Ausbildung ihrer Kinder zu sorgen, konzipiert. Sie ist westlich von Istanbul angesiedelt, bei Çatalca auf einem Grundstück von ca. 5000 qm. Derzeit leben dort 40 Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts und jeden Schul-, Ausbildungs- und Studienalters. Die Nesin-Stiftung arbeitet nach den pädagogischen Prinzipien von Aziz Nesin auf säkular-laizistischer (nicht: atheistischer!) Grundlage: Religion gilt als Privatsache und ist nicht Unterrichtsgegenstand.

Aziz Nesin

Aziz Nesin (1915-1995) wurde als Kind anatolischer Immigranten in Istanbul geboren. Er gehört zu den bedeutendsten Autoren zeitgenössischer türkischer Literatur. Bekannt geworden ist er vor allem durch seine bissigen politischen Satiren. In über 200 Prozessen wurde versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Als 1993 in der Kleinstadt Sivas während eines Kulturkongresses Fundamentalisten das Tagungshotel anzündeten und 37 Künstler starben, konnte er dem Attentat knapp entkommen. Im August 1994 hatte ihm der Oberste Staatsanwalt der Türkei die Todesstrafe angedroht. Sein umfangreiches Werk wurde in über 40 Sprachen übersetzt und international vielfach ausgezeichnet. 1993 wurde Nesin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Er war Ehrenmitglied im deutschen und britischen PEN.
Neben der literarischen Arbeit ist Aziz Nesin durch seine entschiedene Einwirkung auf die kultur- und sozialpolitische Landschaft der gegenwärtigen Türkei bekannt. Eins seiner Ziele war, auf die türkische Erziehung Einfluss zu nehmen. Die Nesin-Stiftung, die er im Jahre 1972 gegründet hat, und die "Alternative Universität BILAR", deren Präsident er lange Jahre war, sind das offensichtlichste und konkrete Zeichen dafür.
Sein Werk lebt von der konfliktreichen, oft satirischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihren staatlichen Einrichtungen. Aziz Nesin war kompromisslos in seinem Kampf für die Gerechtigkeit, kompromisslos im Kampf mit den Mächtigen. Zu keiner Zeit ist er zurückgeschreckt, seine Meinung zu äußern, auch nicht in den besonders schweren Jahren nach dem Militärputsch von 1980. Er verbrachte mehrere Jahre in Gefängnissen. Vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wurde Aziz Nesin so viel gelesen, dass er mit seinem Einkommen nicht nur sich und seine Familie ernähren, sondern auch 1972 das Heim für Kinder und Jugendliche, die Nesin-Stiftung, ins Leben rufen konnte.
Aziz Nesin hat seine pädagogischen Prinzipien in seinem Werk "Korkudan Korkmak" (Die Angst vor der Angst) verfaßt. Hier einige Auszüge aus der 40-seitigen Abhandlung:

  • Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung entsprechend ihren Fähigkeiten zu konstruktiven und schöpferischen Menschen erzogen werden.
  • Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung mit kritischem Blick auf die Welt, die Menschen und die Ereignisse schauen.
  • Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung ohne Strafen aufwachsen. Es gibt in der Nesin-Stiftung keine Verbote. Von allen Ländern der Welt gibt es in der Türkei die meisten Verbote, und sie ist gleichzeitig das Land, in dem Verbote am häufigsten missachtet werden. Je mehr Verbote es gibt, umso öfter werden sie übertreten. Ich wünsche, dass in der Nesin-Stiftung weder Verbote aufgestellt noch angewendet werden, solange ich lebe und nach meinem Tod.
  • Die Kinder müssen das Recht haben, verwöhnt zu werden. Die kleinen Kinder sollen ausreichend in der Nesin-Stiftung verwöhnt werden. Die Kinder aber, die nach diesem Alter in die Stiftung kommen, sollen in einer Form, die den Mangel in der Verwöhnungszeit zudeckt, Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen erfahren.
  • Die Kinder in der Stiftung sollen lernen, was es heißt, in der Schuld der Gesellschaft zu stehen.
  • Ich möchte, dass meine Kinder in der Stiftung Liebe zu sich selbst empfinden können, dass sie in dieser Liebe und in Selbstachtung heranwachsen.
  • Ich möchte, dass meine Kinder in der Stiftung von der neurotischen Angst befreit werden und ein Leben weit entfernt davon führen.
  • Ich wünsche mir, dass meine Kinder in der Stiftung, wenn sie einmal im Leben stehen, eine Arbeit verrichten werden, die sie lieben.
  • Ich bemühe mich darum, dass meine Kinder der Stiftung im Denken und Verhalten eigenständig werden.
  • Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung eine reiche Phantasie entwickeln und große Visionen haben.
  • Es gibt eine sehr schlichte Wahrheit, die ich meine Kinder lehren will: Das Leben ist ein Kampf. Arme haben nur eine Verteidigungswaffe und nur ein Mittel zum Erfolg: arbeiten. Uns rettet allein das Arbeiten.

Aziz Nesin hat sich schon zu seinen Lebzeiten dafür eingesetzt, entgegen den Vorschriften in der Türkei an einem unbekannten Ort auf dem Stiftungsgelände begraben zu werden. Die staatlichen Behörden haben dem schließlich nachgegeben.

In Berlin-Kreuzberg gibt es seit einigen Jahren eine nach Aziz Nesin benannte Grundschule. Es ist eine von 14 Europaschulen in Berlin, die in einem Schulmodell Schüler zweier Staaten gleichberechtigt in beiden Sprachen unterrichten. Um die Namensgebung hatte es eine heftige Auseinandersetzung insbesondere mit fundamentalistischen Muslimen gegeben, an deren Ende auch einige Schulwechsel standen.

Der IBKA-Vorstand möchte mit der Vergabe des Erwin-Fischer-Preises an eine private türkische Sozialstiftung darauf aufmerksam machen, dass Säkularisten ihren Beitrag zum praktischen Humanismus leisten. Die kinderfreundlichen Erziehungsprinzipien von Aziz Nesin stehen im Gegensatz zu neuerdings auch hierzulande wieder beliebten Rufen nach autoritärerer Pädagogik. Auf der Basis humaner und menschenrechtlicher Grundlagen können Menschen unterschiedlicher Herkunft friedlich miteinander leben.

Erwin Fischer Preis

Der Erwin-Fischer-Preis wurde vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. (IBKA) in Erinnerung an den Anwalt Erwin Fischer gestiftet, der sich konsequent für Menschenrechte und die Trennung von Staat und Kirche eingesetzt hat. Mit dem Preis will der IBKA e.V. Personen auszeichnen, die sich in herausragender Weise um Weltanschauungsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche, Förderung vernunftgeleiteten Denkens und Aufklärung über Wesen, Funktion, Strukturen und Herrschaftsansprüche von Religionen verdient gemacht haben.
Bisherige Preisträger
2004 James Randi (Die Laudatio hielt Armadeo Sarma.)
2002 Dr. Taslima Nasrin (Die Laudatio hielt Christa Stolle.)
2001 Dr. Karlheinz Deschner (Die Laudatio hielt Prof. Dr. Ludger Lütkehaus.)
2000 Prof. Dr. Johannes Neumann und Dipl. Psychologin Ursula Neumann (Die Laudatio hielt Prof. Dipl. Ing. Dr. Baeger.)

Erwin Fischer: Stationen seines Lebens

Der vom IBKA gestiftete Preis ist benannt nach dem Anwalt Erwin Fischer (1904-1996), der als erster Jurist die enge Verflechtung von Staat und Kirche in der Bundesrepublik auf der rechtlichen Ebene kritisierte und die Interessen von Konfessionslosen vor Gericht vertrat.
Erwin Fischer, geboren 1904 in Reutlingen, trat 1919 aus der Kirche aus. Von 1922-1925 studierte er Rechtswissenschaften in München, Hamburg und Berlin; seit 1930 war er in Berlin als Rechtsanwalt tätig, seit Oktober 1930 auch als Geschäftsführer der Deutschen Hochschule für Politik.1933 wurde er aus diesem Amt entlassen, zudem wegen seiner SPD-Mitgliedschaft mit einem Vorlesungsverbot belegt. Während der Nazi-Zeit arbeitete er als Anwalt (u.a. vertrat er Paul Hindemith), 1942 wurde er eingezogen.
Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1945 ließ sich Erwin Fischer in Ulm als Anwalt nieder. Er gründete die "Gesellschaft für Bürgerrechte" und gehörte (1961) auch zu den Gründungsmitgliedern der Humanistischen Union (HU). 1993 wurde er von der HU mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnet.
Als Anwalt führte er mehrere Verfahren, in denen es um die Verteidigung der Bürgerrechte, insbesondere von Konfessionslosen und Andersgläubigen ging. So brachte er 1959 die Verfassungsbeschwerde eines im so genannten Rentenkonkubinat lebenden Paares vor das Bundesverfassungsgericht. 1965 erreichte er einen BVerfG-Beschluss, wonach die gesetzlichen Bestimmungen, welche die Kirchensteuer eines Angehörigen einer steuerberechtigten Religionsgesellschaft unter Berücksichtigung des Einkommens des Ehegatten bemessen und diesen für die Bezahlung in Anspruch nehmen, auch wenn dieser kein Mitglied der betreffenden Kirche ist, als verfassungswidrig einzustufen sind.
Mit seinem Buch "Trennung von Staat und Kirche", das 1964 erstmals erschien, formulierte er präzise seine Zielvorstellung einer modernen Gesellschaft, in der es keine Privilegien für bestimmte Religionsgemeinschaften mehr geben sollte. Damit wurde er zu einem der Vordenker für eine Reform des so genannten Staatskirchenrechts - die bis heute nicht erfüllt ist.

CF