BERLIN. (hpd) Eine kaum geleistete Aufarbeitung betrifft die Kinder- und Fürsorgeheime zur Zeit des Nationalsozialismus. Vieles ist hier im Dunkeln. Oft wird der Eindruck erweckt, als habe der Nationalsozialismus die Reformbestrebungen der Weimarer Zeit abgewürgt, habe die Erziehungsmethoden verschärft und sie mit rassistischem und nationalem Gedankengut angereichert.
Von Peter Henselder
Dass dieses Bild so nicht stimmt, ergibt sich allein schon aus dem Umstand, dass die Heimerziehung in Deutschland weitgehend in kirchlichen Händen blieb. Zwar wurde "ab 1933 die Forderung 'Entkonfessionalisierung der Heimerziehung'" erhoben, doch hatte sie für die Zusammenarbeit zwischen dem NS-Staat und den kirchlichen Heimträgern kaum Auswirkungen. Der Staat und die Nationalsozialisten hatten weder das Personal noch die Einrichtungen, um eigene Vorstellungen in der Erziehung von Heimzöglingen in größerem Stil umzusetzen. Wo sie es versuchten, mussten sie mangels "nationalsozialistisch geschultem Personal" auf Kräfte der kirchlichen Einrichtungen zurückgreifen. Der Einfluss der Nationalsozialisten, so scheint es, bezog sich vor allem auf die Heimaufsicht und die Umsetzung rassistischer und erbbiologischer Vorgaben.
Einen Einblick ist das damalige Beziehungsgeflecht zwischen Nationalsozialisten und kirchlichen Heimen gibt Annette Lützke in ihrer Dissertation "Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen 1945 bis 1975 - Bilder 'sittlich verwahrloster' Mädchen und junger Frauen", die 2002 von der Gesamtschule Essen als Doktorarbeit angenommen wurde. Darin hat sie der Zeit des Nationalsozialismus ein eigenes Kapitel gewidmet, das instruktive Einblicke in die damaligen Verhältnisse eröffnet.
Kontinuität der Heimerziehung
Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus eigentlich keinen Bruch in der Tradition der Heimerziehung darstellt. Vielmehr ist die Kontinuität der Heimerziehung von der Weimarer Zeit über das Dritte Reich in die Zeit der Bundesrepublik hinein durch die Identität der Heimträger gegeben. Diese hatten auch kaum etwas zu befürchten, da der Staat auf sie angewiesen war. Annette Lützke macht darauf aufmerksam, dass in den Zielvorstellungen der Heimerziehung zwischen kirchlichen Einrichtungen und Nationalsozialisten kaum Differenzen bestanden. Hier beruft sie sich auf C. Kuhlmann (C. Kohlmann, Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen von 1933-1945. (Weinheim und München 1989), die "große Ähnlichkeiten zwischen kirchlichen und nationalsozialistischen Erziehungskonzepten fest[stellte], so dass auch begreiflich wird, warum sich so wenig Kritik gegen die nationalsozialistische Erziehung in der evangelischen und katholischen Kirche regte. Beide Erziehungskonzepte ähnelten sich in bezug auf einen eher autoritären Erziehungsstil und Ziele wie Gehorsam, Fleiß, Sauberkeit und Unterordnung."
Ein wesentlicher Punkt der Übereinstimmung liegt zudem in einem nahezu identischen Frauenbild. Die Begründungen waren verschieden, doch in den handlungsrelevanten Prinzipien einer rigiden Sexualauffassung ist eine fast völlige Übereinstimmung zu konstatieren. Hierzu führt Annette Lützke aus: "Man muss allerdings anmerken, dass die Anstalten - sowohl der evangelischen, als auch der katholischen Kirche - bereits zu Beginn der dreißiger Jahre von der 'neuen Sittlichkeit' des aufkommenden Nationalsozialismus sehr angetan waren. Viele Oberinnen, wie Marie Sievers vom Mädchenerziehungsheims Boppard, setzten auf 'Volkserneuerung durch Keuschheitskraft'. 'Die 'Entsittlichung' einer liberalen Öffentlichkeit ließ die geschlossene Anstaltsfürsorge den dort Tätigen als Bollwerke gegen die unchristliche und feindliche Welt erscheinen." (U. Kaminsky, Zwangssterilisation und 'Euthanasie' im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945. (Köln 1995), S. 82).
Die "neuen Sittlichkeit" wirkte sich vor allem hinsichtlich der Annahme der "Verwahrlosung" aus, die bei Mädchen und jungen Frauen bereits bei minimaler Auffälligkeit als "sexuelle Verwahrlosung" gedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund verschärfte sich die Stigmatisierung der Heimkinder, die nun nicht mehr nur der "Fürsorge", sondern der 'Minderwertigenfürsorge' unterstanden. Die Nationalsozialisten operierten durchaus mit den Klischees und gängigen Kategorisierungen der Heimkinder in der Kaiser- und Weimarerzeit, verschärften diese jedoch sprachlich vor dem Hintergrund einer rassistischen und erbbiologischen Weltanschauung. Gerade kirchliche Heime, so zitiert Annette Latzke, übernahmen die Aufgabe einer "armseligen und massenhaften Bewahrung der 'erbgeschädigten', verwahrlosten und minderwertigen' Kinder." (M. Sauer, Heimerziehung und Familienprinzip. (Neuwied und Darmstadt 1979), S. 82).
Pathologisierung von Heimkindern
Unmittelbar in den Erziehungsalltag der Heime griff das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 (RGBL. I, S. 529-531) ein. Hier wirkte sich verheerend aus, dass es bereits in den Jahren zuvor zu einer Pathologisierung von Heimkindern gekommen war, die teils als Psychopathen, teils als unerziehbar eingestuft wurden und aus dem Bereich der normalen Heimerziehung ausgesondert worden waren. Während die Nationalsozialisten versuchten, "brauchbares Menschenmaterial" an sich zu ziehen, verblieben jene Kinder, die den entsprechenden Kriterien nicht entsprachen, in der Obhut der kirchlichen Heimen. Hierzu zitiert Annette Latzke: "Nach Kuhlmann waren die konfessionellen Verbände für folgende Minderjährige zuständig: 'einwandfrei erbbiologisch minderwertige Fälle', Zöglinge, die aus einer 'schwer asozialen' Familie stammten, Zöglinge mit einem 'Erbschaden' (Gebrechen) oder sonstige 'Schwererbgeschädigte'. Neben Fällen, die unter das so genannte Sterilisationsgesetz fielen, gab es eine Reihe von zweifelhaften und willkürlichen Einordnungen, wie 'verbrecherische' Jugendliche, Hilfsschüler, unehelich geborene Kinder und 'Zöglinge, die an geistigen oder seelischen Regelwidrigkeiten litten' und als 'Psychopathen' eingestuft wurden. (Vgl. Kuhlmann 1989, S. 69)."
Vor diesem Hintergrund kam es etwa im Zuständigkeitsbereich des Landesjugendamtes Rheinland zu zahlreichen Sterilisationen. Annette Latzke führt hierzu an: "Nach Ergebnissen von Kaminsky gab es bis zum April 1939 im Rheinland 1236 Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte, d. h. 5,9 Prozent aller Jugendlichen, die sich seit 1933 in FE [Fürsorgeerziehung] befanden, waren von Zwangssterilisationen betroffen. Während die staatlichen und evangelischen Heime die Durchführung der Sterilisationen unterstützten, waren die katholischen Heime zwar ablehnend eingestellt, konnten diese Maßnahmen allerdings nicht abwenden. (Vgl. Kaminsky 1999, S. 26)."
Dass die Sterilisation keineswegs nur nationalsozialistisches Gedankengut ist, darauf machte Manfred Krause, Präsident des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts, aufmerksam, der hierzu ausführte: "So schrieb Helene Wessel, eine Jugend- und Sozialfürsorgerin und seit 1928 Mitglied des preußischen Landtages und Fachsprecherin für Fürsorgefragen der Fraktion der Deutschen Zentrumspartei, dass die gesetzliche Wohlfahrtspflege von verantwortungslosen, minderwertigen Menschen ausgenutzt würde und aus falsch verstandener Humanität unverantwortbare Kosten verursachte. Daraus ergäbe sich die Frage, ob neben der Sterilisation nicht weitere Maßnahmen ergriffen werden müssten, um jene biologisch minderwertigen Menschen von der Fortpflanzung auszuschließen und daran zu hindern, dass sie ihr asoziales Leben ungehemmt weiterführten. Diese „Bewahrungsbedürftigen“ seien der Fürsorge bekannt; sie belasteten in unverantwortlicher Weise das deutsche Volksvermögen und minderten als Träger gesundheitlicher, sittlicher und moralischer Schäden das deutsche Erbgut. Helene Wessel war später eine der Mütter des Grundgesetzes und erhielt 1965 das Bundesverdienstkreuz." (überarbeiteter Vortrag, gehalten auf der Tagung des Forums Justizgeschichte „Leben am Rande der Gesellschaft“ vom 08. bis 10.10.2009 in Wustrau).
„...ob neben der Sterilisation nicht weitere Maßnahmen ergriffen werden müssten...“
Von rassistischen und erbbiologischen Eingriffen abgesehen, scheint der Nationalsozialismus wenig Interesse an den Heimkindern gezeigt zu haben. Sie galten als minderwertig und vielleicht hängt damit zusammen, dass etwa von Aktivitäten der Hitler-Jugend in den Heimen nirgends die Rede ist. Die Kinder blieben der religiös geprägten Erziehung des jeweiligen Heimträgers unterworfen. Wie sich deren Biographie nach der Entlassung aus dem Heim gestaltete, ob sie als sozial auffällig galten und unter die bereits praktizierten Regeln des Gemeinschaftsfremdengesetzes fielen und wie viele von ihnen etwa auf Grund von Strafschärfungsregeln selbst für Kleinstdelikte von Gefängnis, Zuchthaus bis hin zur Todesstrafe bedroht waren, darüber liegen zur Zeit, soweit zu sehen ist, keine Erkenntnisse vor.
Für Zöglinge, bei denen die Erziehung nicht anschlug, war der Weg freilich schon bestimmt, denn Hitler wünschte, dass solche Zöglinge, die mit Vollendung des 19. Lebensjahres aus den Heimen zu entlassen waren, "dann keinesfalls frei gelassen werden; sie sollen ohne weiteres sofort auf Lebenszeit ins Konzentrationslager kommen. (...) Der Führer wünscht, daß solche minderwertigen Subjekte nicht erst aus der Fürsorgeerziehung entlassen, sondern sofort in ein Konzentrationslager auf Lebenszeit überführt werden." (Karl Heinz Jahnke und Michael Buddrus, Deutsche Jugend 1933-1945: eine Dokumentation. (Hamburg: VSA-Verlag, 1989), S. 339.