Die Folgen verdrängter Kindheitsdramen

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Ohne Titel / Alice Miller

(hpd) Ein Interview mit Alice Miller, die sich in ihrem gesamten Werk kritisch mit psychotherapeutischen und pädagogischen Fragen auseinandersetzt. Ihr besonderes Anliegen sind Kinder und die Beendigung von Kindesmisshandlungen.

1. Wie definieren Sie den Begriff „Kindesmisshandlung“?

Ich spreche von Kindesmisshandlung auch da, wo das Kind nicht respektiert, erniedrigt, verwirrt, betrogen und sexuell missbraucht wird. In allen diesen Fällen wird mir übrigens kaum widersprochen. Hingegen gelingt es mir oft nicht, Menschen zu informieren, dass das Schlagen der Kinder eine folgenschwere Misshandlung ist, weil dies seit Jahrtausenden praktiziert wird und als Erziehung zum Besten des Kindes bezeichnet wird. Fast alle heute lebenden Eltern wurden als Kinder geschlagen und mussten leider sehr früh von ihren Eltern lernen, dass diese Praxis als harmlos und richtig anzusehen ist. Dieses falsche „Wissen“ ist also in ihrem Gehirn gespeichert und bei vielen kaum zu entfernen. Das Gegenteil zu begreifen, würde bedeuten, ihre Eltern in Frage zu stellen, und das macht den meisten Menschen Angst. Sie erwarten Strafen, gerade WEIL sie als Kinder für die Wahrheit mit Schlägen bestraft wurden.

2. Wie sehen Sie die Rolle der Religionen/Kirchen im Bezug auf die Kindesmisshandlung?

Ich sehe in allen mir bekannten Religionen die Forderung, die Eltern und Ahnen in hohen Ehren zu halten, auch wenn diese noch so brutal mit dem Kinde umgegangen sind. Fast alle Menschen halten sich daran, auch wenn sie mit ihrer Gesundheit dafür bezahlen müssen, weil der Körper die Moral nicht versteht. Er kann nicht lügen, er hat die Erinnerung an die erlittenen Qualen gespeichert und drängt uns dazu, seine Wahrheit zu respektieren. Ohne uns zu belügen, können wir nämlich nicht Menschen wirklich lieben und ehren, die uns viele Jahre lang gequält haben.

3. Welche Erfahrungen haben Sie mit Vertretern der Kirche im Bezug auf diese Thematik gemacht?

Wie Sie wissen, habe ich etliche Briefe an die beiden Päpste und auch an manche Kardinäle, unter anderem an Kardinal Lustiger, geschrieben, doch entweder keine oder ausweichende Antworten erhalten. Ich bat um das Informieren junger Eltern, dass das Schlagen kleiner Kinder gefährlich sei, weil es bereits wissenschaftlich erwiesen sei, dass es das Gehirn schädigt. NIEMAND zeigte an dieser Information das geringste Interesse oder die Spur der Barmherzigkeit für die Abermillionen von geschlagenen kleinen Kindern. Mir war es, als hätte ich ein Rezept für ein komisches, exzentrisches Gericht empfehlen wollen. Die Einzelheiten dieser Korrespondenzen beschreibe ich in meinem Buch „Evas Erwachen“

4. Wie wirkt sich die Misshandlung von Kindern auf die Gesellschaft aus?

Die Kinder von heute sind die Bürger von morgen. Sie durften sich gegen die Angriffe ihrer Eltern nicht wehren, waren hilflos, mussten ihren Zorn tief unterdrücken, um weitere Strafen zu vermeiden, aber sobald sie erwachsen werden, meldet sich dieser Zorn und richtet sich vor allem gegen die eigenen Kinder, aber auch gegen andere Menschen, die man straflos als Sündenböcke benutzen kann. An hohen Positionen angelangt, kann man ganze Völker dafür benutzen, um den in der Kindheit aufgestauten Zorn an Millionen abzureagieren. In meinem Buch „Abbruch der Schweigemauer“ habe ich am Beispiel von Ceausescu mit Hilfe von vielen Details aufgezeigt, wie dies in Rumänien unter seiner Herrschaft funktionierte. Sehr viele Menschen reagieren diesen unterdrückten Zorn nicht an anderen ab, sondern bestrafen sich selbst für das, was ihnen angetan wurde, wie sie es in der Kindheit gelernt haben und wie es ihre Religion verlangt. Sie werden krank, abhängig von Drogen oder Medikamenten und leiden an Depressionen. Sie nehmen das alles in kauf, um ja niemals ihre Eltern anzuklagen.