"Europa symbolisiert die Vision künftigen Lebens"

Die Zahl der Europa-Skeptiker scheint zu wachsen. Zeit, sich darüber bewusst zu werden, wofür Europa eigentlich steht, findet die türkischstämmige deutsche Schriftstellerin Arzu Toker. Der hpd dokumentiert hier ihre Rede bei einer Kundgebung der Bürgerinitiative Pulse of Europe am 8. Oktober in Köln.

Europa. Eine Geschichte von Verführung und Entführung. Die Geschichte einer schönen Frau. Wegen ihr bekam dieser Kontinent seinen Namen: Europa. Ich bin nicht entführt worden. Ich bin freiwillig gekommen.  Ich war eine junge Frau,  23 Jahre alt mit Visionen, mit Träumen, die keine Grenze kannten.

Ich bin in einem Tal an der syrischen Grenze geboren. Dieses Grenzgebiet hat mich, meine Kindheit geprägt. Als meine Großmutter ein junges Mädchen war, gab es dort keine Grenzen. Als ich klein war, sah ich wie die Vögel die natürliche Grenze, die Berge überflogen. Auch ich hätte gern gewusst, was es auf der anderen Seite gab. Ich konnte, ich durfte nicht.

Jetzt lebe ich auf einem Kontinent, wo ich weiß und jederzeit erkunden kann, was es auf der anderen Seite zu sehen gibt. Immer, wenn ich in diesem unserem Europa in andere Länder fahre, berührt es mich, die ehemaligen Grenzkontrollen, diese verlassenen Orte zu sehen.  Ich jubele mit meinen 65 wie ein Kind und kann mich nicht zurückhalten, meinen Mann zu nerven: Schau mal, schau mal, schau mal! Das war mal eine Grenze, stell dir vor, das war mal ne Grenze! Er tut so, als sei er genervt, aber ich glaube, er fährt extra langsam. Er gönnt mir diesen Genuss, den Moment der Freiheit.

Wir, die Menschen, zählen uns in der Mehrheit zu den intelligenteren Wesen. Wenn ich jedoch bedenke, dass bereits Nietzsche 1895 die Grenzen in Europa in Frage gestellt hat und wir immer noch für Europa kämpfen müssen, dann packt mich der Zweifel.

Sicher Europa hat viele Grenzen abgeschafft, innere wie äußere, und Feindschaften überwunden. Sonst stünden Sie alle jetzt nicht auf diesem Platz. Mit ihnen genieße ich diese Errungenschaft:

Ein Europa ohne Grenzen! Ein Europa in Frieden!

Aber es gibt immer wieder machtbewusste ältere Männer, die den einen oder anderen Grund wissen, warum sie meinen sagen zu müssen "Germany first" und damit gleichzeitig Macrons Vision Paroli bieten.  Ich will hier keine Namen nennen.

Ich bin glücklich, in Europa zu leben. Ich könnte ununterbrochen nach Holland, Italien, Frankreich, in fast alle Länder Europas fahren, nur um mich immer wieder an diesen nicht existenten, verlassenen Grenzübergängen zu erfreuen. Ausgenommen Ungarn und Polen. Ich bin unsicher, ob ich willkommen wäre.

Und, denk ich an die inneren Grenzen der Menschen in Europa, auch an meine eigenen, so lehren sie mich fürchten. Nach den Wahlen schlägt in mir die Unsicherheit, das leise Trippeln der Angst, wie der Herzschlag eines ungeborenen Kindes. Und, ich merke, dass ich doch nicht die gesamte Menschheit liebe. Ich werde nie so ‘deutsch’, so völkisch deutsch sein, dem Nationalismus und dem Rassenhass Platz in mir zu geben, wie die, die nun im Bundestag vertreten sind: die Starkdeutschen.

Aber was tun wir? Wir, die ehemaligen Migranten? Die Neudeutschen, was tun wir? Was tun wir für Deutschland? Was tun wir für Europa? Sicher, es gab damals in den 60ern als die Migranten, damals noch Gastarbeiter, nach Deutschland kamen auch Abenteurer, Neugierige darunter.  Aber die meisten von uns wanderten aus, weil unser Herkunftsland uns nicht ernähren konnte. Weder geistig noch finanziell. Hier in Deutschland, mitten in Europa, fanden wir ein neues Zuhause. Wir, die Migranten, haben in diesem Land nicht nur "malocht" oder "aufgebaut", wie viele sagen. Nein, wir haben auch sehr, sehr viel bekommen. Was bekamen wir? Frieden, Wohlstand, Hoffnung für uns und für die Zukunft unserer Kinder. Und Rechtssicherheit. Das Letztere sollten sich insbesondere Erdogan-Anhänger hinter die Ohren schreiben. 

Wofür haben meine ehemaligen Landsleute, diese türkischen Migranten, mit 100.00 Personen demonstriert? Sie befürworteten die Politik eines Mannes, der den Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli wochenlang in Spanien festhalten ließ, der den Journalisten Deniz Yücel, die Übersetzerin Mesale Tolu, Peter Steudtner aus Berlin und weitere 55 Menschen inhaftieren ließ. Und mehr noch: Meine demonstrierenden Landsleute befürworteten die Politik eines Diktators, der

  • den IS und andere islamische Radikale unterstützt, der
  • Journalisten in den Knast steckt,
  • kurdische Städte dem Erdboden gleich bombt,
  • erschossene Kurden, darunter eine Frau, nackt hinter Autos binden und durch die Straßen schleifen lässt.

Meine Landsleute demonstrierten in Köln mit 100.000 für einen Diktator und Mörder. Diese Freiheit haben sie, das ist für sie möglich, weil es in Europa ein wertvolles Gut gibt, das sie genießen: die Rechtssicherheit!

Die Menschen in Europa haben den Frieden nicht geschenkt bekommen. Schon von den Kriegen, wie dem dreißigjährigen Religionskampf in ihrer Geschichte, haben Sie aus tiefen Schmerzen und Lehren gelernt. Sie Europäer haben in Europa nach zwei Kriegen einen friedlichen Kontinent aufgebaut. Sie in Europa haben mit kleinen Schritten wie Jugendaustausch für Frieden und Offenheit Grundsteine gelegt. In Europa  stehen wir mit Pulse of Europe dafür, dass es auch so bleibt. Und mehr noch, den Frieden im Land, den Frieden auf der Welt zu fördern.

Ich wünschte, viele meiner Landsleute, viele Migranten würden hier sein. Ich wünschte, sie würden zu 100.000 hier mit uns auf diesem Platz sein. Sie würden mit uns für Europa, für Frieden und Freundschaft demonstrieren. Die Vielfalt der Menschen, der Küche, der Kunst des bunten Lebens in Europa mit uns feiern.

"Vorwärts, habt keine Angst!" sagte Macron in seiner Rede, damit Europa stabiler, stärker, solidarischer wird. Recht hat er. Europa, die Schöne, ist ein Mythos, aber Europa heute symbolisiert die Vision künftigen Lebens. Europa erlebt die schönste Zeit seiner Geschichte: Frieden, Freundschaft ohne Grenzen. Und es kann noch mehr!

Wir dürfen keine Angst vor dem aufkeimenden Rechten, dem dumpfen Nationalismus, Rassismus haben. Keiner soll überlegen müssen: Wohin? Was nehme ich mit? Was lasse ich hier?

Es wird derzeit viel von Grenzen geredet. Wenn ich unsicher bin, spiele ich Wörterzählen auf Deutsch, denn diese unsere Sprache hat viele Wörter. Ich zähle ähnlich- oder gleichbedeutende Wörter auf und erkenne dabei mein Gefühl. So zum Beispiel: Grenze, Grenze setzen, abgrenzen, begrenzen, umgrenzen, Demarkationslinie, Ende, Grenzlinie , Markstein, Schranke, Sperre, Trennwand, Barriere, Hürde. Wie fühlt sich das an? Ich fühle mich nicht gut dabei. Es gibt noch sehr, sehr viele Grenzwörter, aber ich will nur noch eins erwähnen: Die Obergrenze von Herrn Seehofer.

Die Herren, die dieses Wort inflationär benutzen, wissen vielleicht nicht einmal, dass es nicht deutschen Ursprungs ist? "Grenze" stammt aus dem Slawischen, es dem Polnischen entlehnt. Grenzen und Nationen sind die böseste Erfindung der Menschheit. Sie trennen, sie entfremden, Grenzen führen zu Feindschaften.

Ich möchte einfach Mensch sein. Ich wünsche uns eine Welt, in der wir nicht mehr und nicht weniger sind als einfach nur Mensch. Und ein Land: Europa.

Deshalb zähle ich andere Wörter und Sie können gern mitzählen: Gemeinsam, zusammen, gemeinschaftlich, miteinander, vereint, geschlossen, kollektiv, kooperativ, allesamt, Seite an Seite, Hand in Hand, Arm in Arm, in Zusammenarbeit,  beieinander, gemeinsam für Europa!

Arm in Arm für Europa!

Vereint für Europa!

Das fühlt sich an wie Liebe!