„Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“ lautet der Titel des neuen Buchs von Michael Schmidt-Salomon, das am 11. September im Pendo Verlag (Piper) erscheinen wird. „Es ist mein wichtigstes Buch“, sagt der Autor selbst – und hat wahrscheinlich Recht damit: Denn wo Nietzsches „Umwertung aller Werte“ einst endete, setzt Schmidt-Salomon neu an.
Wohl nie zuvor wurde das traditionelle Weltbild so radikal in Frage gestellt, wurde die naturalistisch-humanistische Position so konsequent zu Ende gedacht und dabei zugleich derart anschaulich geschildert. hpd-Redakteurin Fiona Lorenz sprach mit dem Autor über das Buch und die Debatten, die es auslösen könnte.
hpd: „Jenseits von Gut und Böse“ hieß bekanntlich schon ein Werk Friedrich Nietzsches. Was brachte dich dazu, ein Buch mit dem gleichen Titel auf den Markt zu bringen?
Schmidt-Salomon: Das war nicht meine Idee, sondern eine des Verlags. Obwohl der Titel den Inhalt des Buchs hervorragend trifft, war mir im ersten Moment unwohl bei dem Gedanken, mich so offensichtlich an Nietzsche anzulehnen. Dann erinnerte ich mich jedoch daran, wie Nietzsche sein Werk untertitelt hatte: „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. Und das hat nun wirklich seinen Reiz…
hpd: Moment mal: Du meinst also im Ernst, die „Philosophie der Zukunft“ geschrieben zu haben, zu der Friedrich Nietzsche bloß ein „Vorspiel“ verfasste?
Schmidt-Salomon (lacht): Das klingt schrecklich anmaßend, nicht wahr? Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte mich ganz gewiss nicht für einen bedeutenderen Philosophen als Nietzsche. Der Punkt ist vielmehr, dass wir heute aufgrund des gestiegenen Wissenstandes viel leichter die Anforderungen einlösen können, die Nietzsche an eine „Philosophie der Zukunft“ stellte. Der „Umwerter aller Werte“ wusste noch nichts von den Erkenntnissen der Hirnforschung, Genetik, Evolutionsbiologie, Psychologie und Soziologie…
hpd: Würde Nietzsche dein Buch mit Zustimmung lesen?
Schmidt-Salomon: Das ist schwer zu beantworten. Lebte Nietzsche heute, hätte er andere Erfahrungen gemacht und somit auch eine andere Philosophie entwickelt. Der Nietzsche des 19. Jahrhunderts wäre sicherlich mit einigem, was ich schrieb, einverstanden gewesen, manches jedoch hätte er in Bausch und Bogen verrissen.
hpd: Inwiefern?
Schmidt-Salomon: Nietzsche war ein hervorragender Stilist und in vielerlei Hinsicht auch ein großartiger Psychologe, aber ein Humanist war er ganz sicher nicht! Die humanistische Grundausrichtung meines Buchs, die Betonung von sozialer Gerechtigkeit, von Mitleid und Mitfreude als Basis einer menschenfreundlichen Ethik, hätte ihn sicher abgestoßen. Auf der anderen Seite hätte er den konsequenten Abschied von Gut und Böse bzw. vom „Folterinstrument der Willensfreiheit“ jedoch zweifellos begrüßt. Was die Absage an den „Moralismus-Wahn“ betrifft, liegen wir auf einer Linie…
Von Adam und Eva zu Adolf Eichmann
hpd: Du spannst in dem Buch einen sehr großen Bogen. Im Klappentext heißt es, dass du die Leser auf eine Reise mitnimmst, „die von Adam und Eva bis zu Adolf Eichmann, von den Protozellen der Ursuppe über die Terrorzellen von al-Qaida bis hin zu den Folterzellen in Abu Ghraib führt“. Wie kamst du auf die Idee, deine Argumentation so aufzuziehen?
Schmidt-Salomon: Dass die „Geschichte von Eva und dem Apfel, der keiner war“ den roten Faden des Buchs bilden würde, war mir recht früh klar. Vor vielen Jahren fiel mir eine Stelle in Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ auf, in der gefragt wird, ob wir, sollten wir ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen, wieder in den Zustand der Unschuld zurückfallen würden. Diese Denkfigur hat mich sehr fasziniert und so nutzte ich sie für die Grundstruktur des Textes. Also lasse ich Adam und Eva im ersten Teil des Buchs („Die neuen Früchte der Erkenntnis“) noch einmal vom Baum der Erkenntnis essen, woraufhin sie die Nichtigkeit von Gut und Böse sowie ihre eigene Unschuld entdecken. Im zweiten Teil („Die neue Leichtigkeit des Seins“) zeige ich auf, wie ein Leben jenseits von Gut und Böse, Schuld und Sühne aussehen könnte …
hpd: Die Verwendung der Sündenfallgeschichte ist absolut einsichtig. Ich schätze aber, dass sich etliche Leser daran stören werden, dass du das „Paradigma der Unschuld“ ausgerechnet an SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann demonstrierst! War diese Provokation wirklich notwendig?
Schmidt-Salomon: Um die Tragweite einer Idee richtig einschätzen zu können, muss man sie konsequent zu Ende denken, das heißt: man muss austesten, was sie im Ernstfall bedeutet. Ich zeige in dem Buch auf, dass ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt nur das wollen kann, was er in diesem Moment unter dem Einfluss der ihn bestimmenden Determinanten wollen muss. Die moralische Unterstellung, er hätte sich auch anders entscheiden können, beruht auf einer Illusion, die nicht nur empirisch falsch ist, sondern auf vielen Ebenen unseres Lebens großen Schaden anrichtet. Wenn diese Einschätzung richtig ist – und dafür sprechen viele Argumente –, so muss man sich anschauen, was sie im Ernstfall bedeutet. Eichmann, der maßgeblich an der Durchführung des Holocaust beteiligt war, ist ein solcher Ernstfall. Wie verhalten wir uns ihm gegenüber, nachdem wir uns von der Idee der Willensfreiheit und dem Dualismus von Gut und Böse verabschiedet haben? Das ist eine wirklich spannende Frage.
hpd: Die Wahl Eichmanns zum „Kronzeugen“ in deinem Buch ist wohl auch auf Hannah Arendts berühmtes Werk „Eichmann in Jerusalem“ zurückzuführen…
Schmidt-Salomon: Selbstverständlich, schließlich radikalisiere ich Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“, den sie im Rahmen ihrer Berichterstattung vom Eichmann-Prozess prägte. Außerdem entdeckte ich im Zuge meiner Recherche die lange unter Verschluss gehaltenen Memoiren Eichmanns, die wirklich hochinteressant sind, aber bislang philosophisch kaum beachtet wurden. Sie belegen eindrucksvoll ein Phänomen, das ich als „Willen zur Ohnmacht“ beschreibe. Aus der Angst heraus, eigene Entscheidungen treffen zu müssen und dabei möglicherweise kläglich zu versagen, flüchten sich viele Menschen in die verführerische Geborgenheit totaler Unterwerfung. Eichmanns esoterischer Schicksalsglaube ist dabei besonders interessant, denn er verdeutlicht, wie der Abschied von der Willensfreiheit auf keinen Fall vonstatten gehen darf…
hpd: Hast du keine Angst vor solchen Schlagzeilen wie: „Atheist behauptet: Auschwitz war nicht böse und Eichmann unschuldig“?
Schmidt-Salomon: Natürlich muss man damit rechnen, dass der Inhalt des Buches von interessierter Seite grob verfälscht wird. Aber hätte ich deshalb weniger deutlich schreiben sollen? Wer das Buch liest, der wird verstehen, warum ich es ablehne, Auschwitz als „Inbegriff des Bösen“ zu bezeichnen. Denn aus Auschwitz lernen, heißt, auf die Idee des Bösen zu verzichten! Wie ich ausführlich darlege, trug die Idee des Bösen, die von der Nazipropaganda in vielen Varianten durchgespielt wurde, maßgeblich zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus bei. Das heißt: Wer Auschwitz als „Inbegriff des Bösen“ auffasst, der reaktiviert ungewollt einen Teil jener Meme, die zum Holocaust geführt haben. Und was Adolf Eichmann betrifft, so war dieser Mann selbstverständlich objektiv schuldig, unsägliche Verbrechen gegen die Menschheit begangen zu haben – allerdings hätte er sich tragischerweise niemals anders entscheiden können, als er es tat. Insofern steht das Prinzip der moralischen Schuldfähigkeit auch in seinem Fall auf sandigem Fundament …