Flirten in der Öffentlichkeit ist "unislamisch"

Neues von der türkischen Religionsbehörde

BERLIN. (hpd) Über den fortschreitenden Islamisierungsprozess in der Türkei gab es in den letzten Jahren schon viele Mitteilungen, viel zu viele! Jetzt wird ein nächster Schub bekannt, der tief in die Privatsphäre eingreift: Verlobte sollen nicht zusammenleben, in der Öffentlichkeit nicht miteinander flirten oder Händchen halten und (sunnitische) Muslime keine Ehen mit Aleviten eingehen.

Die türkische Religionsbehörde Diyanet hat sich zu sog. unislamischem Verhalten geäußert. RP Online zitiert aus einer Mitteilung der obersten türkischen Glaubens- und Sittenwächter: “… verlobte Paare sollten weder flirten noch zusammenleben, Händchen halten oder sich derart nahe kommen, dass sie Anlass zu Klatsch und Tratsch geben” 

Angeblich missbillige der Islam eine solche Nähe vor der Ehe, ob mit oder ohne Wissen der Eltern. Immerhin: gegen private Treffen zum Kennenlernen sei nichts einzuwenden. Einfach grotesk! Verlangt wird, dass junge Menschen “in Übereinstimmung mit islamischen Normen” leben sollen. Man muss es einfach betonen: Diese hinterwäldlerische Forderung kommt nicht etwa von irgendeinem Dorfimam, sondern wird von der mächtigen Religionsbehörde mit religiöser Amtsautorität in Form einer Fatwa verkündet.

In einer weiteren Fatwa hat nach Angaben der Zeitung Cumhuriyet die Religionsbehörde türkische Muslime vor einer Heirat mit solchen Aleviten gewarnt, die sich selbst nicht als Muslime verstehen. Eine einzige Feindbilderklärung – Kommentar überflüssig. Soviel nur: so sieht “Religionsfreiheit” und “Selbstbestimmung” in einem Land aus, das die Mitgliedschaft in der EU anstrebt (das könnte freilich auch zu Ungarn und Polen passen!)

Zwar haben die Fatwas der Diyanet keine Gesetzeskraft, jedoch großen Einfluss ideologischer Art auf konservative Muslime. Vor allem aber: das innenpolitische Klima wird weiter vergiftet. Die mittlerweile freiere Lebensweise, insbesondere von jungen Leuten und in Großstädten, die sich nicht von konservativen religiösen Vorstellungen einschränken lassen wollen, soll angegangen und beseitigt, zumindest aber eingeschränkt werden. Wer “Unislamisches”, damit “Richtiges” und “Falsches”, bestimmt, der stigmatisiert und grenzt diejenigen, die sich weiterhin “unislamisch” verhalten, aus. Eine innerstaatliche Feinderklärung. Von Selbstbestimmung, auch sexueller Selbstbestimmung, kann wohl keine Rede (mehr) sein. Solche Werte zählen im Reich des Erdogan nicht.

Derzeit stellt sich für viele TürkInnen die bange Frage: Was wird der Religionswächter nächster Schritt sein? Was wird die im Herbst 2015 herbeigeschossene und herbeigebombte Parlamentsmehrheit der AKP für Gesetze folgen lassen? Bereits vor einigen Jahren hat sich Erdogan für strikte Geschlechtertrennung junger Menschen, etwa in Studentenwohnheimen, eingesetzt. Es sieht ganz danach aus, als gehe es in diese Richtung weiter …

Zu hoffen ist, dass die sich insbesondere in den großen Städten herausbildende Zivilgesellschaft gegen die religiös-konservativen Zumutungen zur Wehr setzt. Und dass sie weltweit Solidarität erhält.

Türkische Islamverbände in Deutschland – für Freiheit oder Knebelung?

Die in Deutschland tätigen türkisch-national orientierten Islamverbände (etwa Milli Görüs, die Vereinigung islamischer Kulturzentren und die DITIB) haben die Fatwas offiziell nicht kommentiert. Ca. 900 Moscheegemeinden unterhält angeblich allein DITIB mit bekanntermaßen enger organisatorischer, personeller und finanzieller Anbindung an die türkische Religionsbehörde, bei der die AKP seit Jahren erfolgreich einen Kurswechsel durchgesetzt hat. Dazu gehört auch der Rücktritt des als liberal und kemalistisch eingeschätzten Chefs dieser Behörde, Bardakoglu, der 2010 überraschend zurücktrat. Beobachter gingen davon aus, dass der Rücktritt aufgrund Interventionen Erdogans erfolgte, da Bardakoglu nicht AKP-konform war.

DITIB-Generalsekretär Bekir Alboga hat sich in den letzten Tagen zur „Tugendfatwa“ geäußert: “In deutschen Moscheegemeinden war es (das Gutachten) … überhaupt kein Thema.” DITIB habe es selbst nicht veröffentlicht. Bekannt geworden sei es nur den Menschen, die die Diyanet-Entscheidungen aktiv verfolgten. Diskussionen darüber habe es aber in Deutschland bisher nicht gegeben.

Allein diese Aussage spricht Bände. Offenbar war es DITIB daran gelegen, die Fatwa ihrer Behördenspitze nicht in die deutsche Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Und: Diskussionen wird es tatsächlich nicht gegeben haben - warum auch, sind doch die Mitglieder von DITIB AKP-konform und konservativ. Da braucht es keine Diskussion.

Nicht eine einzige kritische Stellungnahme ist seitens der konservativ-orthodoxen IslamVerbände abgegeben worden. Die ihnen anhängenden türkisch-stämmigen MuslimInnen leisten keinen Beitrag zu einer Kritik am Islamisierungskurs in der Türkei. Offenbar sind die Vorstellungen von Diyanet auch ihre Vorstellungen. Es wird von Jahr zu Jahr deutlicher, dass eine erhebliche Lücke klafft zwischen dem commen sense in der hiesigen freien Gesellschaft und den Wertvorstellungen konservativ-orthodoxer MuslimInnen, ja, dass die Werte zumindest in Teilbereichen konträr sind. Aber sie erwarten, dass ihre Werteordnung mit staatlicher Unterstützung im islamischen Religionsunterricht an Schulen gelehrt wird und dass sie bald die Privilegien einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft genießen können. Der konservativ-orthodoxe Islam will die Deutungshoheit über den Islam in Deutschland ausüben. Dazu gehört in der praktischen Umsetzung: Kopftuch für Frauen und für Mädchen, Befreiungen vom Sport- und Schwimmunterricht, vom Biologie- und Sexualkundeunterricht, Geschlechtertrennung in öffentlichen Badeeinrichtungen, das sind ihre vorrangigen Forderungen hier in Deutschland. Vorerst jedenfalls. Wie sie verfahren würden, wenn sie Mehrheiten gewinnen könnten, zeigt sich jetzt am Beispiel der Türkei.

Das Schweigen der Islamverbände ist beredt. Für eine freiheitliche Gesellschaft stehen sie gewiss nicht

Nachtrag aus aktuellem Anlass:
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Köln zur Jahreswende thematisiert Lale Akgün (SPD und Liberal-Islamischer Bund) die wohlwollende Duldung fundamentalistischer Strömungen im Islam durch die bundesdeutsche Politik. Sie sagte der Deutschen Welle: “In den 1980er Jahren hat man über fundamentalistische Strömungen hinweg gesehen. Damals meinte man, dass die Gesellschaft diese Entwicklung ertragen müsse. Wir haben das so lange ertragen und ignoriert, bis es uns selbst getroffen hat. Ein Beispiel ist die Stilisierung des Kopftuches als Bereicherung der multikulturellen Gesellschaft. Das ist Unsinn. Auch das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterdrückung der Frau. Wer dieses Frauenbild befeuert und befördert, darf sich nicht wundern, wenn die Männer der gleichen Community Frauen ohne Kopftuch als ‘leichte Mädchen’ ansehen.”

Akgün erörtert das Umsetzen religiöser Vorstellungen in Politik und stellt Überlegungen an, ob man die eigene Tochter in eine Schulklasse gehen lasse solle, in der die Lehrerin Kopftuch trägt: “Soll meiner Tochter ein Frauenbild vermittelt werden, wonach Frauen sich vor den Augen der Männer verhüllen müssen?” Lale Akgün sieht einen Zusammenhang eines solchen Frauenbildes mit der sexualisierten Gewalt junger Männer. Ein wirklich lesenswertes Interview.