Religion: Die neuesten Erkenntnisse (3)

(hpd) Wie lösen wir die größten Probleme unserer Gesellschaft? Woher stammt die Religion? Macht der Glaube glücklich? Brauchen wir mehr religiöse Vielfalt? Neueste Forschungsergebnisse bieten Antworten.

Die größte Revolution der Menschheitsgeschichte

Die menschliche Natur ist das Produkt einer Jahrmillionen währenden Entwicklungszeit, nur langsam und graduell kamen neue Elemente hinzu. Der Mensch trägt Adaptionen in sich, die aus einer Zeit stammen, als er noch nicht einmal ein Mensch war. Doch auch schon unsere affenähnlichen Vorfahren lebten in kleinen Gruppen, in der Rolle von Jägern und Sammlern.

In grauer Vorzeit gab es bereits Individuen, die mehr besaßen als andere, weil sie bei der Jagd oder beim Handel erfolgreicher waren. Eine Perlenkette mehr, oder eine zusätzliche Axt, waren jedoch kein Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. Vor etwa 10 000 Jahren veränderte sich die Art und Weise, wie die Menschen lebten, grundlegend. Es war der Beginn der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung des Menschen.

Mit der neolithischen Revolution wurde die Kontinuität des Daseins unterbrochen: Auf einmal entstanden große Städte. Nie zuvor mussten Menschen – oder irgendwelche anderen Tiere – mit Individuen der gleichen Art zusammenleben, die sie gar nicht kannten, mit denen sie nur entfernt verwandt waren. Die Landwirtschaft verlangte dem Homo Sapiens viel ab, die Arbeitszeiten wurden länger, aber er war auch nicht mehr schutzlos der Willkür gleichgültiger Naturmächte ausgeliefert. Die Nahrungsversorgung wurde verlässlicher, die Bevölkerungszahlen wuchsen, die Kindersterblichkeit sank und die Menschen wurden älter. Durch die Spezialisierung auf bestimmte Berufe wurde erstmals die systematische Verbesserung von Technologie ermöglicht, das Wissen wuchs rapide an und die Kunst erschuf immer aufwändigere Werke.

Die Revolution frisst ihre Kinder

Für die Segen der Landwirtschaft zahlten die Menschen jedoch einen hohen Preis: Die Macht- und Einkommensunterschiede stiegen ins Unermessliche, ins völlig Unvorstellbare. Besaßen vorher alle Menschen ähnlich viel, mit für alle nachvollziehbaren Unterschieden, die man sich durch Dienste an der Gemeinschaft, wie eine besonders erfolgreiche Jagd, erwerben konnte, so gab es nun plötzlich Großgrundbesitzer, später Könige, die unermessliche Reichtümer für sich beanspruchten. Diese gewaltigen Unterschiede widersprachen und widersprechen noch immer dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden unserer Spezies. Die Könige forderten eine große Missgunst und Eifersucht heraus.

Auf einmal waren die Menschen nicht mehr frei, sondern sie unterlagen dem Willen der Könige, die sie wirtschaftlich und existenziell von ihnen abhängig machten. Die Menschen hatten ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle. Sie fühlten sich unsicher, entmündigt und ausgeliefert, obwohl es ihnen materiell besser ging. In dieser Welt war keine Hilfe zu erwarten. Und so erfanden sie Gott, der die erdrückenden Ungerechtigkeiten entweder hier, oder in einer jenseitigen Welt, ausgleichen würde.

 

Aus dem Unrecht erwuchs der Glaube

„In unserer Ableitung haben wir die Enstehung der Religionen an die Neolithische Revolution geknüpft; sie wären also höchsten[s] 10 000 Jahre alt“ (S. 179), schreiben Thomas Junker und Sabine Paul in ihrem Buch Der Darwin Code. Animismus und Magie, die älter sind als Religion, sehen sie dabei als eigenständige Phänomene. Dieser Interpretation stimme ich zu und möchte ergänzend auf einen Artikel von Pascal Boyer hinweisen, der argumentiert, dass Höhlenmalereien keineswegs einen religiösen Hintergrund hatten, sondern überwiegend das Geschmiere sind von pupertierenden Steinzeitjungs, vergleichbar mit den Verzierungen öffentlicher Toiletten aus unserer Zeit.

Laut der Interpretation von Junker und Paul war Religion ursprünglich ein Mittel, mit dem Könige ihre Macht legitimierten, so paraphrasieren sie „Religion“ an einer Stelle sogar mit der „Unterwerfung unter die Interessen der Herrschenden“ (S. 185).

Zweifellos haben Könige ihre Macht auch und vor allem mit Hilfe der Priesterklasse legitimiert und sich beizeiten selbst zu Göttern oder Gottgesandten erklärt. Das konnte jedoch nur funktionieren, weil der Glaube an Gott bereits existierte. Religion ist nicht in erster Linie Priestertrug – wobei sie das auch ist. Doch in ihrem innersten Wesen ist Religion Opium des Volks, nicht Opium für das Volk. Dies legen neueste Forschungserkenntnisse zumindest nahe.

Die Hauptursache gesellschaftlicher Krankheiten

In ihrer Studie von 2004, Sacred and Secular, argumentieren die Forscher Pippa Norris und Ronald Inglehart erstmals für eine neue Variante der Säkularisations-Hypothese: Ihnen zufolge ist es nicht die technologische Entwicklung oder das Bruttoinlandsprodukt als solche, die zur Abnahme der Religion führen, sondern vor allem die persönliche Sicherheit, die eng gekoppelt ist an eine gerechte Einkommensverteilung.

Folgende Gesellschaftskrankheiten korrelieren stark mit ungerechter Einkommensverteilung: Kindersterblichkeit, geringe Lebenserwartung, Geschlechtskrankheiten, Teenagergeburten, Gewaltverbrechen, Korruption, psychische Störungen und Verluste in der Biodiversität. Bei allen hier verlinkten Studien wurde jeweils versucht, andere Faktoren auszuschließen und die Daten konkret auf einen Zusammenhang mit der Verteilungsgerechtigkeit zu prüfen. Wir können auf jeden Fall feststellen, dass eine zu große Kluft zwischen Arm und Reich eine Katastrophe ist für die Gesundheit einer Gesellschaft. Einkommensungerechtigkeit führt zu gesellschaftlichen Krankheiten, die wiederum die persönliche Unsicherheit erhöhen und über diesen Umweg die Religiosität ansteigen lassen.

Ein Heilmittel für alte Wunden

Das bedeutet, dass Einkommensgerechtigkeit das zentrale Anliegen jeder politischen Partei werden muss. Damit ist allerdings nicht Einkommensgleichheit gemeint. Ist das Einkommen unabhhängig vom Arbeitsaufwand, dann arbeitet niemand mehr, oder nur noch wenig, und die Wirtschaft bricht zusammen. Wenn planwirtschaftliche Experimente eines gezeigt haben, dann das. Auch haben unsere Vorfahren über Jahrmillionen hinweg keineswegs auf diese Art und Weise gelebt. Es gab schon immer gewisse Unterschiede in Besitz und Einkommen, nur keine derart gewaltigen wie heute.

Das Hauptargument gegen eine gerechte Einkommensverteilung lautet, dass Reiche ohne diese großen Unterschiede entweder keinen Antrieb mehr hätten, zu arbeiten, oder dass sie mit ihren Unternehmen ins Ausland abwandern würden, um dort einen höheren Gewinn zu erzielen. Die negativen Effekte für die Wirtschaft im Falle von mehr Verteilungsgerechtigkeit wurden allerdings in einer Studie vom Dezember 2008 von dem Wirtschaftswissenschaftler Lonnie K. Stevens widerlegt (siehe dazu auch Telepolis). Er untersuchte anhand von vier verschiedenen Maßstäben der Einkommensverteilung deren Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Ergebnis: Bei zwei der Verteilungskennzahlen ergab sich keine Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum bei gerechterer oder ungerechterer Einkommensverteilung. Bei den zwei verbliebenen Maßstäben sank das Wirtschaftswachstum bei fallender Verteilungsgerechtigkeit.

 

Für mehr Vielfalt auf dem Religionsmarkt

 

Religion - Böse sein und sich gut dabei fühlen

 

Es mag angesichts der bisherigen Aussagen dieser Artikelreihe seltsam klingen, aber wir brauchen unbedingt mehr religiöse Vielfalt. Je stärker sich die Regierung nämlich in religiöse Belange einmischt, zum Beispiel durch die finanzielle Förderung der beiden christlichen Großkirchen, desto weniger zufrieden sind Gläubige mit ihrer Kirche – und desto höher ist die allgemeine Religiosität. Diesen Zusammenhang belegt eine neue Studie. Laut der in Teil 2 präsentierten Studie von Tom Rees sind die staatliche Regulierung der Religionsgemeinschaften und der geringere Pluralismus der religiöseren Länder für ganze 18% der Gesamtreligiosität verantwortlich.

Der absolute Wahrheitsanspruch lässt sich schließlich nur schwer aufrechterhalten, wenn man von Religionsgemeinschaften umgeben ist, die ebenso frei erfundene Dinge glauben, für die sie ebenso keine Belege vorweisen können. Der eigene Glaube kommt den Menschen eher seltsam vor, wenn nebenan die Pastafari ihr fliegendes Spaghettimonster verehren. Zudem kann durch freien Wettbewerb am Religionsmarkt garantiert werden, dass die Religionsgemeinschaften ihren sozialen Verpflichtungen nachkommen und das Geld auch wirklich für ihre Gemeinden ausgeben. Monopolisten verfahren da anders, wie wir es in Deutschland erleben dürfen.

Die Regulierung gesellschaftlicher, religiöser und politischer Freiheit durch die Regierung macht religiöse Menschen deutlich unglücklicher. Je freier eine Gesellschaft, desto zufriedener die Gläubigen, denn sie können sich genau die Gemeinde aussuchen, die ihre Bedürfnisse am ehesten befriedigt. Je mehr eine Regierung eine bestimmte Gruppierung bevorzugt, desto unzufriedener und unglücklicher werden die Gläubigen.

In Deutschland zahlen die Bürger, unabhhängig von ihrer Konfession, 98% der kirchlichen Sozialkonzerne (Caritas, Diakonie, etc.) von ihren Einkommenssteuern und Beiträgen, außerdem zahlen sie die Gehälter der katholischen Bischöfe. Von ihren Kirchensteuern bezahlen die Angestellten der Sozialkonzerne wiederum einen Teil ihrer eigenen Gehälter, der Rest wird von den Kirchensteuern allgemein finanziert. Diese Praxis widerspricht zwar der grundgesetzlich verankerten Trennung von Kirche und Staat, aber das kümmert Politiker nicht.

Vielleicht könnte sich das ändern, sobald Gläubige einsehen, dass die Trennung von Kirche und Staat eindeutig in ihrem Interesse liegt. Die einzigen Profiteure der aktuellen Regelung sind nicht die Durchschnittsgläubigen, sondern wenige Bischöfe und Chefs der Kirchen, die sich aus allgemeinen Steuermitteln ein schönes Leben machen. Die Trennung von Kirche und Staat ist somit ein gemeinsames Anliegen von Gläubigen und Atheisten.

Macht Religion glücklich?

 

Glücklichkeit Gläubige Atheisten

 

Ein weiteres Ergebnis dieser Studie lautet: Es macht glücklich, eine religiöse Identität zu haben, also ein selbsterklärter „religiöser Mensch” zu sein, im Gegensatz zu einem nichtreligiösen Menschen. Gleichsam hat sich herausgestellt, dass vor allem Agnostiker ein Problem haben. Überzeugte Atheisten sind nämlich, zieht man den Faktor der gesellschaftlichen Anerkennung ab (der je nach Gesellschaft unterschiedlich ausfällt), ebenso glücklich wie jene, die von Gottes Existenz überzeugt sind. Vor allem persönliche Überzeugung und soziale Anerkennung sind also die Faktoren, die emotionale Stabilität garantieren, nicht so sehr die Art der Überzeugung. Dass eine religiöse Identität glücklicher macht, liegt sehr wahrscheinlich an der höheren sozialen Anerkennung einer religiösen Identität im Vergleich zu der einer atheistischen.

Der Effekt ist sogar ziemlich stark: Eine religiöse Identität macht halb so glücklich, wie verheiratet zu sein (was im Umkehrschluss natürlich doppelt so glücklich macht). Laut einer weiteren neuen Studie reduziert Religiosität Depressionen, Anspannung und Selbstmordversuche. Die Reduktion von Depressionen und Selbstmordversuchen kann allerdings mit der Teilnahme an einer Gemeinschaft erklärt werden. Der Glaube an Gott spielt dabei wohl keine Rolle. Im Gegenteil sind Menschen, die Gott näherstehen, aber wenig am Gemeindeleben teilnehmen, unglücklicher als Nichtreligiöse. In einer Studie mit Mormonen waren die Nicht-Kirchgänger sogar doppelt so depressiv. Der Glaube an Gott verringert also die Anspannung und stabilisiert die persönliche Sicherheit, aber glücklicher oder weniger depressiv macht er nicht.

 

Frohes Metzeln

 

Die „Familia Michoacana“, eines der brutalsten Drogenkartelle der Welt, hat bekanntgegeben, dass ihre Gangster fromme Evangelikale sind, die sich um ihre Familie und ihre Gemeinschaft kümmern und Spielzeuge an Kinder in den Armenvierteln Mexikos verteilen.

„Wer Fehler macht, wird für eine lange Zeit zusammengebunden. Wenn der Fehler groß ist, wird er gefoltert. Gibt es einen Verlust von Vertrauen und Betrug, dann muss er sterben“, erklärte ein Kartellsprecher namens „Der Onkel“ dem mexikanischen Nachrichtenmagazin Proceso. „La Familia“ hat von sich Reden gemacht, als sie fünf Rivalen die Köpfe abhackte und sie auf den Tanzboden einer Discothek rollte. „Das Böse wird nur so lange herrschen, bis Jesus es beendet“, schreibt ein Unterstützer, der sich „Der Botschafter“ nennt, im Internetforum des Kartells. „Niemand wird von göttlicher Gerechtigkeit verschont werden und sie können sich das Leid und die Qualen nicht vorstellen, die sie durchmachen müssen.“

Wie schon gesagt: Eine positive moralische Identität fördert unethisches Verhalten. Wir können davon ausgehen, dass die Gangster der „Familia“ sehr glücklich sind, entspannt, ausgeglichen und dass es eher unwahrscheinlich ist, dass sie Selbstmord begehen. Religiosität ist eben auch für Mafiosi ein Segen, die Stresslinderung und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten als Folterer und Schlächter dringend benötigen.

Die Droge Gott

Die Haupterkenntnis meiner Synthese von Studien zur Religiosität besteht darin, dass Religion ein Mittel gegen persönliche Unsicherheit ist. Religiosität macht auf die gleiche Art und Weise selbstsicher wie Drogenkonsum. Es ist keine wirkliche Sicherheit, die aus der Heilung gesellschaftlicher Wunden resultieren würde, sondern der Glaube ist ein Schmerzmittel, das unerträgliche Zustände erträglicher macht, ohne sie zu verändern. Religiöse Benebelung erschwert sogar die Verbesserung der Gesellschaft. Es ist so, als müsste man eine Glühbirne auswechseln, während man langsam im Treibsand versinkt.

Im nächsten Teil, der noch vor der Sommerpause erscheint, geht es um die Frage, ob der Mensch von Natur aus religiös ist. Außerdem: Gott ist eine Droge – was nun?

 

Index

Gott und der Tod

Religion: Die neuesten Erkenntnisse (1)

Religion: Die neuesten Erkenntnisse (2)

Religion: Die neuesten Erkenntnisse (3)

Religion: Die neuesten Erkenntnisse (4)

 

Andreas Müller