„Prinzip Menschlichkeit"

Nach „Das Gedächtnis des Körpers, wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern" aus dem Jahr 2002, und dem sehr erfolgreichen Buch, „Warum

ich fühle, was du fühlst, intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen", das 2005 veröffentlicht worden ist, kam in diesem Jahr unter dem Titel, „Prinzip Menschlichkeit, warum wir von Natur aus kooperieren", ein weiteres Werk des Freiburger Mediziners und Psychotherapeuten Joachim Bauer auf den Markt.

In diesem neuen Buch setzt Bauer dort an, wo er zuletzt aufgehört hatte; nämlich bei der Kritik der Darwinschen Evolutionstheorie und ihren bis heute gültigen Grundprinzipien.
Dabei wird nicht die Evolution als biologischer Vorgang in Frage gestellt - auch Bauer geht prinzipiell von naturalistischen Grundlagen aus. Hinterfragt werden jedoch die auf der Darwinschen Theorie basierenden Grundprinzipien „Variation" und „Selektion" sowie der viel beschworene „Kampf ums Dasein" auf Kosten weniger lebenstüchtiger Individuen. Denn es bestehe heute, wie Bauer erklärt, weitgehende Einigkeit darin, dass die evolutionäre Entwicklung allein auf der Basis der von Darwin formulierten Prinzipien - Variation, Selektion und Kampf ums Dasein - nicht möglich gewesen wäre. Bauer wendet sich insbesondere gegen den Sozialdarwinismus, den Darwin zwar selbst nicht direkt begründet hat, der sich jedoch, nach Bauer, als direkte Konsequenz aus, über die Abstammungslehre hinausgehenden Annahmen Darwins ableite. (So spricht Darwin z.B. in „Abstammung des Menschen" von „untergeordneten Gliedern der menschlichen Gesellschaft", von einem „heftigen Kampf", dem der Mensch ausgesetzt bleiben müsse, wolle er weiter fortschreiten und von der Notwendigkeit einer offenen Konkurrenz unter den Menschen. Vgl. Darwin 1871 S. 700.)

Die These, die Bauer der auf Darwin gründenden Evolutionstheorie entgegenstellt: Nicht der egoistische Kampf ums Dasein und um die Weitergabe der eigenen Gene, ist die treibende Kraft in der Evolution, vielmehr bestimmt das Bemühen um Passung und um Kooperation deren Verlauf.

Joachim Bauer gründet seine Überzeugung primär auf den Erkenntnissen der Neurobiologie, die den Menschen als ein Wesen beschreibe, dessen zentrale Motivation auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet sind. Seinen biologischen Anlagen nach, ist der Mensch demnach ein zutiefst soziales Wesen. Dies betreffe, nach Bauer, letztlich alle Ziele, die dieser im Rahmen seines normalen Alltages verfolge. So erhielten Beruf, Ausbildung, finanzielle Ziele usw. dadurch einen meist unbewussten „Sinn", dass der Mensch damit letztlich zwischenmenschliche Beziehungen erwerben oder erhalten wolle.
Bauer dehnt dies auch auf solche Gefühle aus, die zunächst keineswegs diesem Ziel zu dienen scheinen. So sieht der Psychologe auch Aggressionen letztlich im „Dienste sozialer Beziehungen", da diese zum einen deren Verteidigung dienten und insbesondere dann ins Spiel kämen, wenn Beziehungen bedroht seien oder misslängen.
Belegt wird die Auffassung von der Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für das Individuum, mit den Erkenntnissen über das körpereigene „Motivationssystem" des Menschen, welches - wie auch bei „anderen Säugetieren" - über die Ausschüttung bestimmter Hormonen, wie z.B. Oxytozin, gesteuert wird.
Dieses Hormon, das ein Gefühl von Wohlgefühl und Handlungsbereitschaft erzeuge, wird nach Erkenntnis des Autors durch alle Formen freundlicher Interaktion, besonders aber durch körperliche Zärtlichkeit angeregt. Rückwirkend bewirke es eine verstärkte Bindung an den Menschen, der zur Ausschüttung geführt habe. Auf diese Weise manifestierten sich körperliche und geistige Erfahrungen mit andern Menschen in der genetischen Struktur des Individuums.

Bauers Ausführungen gründen auf neuen Erkenntnissen der Genforschung, denen zufolge Gene keineswegs feste Einheiten mit festen Funktionen sind. Die Arbeitsweise und Aktivierung der Gene werden vielmehr von externen Faktoren bestimmt. Indem sie das Muster bestimmen, nach denen die Gene eines Individuums schließlich auf Umweltreize reagieren, hinterlassen frühe Erfahrungen sowohl positiver als auch negativer Art, so Bauer, „eine Art biologischen Fingerabdruck".
Solche in der Medizin und Genforschung noch relativ jungen Erkenntnisse machen einerseits deutlich, wie tief, die soziale Ausrichtung des Menschen offensichtlich mit seiner biologischen Natur verbunden ist und zeigen andererseits, wie flexibel und formbar der menschliche Organismus auch nach der Geburt noch ist.
Vehement wendet sich Joachim Bauer daher gegen die Soziobiologie und die dort häufig vertretenen Vorstellung vom Gen als einer quasi autonomen Größe, die gemäß dem Bild, das Richard Dawkins gezeichnet hat, den Organismus als „Überlebensmaschine" „nutzen" und „lenken", um sich mit seiner Hilfe weiterzuverbreiten.
„Gene sind nicht die Kommandeure der Natur", schreibt Bauer. Sie seien vielmehr Träger von Informationen, deren Umsetzung von externen Faktoren abhängen, auf die sie keinen Einfluss hätten.

Tatsächlich ist es dem heutigen Wissen aus der Genforschung nach nicht einmal so ohne weiteres möglich, klar zu sagen, was ein „Gen" überhaupt ist. Es gibt daher Forscher, die es gänzlich vermeiden, den Begriff „Gen" überhaupt zu verwenden. Die neusten Erkenntnisse zeichnen nämlich in der Tat ein vollkommen anderes Bild von der Funktion und Arbeitsweise von Genen als es dem herkömmlichen Verständnis entspricht. Beispielsweise ist es keineswegs so, dass höher entwickelte Lebewesen, wie der Mensch, mehr Gene besitzen als einfachere Organismen. So hat eine Reispflanze trotz ihrer strukturellen Einfachheit sogar eine größere Anzahl von Genen als der Mensch. Die höhere Komplexität des Menschen muss sich demnach anderes erklären lassen als über die Zahl der Gene. Komplizierte Mechanismen, die sich vor allem auf die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des vorhandenen Genmaterials auswirken, scheinen hier von viel größerer Bedeutung zu sein. (Hierüber berichteten verschiedene Artikel zu den neusten Erkenntnissen der Genforschung, wie z.B. „Das neue Genom" in „Spektrum der Wissenschaft" Dossier 1/2006)

Bauer bezieht sich in seinem Buch vor allem auf die „Epigenetik", einem ganz jungen Wissenschaftszweig, der sich mit dem Einfluss von Umweltfaktoren auf das genetische Material und mit der Verarbeitung und Weitergabe von Informationen auf genetischer Ebene beschäftigt, die nicht mit einer Veränderung der DNA einhergehen. Nach den Erkenntnissen der Epigenetik, haben Umwelterfahrungen einen sich im Organismus manifestierenden Einfluss darauf, ob bzw. wie stark ein Gen abgelesen werden kann. (Inzwischen konnte von Prof. Joachim Klose vom Institut für Humangenetik der Berliner Charité über Experimente mit Mäusen, sogar nachgewiesen werden, dass diese erworbenen Strukturen an die nachfolgenden Generationen weiter gegeben werden können. Eine Erkenntnis, der eine bahnbrechende Bedeutung zukommt; galt eine Mutation bisher doch als die einzige Quelle evolutionärer Veränderung.)

Wenn Umwelteinflüsse tatsächlich solch eine große Bedeutung für die strukturelle Ausprägung des Organismus haben, dann relativiert sich in der Tat die Bedeutung der eigenen Gene und der Kampf um ihre Weitergabe an die Nachkommen im Vergleich zum dem, was man seinem Kind über ein soziales, intellektuelles, körperliches und emotionales Angebot mitgeben kann. Bedenkt man dann noch, dass Menschen genetisch zu über 99 % identisch sind und dass der genetische Unterschied zwischen Angehörigen derselben Bevölkerungsgruppe manchmal größer ist, als der zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen (Vergl. Hierzu z.B. den Artikel: „Menschenrassen - eine Fiktion" in Spektrum der Wissenschaft: „Das neue Genom"), scheint es, als werde die Bedeutung der Weitergabe „eigener" Gene, weit überschätzt.
Dies gilt insbesondere für die soziale Kompetenz eines Menschen, die dem heutigen Stand des Wissens nach, keineswegs als solche angeboren ist. Angeboren ist lediglich die genetische Grundausstattung für die Entwicklung dieser Kompetenzen. Erst dann wenn auch die entsprechenden Umweltbedingungen - wozu z.B. das Erleben von Fürsorge und emotionaler Zuwendung gehören - hinzukommen, entwickelt sich der Mensch in aller Regel tatsächlich auch zu einem kooperativen und sozialen Wesen. Das heißt: Sind diese Umweltbedingungen nicht oder nur mangelhaft gegeben, bzw. erfährt der Mensch als Kind vor allem Gewalt und Ablehnung, dann ist auch seine soziale Kompetenz gestört und wird demzufolge der Umgang mit andern Menschen von Gewalt geprägt. Auf eine kurze Formel gebraucht heißt das: Fürsorge erzeugt Fürsorge und Gewalt erzeugt Gewalt.

Joachim Bauer wendet sich deshalb so entschieden gegen die sozialdarwinistische Auffassung vom Menschen, weil diese seiner Überzeugung nach die Basis für ein Menschenbild bietet, das dem Menschen auf gefährlicher Weise nicht gerecht wird. Den Ausführungen Bauers nach führt das von Darwin geprägte und in die Soziobiolgie übernommene Menschenbild, letztlich zu einer permanenten Missdeutung der Motive und Bedürfnisse des Menschen und damit zu einer unmenschlichen Gestaltung der Gesellschaft. Auf entsetzliche Weise wurde dies in der Rassenideologie des dritten Reiches offensichtlich. Bauers Überzeugung nach erfuhr das auf Darwins Lehre vom Recht des Stärkeren und der Notwendigkeit eines andauernden Konkurrenzkampfes unter den Menschen aufbauende Menschenbild in der nationalsozialistischen Ideologie eine katastrophale Zuspitzung.

Inzwischen kann man hoffen, dass die Rassenideologie, zumindest in den aufgeklärten rechtstaatlichen Systemen überwunden wurde; das zugrunde liegend Bild vom Menschen jedoch ist, nach Bauer, auch heute noch vor allem in der Wirtschaft präsent. Dies wirke sich in der Praxis zu Lasten eines großen Teiles der Menschheit aus.

Kritische Anmerkung: Joachim Bauer bezieht sich bei seiner Kritik an der Soziobiologie fast ausschließlich auf die von Richard Dawkins formulierte Vorstellung von Funktion und Bedeutung der Gene. Im Großen und Ganzen setzt er bei seiner Auseinandersetzung mit Dawkins Theorie diese mit der Soziobiologie als Wissenschaft gleich. Seine Kritik an Dawkins spezieller Theorie wird damit zur Kritik an der Soziobiolgie als Ganzem. Eine Kritik an einer oder auch mehreren gängigen Theorien einer Fachrichtung - wie berechtigt diese auch immer sein mag - darf jedoch nicht übersehn, dass das Grundanliegen dieses Faches deshalb noch längst nicht „falsch" sein muss. Das Bemühen der Soziobiologie, das soziale Verhalten des Menschen auf der Grundlage seiner genetischen Verfassung zu erklären, widerspricht Bauers Anliegen eigentlich nicht. Worum es hier also gehen sollte, wäre daher weniger eine grundsätzliche Abgrenzung von einer Fachrichtung, als vielmehr das Erkennen des gemeinsamen Anliegens. Hieraus ergäbe sich dann der Appell, dieses gemeinsame Anliegen auch gemeinsam auf der Grundlage der aktuellen Forschungen - in diesem Falle der Genforschung - zu begründen. Die Genforschung bringt nämlich tatsächlich erstaunliche und zum Teil revolutionäre Erkenntnisse zu Tage, die das vorherrschende Bild von den Genen schwer erschüttern.

Fazit: Die Erkenntnisse der Neurobiologie lassen hoffen: nicht die Religionen, noch die hehre Vernunft es sind, die den Menschen zum „menschlich" sein erziehen müssen. Die humanistischen Prinzipien und Werte haben ihre Grundlage im Gegenteil im Wesentlichen in der angeborenen Natur des Menschen. Sie erhalten somit ihre Legitimation über den einfachen Anspruch, dieser Natur auch gerecht zu werden. Zum einen wäre es daher notwendig, die angeborene Natur des Menschen und die daraus erwachsenden Bedürfnisse zu erkennen, und zum anderen, sie in der Erziehung nicht zu unterdrücken, sonder frei zur Entfaltung zu bringen. Vielleicht ist dies die wichtigste Erkenntnis, die sich aus „Prinzip Menschlichkeit" ziehen lässt.

 

Anna Ignatius

 

Joachim Bauer: "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren." Hamburg: Hoffmann & Campe (September 2006), 256 Seiten, Euro 19,95.