(hpd) Ist René Descartes, einer der wichtigsten Philosophen der europäischen Neuzeit und ein Vorläufer der Aufklärung, ermordet worden? Entsprechende Gerüchte gab es bereits unmittelbar nach seinem Tod im Februar 1650. Nun hat der Erlanger Philosophieprofessor Theodor Ebert ein Buch vorgelegt, das die Indizienkette schließt. hpd sprach mit dem Autor.
hpd: Dass ein Kriminalfall nach 30 Jahren neu aufgerollt wird, haben wir vor wenigen Wochen wieder einmal erlebt. Aber welche Möglichkeiten zur Aufklärung einer Tat bestehen denn, wenn das mutmaßliche Verbrechen über 350 Jahre zurück liegt?
Theodor Ebert: Die Möglichkeit zur Aufklärung hängt im untersuchten Fall so gut wie ausschließlich von den zur Verfügung stehenden Quellen ab. Was diesen Fall angeht, so verfügen wir glücklicherweise über eine Reihe von Dokumenten sowohl zum Krankheitsverlauf wie auch zur Einstellung und zur Rolle des vermutlichen Mörders. Durch eine Zusammenführung dieser Zeugnisse ergibt sich ein Bild, das einen Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu sagen, fast sicher macht.
hpd: Allerdings spricht gegen die These einer Ermordung Descartes’, dass sämtliche Zeugen aus dieser Zeit, einschließlich des Briefautors Johann van Wullen und des ersten Descartes-Biographen Adrien Baillet, von einem natürlichen Tod ausgehen...
Theodor Ebert: Es war für die Personen in Descartes’ unmittelbarer Umgebung, aber auch für Adrien Baillet, der vierzig Jahre nach dem Tode Descartes’ eine sehr faktenreiche Biographie verfasst, kaum möglich, eine Ermordung Descartes’ zu behaupten. In Stockholm hätte eine solche Behauptung sowohl für den französischen Botschafter Chanut, bei dem Descartes Wohnung genommen hatte, als auch für den schwedischen Hof, an den Descartes von der Königin Christina eingeladen worden war, zu einem unglaublichen Skandal geführt. Und wer eine solche These aufgestellt hätte, würde sich möglicherweise um seine Stellung, vielleicht auch um Kopf und Kragen gebracht haben. Schließlich war eine Tötung durch Arsenik ohne ein Geständnis des Mörders damals ohnehin nicht zu beweisen. Den Personen, die am Hof Christinas tätig waren, fehlten im Jahre 1650 überdies Kenntnisse zu Umständen, die für das Motiv des vermutlichen Mörders aufschlussreich sind. Charakteristisch ist die Bemerkung eines der Philologen am schwedischen Hof: „Auf welche Weise er“ – also René Descartes – „zu Tode gekommen ist, das ist hier wirklich ein Rätsel.“ Diese Personen konnten allenfalls von der Vermutung einer Vergiftung berichten und haben das auch getan. Was Baillet angeht, so ist er zwar im Besitz von Kenntnissen, welche den Gelehrten an Christinas Hof im Jahre 1650 noch nicht zur Verfügung standen, aber er kann gerade wegen der Person, die er wohl verdächtigt – es handelt sich immerhin um einen katholischen Geistlichen – im Frankreich Ludwigs XIV. einen konkreten Tatverdacht nicht äußern. Bestimmte Reaktionen auf seine Darstellung lassen aber erkennen, dass seine Zeitgenossen hinter der Darstellung eines natürlichen Todes durch Lungenentzündung hier durchaus die Geschichte eines nicht natürlichen Todes gelesen haben.
hpd: Was steht denn nun „zwischen den Zeilen“ der uns heute vorliegenden Berichte über Krankheit und Tod René Descartes’?
Theodor Ebert: Die wichtigste Information ist die Mitteilung durch den Arzt Johann van Wullen, dass Descarte s, der über medizinische Kenntnisse verfügte, während seiner Krankheit ein Brechmittel verlangt. Bei einer Lungenentzündung oder einer anderen Erkrankung des Brustraumes wäre das kaum eine angezeigte medizinische Maßnahme – wohl aber bei einer Vergiftung. Auch die berichteten Symptome sowohl in dem Brief des Arztes van Wullen als auch in dem Bericht, den Descartes’ Kammerdiener und Sekretär Heinrich Schlüter verfasst, stimmen mit den Symptomen einer Arsenikvergiftung überein. Beide Dokumente sind übrigens einen Tag nach dem Tod aufgezeichnet worden.
hpd: Das klingt durchaus plausibel. Bei der Suche nach dem Mörder sind Sie allerdings in stärkerem Maße auf Vermutungen, die sich heute kaum mehr belegen lassen dürften, angewiesen. Was gibt Ihnen die Sicherheit, mit Ihrer These richtig zu liegen?
Theodor Ebert: In der Tat hat man es hier nicht mehr mit Berichten über beobachtete Symptome und über das Verhalten und die Äußerungen des Kranken selbst zu tun. Hier geht es vielmehr um Zeugnisse, die großenteils nicht unmittelbar nach der Krankheit entstanden sind, sondern oft Jahre, zum Teil auch erst Jahrzehnte später. Jedes dieser Dokumente für sich genommen würde für einen begründeten Verdacht nicht ausreichen, aber in ihrer Summe ergeben sie doch einen starken Verdacht, der über bloße Vermutungen hinausgeht. Anzumerken ist an dieser Stelle natürlich auch, dass ein Teil der einschlägigen Zeugnisse erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts publiziert worden ist und dass sie nicht gerade im Focus der akademischen Descartes-Forschung standen, weil es sich um kirchengeschichtliche Texte, um Protokolle der päpstlichen Kongregation Pro propaganda fide, handelt.
hpd: Und was wäre in Ihren Augen eine akzeptable Widerlegung Ihrer These?
Theodor Ebert: Widerlegt wäre die These, soweit es sich um die Symptomatik der Erkrankung handelt, wenn sich das Krankheitsbild plausibel als durch natürliche Einflüsse verursacht erklären ließe, wenn man insbesondere eine Vergiftung sicher ausschließen könnte. Widerlegt wäre die These, was den vermuteten Mörder angeht, wenn sich für das Verhalten des Verdächtigen selbst wie auch das seiner sozialen Umgebung ihm gegenüber, etwa durch bislang nicht bekannte (oder von mir nicht berücksichtigte) Dokumente, eine plausible alternative Erklärung finden ließe.