(hpd) Dieses Buch dürfte manche Menschen verstören und verärgern, soviel ist klar. Mich begeistert es! Thomas Metzinger entwirft eine in Teilen radikal neue Philosophie des Selbst, welches nicht einmal existiert, und zeigt einen Weg von der aktuellen Hirnforschung zu einer neuen Ethik des Bewusstseins.
Metziger schrieb das Buch, wie er ausführt, um einer „moralischen Verpflichtung“ nachzukommen, nämlich jene von Naturwissenschaftlern und Philosophen, sich mit der „anthropologischen und normativen Leere“ auseinanderzusetzen, die sie durch ihre Arbeit erzeugen. Denn es ist absehbar, dass sie „nebenbei alles zerstören“ werden, „woran die Menschheit während der letzten 25 Jahrhunderte ... geglaubt hat.“
Die naturalistische Wende die Metzinger postuliert, wird unser Menschenbild möglicherweise dramatisch verändern und birgt ernstzunehmende Risiken, die wir gründlich angehen sollten.
Doch worin bestehen diese Neuerungen?
Dass es wohl kein „Selbst“ gibt, ist ein nicht mehr ganz unbekannter Gedanke. Welche Entität aber hat denn bewusstes, subjektives Erleben? Wer träumt Ihre Träume? Wer fühlt Ihre Gefühle?
Vom Selbstmodell zur Ego-Maschine
In einer leicht nachvollziehbaren Form, in der er sogar eigene Erfahrungen beschreibt, führt der Philosoph Thomas Metzinger einige grundlegende Konzepte der gegenwärtigen Bewusstseinsforschung ein.
Das Ego versteht Metzinger als nützliches Werkzeug, welches sich im Laufe der Evolution entwickelte, und welches beim Menschen in der Lage ist, sich selbst zu repräsentieren – in einem phänomenalen Selbstmodell (PSM). Mit außerkörperlichen Erfahrungen (OBEs), virtuellen Körpern und Phantomgliedern zeigt er auf, wie schnell unser Gehirn das Selbstmodell auch nachhaltig verändern kann und wie das Gefühl der „Meinigkeit“ entsteht, wenn zum Beispiel Werkzeuge und Autos Teile unseres Selbstmodells werden. Aber nicht nur Menschen, auch manche Tiere erweitern ihr Selbstmodell um das gebrauchte Werkzeug. Selbst Roboter können das lernen.
Die Willensfreiheit und das Handlungsbewusstsein thematisiert der Autor knapp und schlüssig. Anhand von Träumen – die übrigens bedeutungslose Hirnkonstruktionen sind: Lebewohl Traumdeutung! – und vor allem von Klarträumen zeichnet Metzinger ein neues Bild des Ego. Des Ego, welches sich in sozialen Interaktionen konstruiert: Empathie, Einfühlungsvermögen, Spiegelneuronen oder „Gedankenlesen“ sind wichtige Elemente in der Entstehung unseres Konzeptes der Welt und unseres Ego-Tunnels, aus der heraus wir diese Welt wahrnehmen.
Das Bewusstsein ist, so Metzinger, wie ein Tunnel: nur ein Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Dieser Tunnel (ja, das Höhlengleichnis!) durch die Wirklichkeit reicht aber offensichtlich prima aus, um zu überleben.
Der aktuelle Forschungsstand bezüglich künstlichen Bewusstseins – zum Beispiel RoboRoach, die Cyborg-Roboterkakerlake – führt Metzinger zur Frage, ob man solches experimentell implementieren sollte in Form postbiotischer Ego-Maschinen, was er allerdings aus ethischen Gründen eindeutig verneint.
Die aus den Erkenntnissen zur Hirnforschung resultierenden neuen Menschenbilder und daraus entstehenden Bedürfnisse nach Erweiterung der Fähigkeiten des Gehirns mittels Drogen, stellen für Metzinger ein außerordentlich wichtiges gesellschaftspolitisches Thema dar, welches proaktiv angegangen werden sollte. Damit kommt er zur Formulierung einer „Neuroethik“ bzw. „Bewusstseinsethik“, in der er herausarbeitet, welche Bewusstseinszustände wir wie fördern und kultivieren und welche wir aus unserer Gesellschaft verbannen sollten.
Gespräche mit Koryphäen ihrer jeweiligen Fachgebiete, wie dem Neurophysiologen Wolf Singer, dem Entdecker der Spiegelneuronen, Vittorio Gallese, oder dem Psychiatrie-Professor Allan Hobson, runden die Themenerschließung ab.
Fazit
Insgesamt präsentiert Metzinger mit dem „Ego-Tunnel“ eine ungemein interessante, komplexe und kenntnisreiche Darstellung aktueller, auch ungewöhnlicher Forschungsergebnisse. Seine gesellschaftspolitischen Bedenken sind ernst zu nehmen. Mir hat das Buch jedenfalls neue, wundervolle Welten erschlossen und in mir die Erkenntnis freigesetzt, Zeugin und „Betroffene“ einer jungen, aufregenden Entwicklung zu sein. Daher meine Empfehlung: Lesen Sie es, unbedingt!
Fiona Lorenz
Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Das Buch im denkladen.