Evolution: zwischen Zufall und Notwendigkeit

Die Evolution ist derzeit wieder zu einem großen Thema geworden. Der Grund hierfür sind neueste Erkenntnisse und Theorien aus der Biologie.

Insbesondere die Ergebnisse der Genforschung vermittelten ganz neue Aspekte über die Mechanismen der Vererbung.

Jüngst sind im Magazin „Wissen" der Süddeutschen Zeitung sowie in der deutschen Ausgabe des „National Geographic" zwei weitere Beiträge zu diesem Thema erschienen.

„Zufall Mensch", so der (abgebildete) Titel des in der Januar/Februar 2007 Ausgabe von „Wissen" veröffentlichten Artikels, in dem verschiedene Positionen zur Notwendigkeit bzw. zur Zufälligkeit der Entwicklung des Menschen von sehr unterschiedlichen führenden Wissenschaftlern diskutiert werden.

Dabei wird offensichtlich, dass das Wissen über die Evolution bzw. die Deutungen der gefundenen Daten noch sehr unklar und vor allem stark weltanschaulich geprägt sind.

Auf der einen Seite gibt es die Kreationisten bzw. die neokreationistischen Anhänger der „Intelligent Design Theorie", die versuchen, Belege dafür zu finden, dass eine „intelligente" Ursache die Evolution lenkt. Auf der anderen Seite stehen die Evolutionsbiologen, die allein das Prinzip Zufall als Antriebsfaktor für den Verlauf der Evolution gelten lassen.

Letzteres wird von der großen Mehrheit der Forscher vertreten. Die Evolution und damit auch die Entwicklung des Menschen war in ihren Augen reiner Zufall.

Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Auffassung ist der 2002 verstorbene Stephan Jay Gould. Homo sapiens sei, so erklärt dieser in seinem Buch „Illusion Fortschritt", „ein winziges, erst gestern entstandenes Ästchen am Baum des Lebens, der nicht noch einmal die gleichen Verzweigungen hervorbringen würde, wenn man ihn ein zweites Mal heranwachsen ließe".

Conway Morris von der Universität Cambridge vertritt hingegen die Gegenposition, dass nämlich im Gegenteil die Entstehung des Menschen „folgerichtig" bzw. fast „unvermeidlich" sei. Morris beruft sich, wie in dem Artikel von Christopher Schrader in „Wissen" zu lesen ist, auf das Phänomen der Konvergenz. „Wesen, deren Vorfahren sich vor vielen Jahrmillionen getrennt haben, entwickelten später unabhängig voneinander die gleiche Fähigkeit". Das Kamera-Auge ist ein Beispiel hierfür. Neben dem Menschen und andern Säugetieren sehen auch uns scheinbar so ferne Tiere wie Quallen, Tintenfische oder Schnecken, die Welt durch Augen, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren.

Während Morris nach solchen Gemeinsamkeiten sucht, verweist Gould auf Zufälle der Erdgeschichte, wie Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche. Diese führten, nach einer heute gängigen Theorie, zum Aussterben der Dinosaurier, was dann die Verbreitung der Säugetiere und somit auch des Menschen möglich machte.

Konkret heißt das: es hätte alles also auch ganz anders kommen können.

 

Beiden Wissenschaftlern wird vorgeworfen, ihre persönliche Weltanschauung auf ihre Lehre zu übertragen. Gould wende, so die Kritiker, seine marxistische Grundauffassung „Das Sein bestimmt das Bewusstsein" auf Glücks- und Unglücksfälle in der Naturgeschichte an. Conway Morris dagegen ist bekennender Christ. Dementsprechend deutet er die Evolution auf ein Ziel hin. Zwar glaube Morris, Christoph Schrader zufolge nicht, wie die Kreationisten, an einen „Designer" der Welt. Er versuche jedoch der Evolution einen höheren „Sinn" zu geben. „Wir Menschen sind ein Produkt der Evolution, aber wir besitzen ein überwältigendes Gefühl für Ziele und Moral. Wie kann das durch einen Prozess entstanden sein, der ohne Sinn ist", so Morris.

Die Frage ist: Wo ist hier die Grenze zwischen Wissenschaft und Religion? Denn Morris verweist, indem er der Evolution einen höheren Sinn zuordnet, letztlich auf eine transzendentale, d.h. außerhalb der Naturgesetze stehende Größe, als Verkörperung sowohl dieses Sinnes als auch des Zieles der Höherentwicklung der Lebewesen hin zum Menschen.

Jede Akzeptanz einer außerhalb unserer Welt stehenden transzendentalen Größe, macht eine Kritik an kreationistischen oder sonstigen religiösen Vorstellungen in letzter Konsequenz jedoch unmöglich. Denn wer bestimmt die Grenzen, wer legt fest, was welcher Welt zugehört? Es kann hier nur ein Entweder-Oder geben.

Und genau hier liegt wohl das Problem bei dieser Diskussion. Die Grenze des Erklärbaren wird zur Grenze zwischen den Welten. Die einen, die eine transzendentale Ebene akzeptieren, schieben alles nicht Erklärbare dieser Ebene zu. Die andern, die sich gegen diese Sicht wehren, klammern sich an das, was sie wissenschaftlich als Richtig erkannt zu haben glauben. Und dies mehr in Abwehr gegen eine Welt, an die sie nicht glauben, als im Bestreben, die Dinge rational von einer ganz anderen Seite aus anzugehen, wenn die herkömmlichen Erklärungsversuche nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen.

So gilt, wie der Professor Ulrich Kutschera von der Universität Kassel in „Wissen" erklärt, die natürliche Selektion als ein unumstrittenes Grundprinzip und dies obgleich nie mathematisch wirklich nachgewiesen werden konnte, dass zufällige Mutationen tatsächlich die entscheidende verändernde Treibkraft der Evolution sind.

Die Wahrscheinlichkeit von zufälligen Mutationen, die das Selektionsprinzip greifen lassen, das heißt, die entsprechende phänotypische Veränderungen hervorbringen, ist - zumindest den bisher bekannten mathematischen Berechnungen nach - gleich null. Die Daten scheinen hier eindeutig. Da die Deutung und Diskussion der Daten sich allerdings nicht von den beschriebenen Vorgaben löst, da gegenwärtig also nur die Entscheidung zwischen höhere Macht oder blinder Zufall zur Debatte steht, kommt die Diskussion nicht wirklich weiter.
(Ein Beispiel ist hier die Diskussion zwischen Martin Neukamm, Klaus Wittlich und Frieder Meis um die Berechnung von Wittlich, „Über die Wahrscheinlichkeit der zufälligen Entstehung brauchbarer DNA-Ketten"). Intelligent-Design-Theoretiker und Kreationisten berufen sich, bewertet man die Daten mathematisch, zu Recht auf die mathematische Unwahrscheinlichkeit einer aus zufälligen Mutationen hervorgegangenen Evolution.

Die Frage, um die es an dieser Stelle eigentlich nur gehen kann ist, ob dann wenn das Mutations-/Selektionsprinzip so nicht zu halten wäre, gleich ein intelligenter Designer oder ein sonstiges transzendentales Wesen als Triebkraft und Ursprung der Evolution eingebracht werden muss? Vielleicht gibt ja noch eine ganz andere Alternative, vielleicht ist die Theorie, dass allein zufällige Mutationen entscheidend für die Evolution verantwortlich sind, ganz einfach falsch?

Bei einer bedingungslos rationalen Erkenntnisstrategie ginge es nicht darum, das Mutations-/Selektionsprinzip auf Biegen und Brechen zu verteidigen, sondern darum, neue natürliche Prinzipien zu finden, die z.B. die Entstehung so komplexer Gebilde wie des Auges oder aber auch die Entstehung von Flügeln usw. erklären können.

 

Mit der Frage, wie sich komplexe Strukturen in der Evolution entwickelt haben könnten, setzt sich der ebenfalls im Januar 2007 in der deutschen Ausgabe des „National Geographic" erschienene Artikel, „Der Darwin Code" von Carl Zimmer, auseinander. Die neusten Erkenntnisse der Biologen zeigen, dass es für jede komplexe Struktur immer bereits Entsprechungen bei niedrigeren Tieren gibt. So sind es z.B. beim Menschen wie bei Insekten die gleichen Gene, die dafür sorgen, dass sich bestimmte Zellen im Embryo in lichtempfindliche Zellen verwandeln. Dies lässt dem Artikel zufolge vermuten, dass schon der Vorfahre der meisten Tiere eine Grundausstattung besaß, die lichtempfindliche Stoffe bilden konnte. Gliedmaßen, wie etwa Flügel entwickelten sich nicht aus dem Nichts, sondern - so die Vermutung - Schritt für Schritt aus den Schuppen der Reptilien. Dies gilt auch für die molekulare Ebene. Crystalline, durchsichtige Proteine, aus denen die Linse des Auges bestehen, gab es z.B. bereits lange, bevor sie im Auge eine Sehfunktion ausübten. Nur erfüllten sie zuvor andere Aufgaben. D.h. die Gene, die für eine Funktion verantwortlich sind existieren immer bereits von vorneherein. Die Basisinformationen sind immer die gleichen.
Auch für diese Vorgänge macht nun die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler zufällige Mutationen als Impuls der Veränderung verantwortlich. Neben der Frage nach der hinreichenden mathematischen Wahrscheinlichkeit einer positiven Mutation ist dabei allerdings nicht befriedigend geklärt, ob und wie überhaupt eine nur graduelle Veränderung einen signifikanten Selektionsvorteil bewirken kann.

Mit Recht verweisen die Kritiker der gängigen Evolutionslehre auf diese Frage. Denn über eines sind sich die Forscher auf Grund der fossilen Funde offensichtlich einig: Eine Mutation, die mit einem Schlag eine vollkommen neue Fähigkeit ermöglicht hätte, hat es so noch nie gegeben. Die Veränderungen erfolgen immer nur graduell und über Zeiträume hinweg.

Eine weitere Frage, die bisher nicht wirklich beantwortet werden konnte, ist, wie und warum Rückentwicklungen, die keinen tatsächlichen Selektionsvorteil bringen, stattfinden konnten.
So schreibt Zimmer am Ende seines Beitrags im „National Geographic": „Die Evolution ist pragmatisch: Sie kann die großartigsten Strukturen aufbauen. Und sie lässt sie wieder verkümmern, wenn sie unter veränderten Lebensbedingungen für den Erfolg einer Art nicht mehr gebraucht werden." (Ein Beispiel hierfür ist das nicht mehr vorhandene Fell des Menschen.) Warum und wie sie das tut bleibt nicht nur in diesem Artikel offen.
(Eine Vermutung ist: Weil nicht benötigte Strukturen Energie verbrauchen, was zu einem Selektionsnachteil führt. Da die Rückentwicklung allerdings immer nur einen graduellen Unterschied beinhaltet, der Energieverlust auf der einen und Energiegewinn auf der anderen Seite also nur äußerst gering sein kann, ist es fraglich, ob hieraus tatsächlich ein signifikanter Selektionsnach- bzw. -vorteil entsteht.)

Die neusten Erkenntnisse über die Funktions- und Arbeitsweise der Gene können hierauf vielleicht irgendwann eine Antwort geben. Beschäftigt man sich genauer mit der Thematik, wird offensichtlich, dass das Wissen auf diesem Gebiet, trotz all der Fortschritte und Möglichkeiten, die sich der Mensch hier eröffnet hat, noch erstaunlich ungenau ist. So wurden zum Beispiel 98 % der menschlichen Erbsubstanz bis vor kurzem als „Schrott-DNA" abgetan, weil diese keine Proteine codiert. Wie jetzt entdeckt wurde, sind eben diese keine Proteine codierenden Gene möglicherweise ausschlaggebend für die Komplexität eines Organismus. Der Biowissenschaftler John S. Mattrick spekuliert in einem Artikel in Spektrum der Wissenschaft Dossier 1/2006 „Preziosen im DNA-Schrott": „Was als DNA-Schrott abqualifiziert wurde, weil sie seine Funktion nicht verstanden hatten, könnte sich als eigentliche Quelle der Komplexität des menschlichen Organismus erweisen."

 

Viele verblüffende Vorgänge auf der molekularen Ebene der Gene wurden erst in den letzten Jahren überhaupt erst entdeckt bzw. in ihrer Bedeutung erkannt. (siehe z.B. in Spektrum der Wissenschaft Dossier 1/2007 „Das neue Genom")

Die „Epigenetik", die sich mit diesem nichtproteincodierenden Teil der DNA beschäftigt, zeigt, dass auf dieser Ebene eine Verarbeitung von externen Informationen, d.h. eine Verarbeitung von Umwelteinflüssen auf genetischer Ebene möglich ist. Umweltfaktoren haben, den Erkenntnissen der Epigenetik zufolge, einen Einfluss auf das genetische Material, indem sie beeinflussen, ob oder wie stark ein Gen abgelesen werden kann. Diese Beeinflussung und die Weitergabe der dadurch erworbenen Strukturen an die nachfolgenden Generationen konnte bereits bei Mäusen und Pflanzen experimentell nachgewiesen werden. (siehe auch den Artikel über Joachim Bauers Buch <„Prinzip Menschlichkeit">)

Revolutionär ist hier die Tatsache, dass Merkmale, die sich über Umwelteinflüsse ausgebildet haben, vererbbar sind. Dies bringt einen vollkommen neuen Aspekt in die Evolutionstheorie. Denn indem Informationen aus der Umwelt zu einer vererbbaren Reaktion auf der genetischen Ebene führen können, wird das Prinzip des reinen Zufalles relativiert. Die Anpassung erfolgt in dem Fall nicht allein über die Selektion eines Zufallsproduktes, sondern über einen Informationsaustausch zwischen Organismus und Umwelt.

Es geht dabei aber eben nicht um einen transzendentalen, höheren Zweck der Evolution, nicht um einen intelligenten Designer hinter allem, sondern um die Überlegung, ob in der Natur nicht ein viel größerer Informationsaustausch, eine viel größeres Wechselwirken und eine viel größere Anpassungsfähigkeit der Organismen an ihre Umwelt oder auch an andere Organismen wirksam ist, als man sich bisher vorgestellt hat.

 

Auch wenn der technische Fortschritt etwas anderes suggeriert, so lässt sich feststellen, dass die biologischen und physikalischen Phänomene der Natur vielfach noch nicht befriedigend erklärt worden sind. Gängige Theorien widersprechen sich nicht nur ideologisch, sondern auch wissenschaftlich und logisch. Statt, hier nach alter Manier, im Zweifel auf eine prinzipiell unfassbare und unerklärbare transzendentale „Schöpfermacht" zu verweisen bzw. sich an unbefriedigende Erklärungen zu klammern, wäre es wohl angebrachter zuzugeben, dass viele Mechanismen wissenschaftlich einfach noch unbekannt und unverstanden sind.

 

Anna Ignatius