Säkularisierung im Iran

Die stille Revolution

Der staatlichen Statistik zufolge sind 99,4 Prozent aller Menschen im Iran Muslime. Die niederländische GAMAAN-Forschungsgruppe hat nun die Ergebnisse einer Umfrage zur Einstellung der Iraner:innen zur Religion veröffentlicht, die begründete Zweifel an den offiziellen Angaben aufkommen lässt. Nur 37 Prozent geben an, sich mit dem schiitischen oder sunnitischen Islam zu identifizieren, fast die gleiche Menge betrachtet sich mittlerweile als konfessionsfrei, agnostisch oder atheistisch. Knapp drei Prozent bezeichnen ihre Weltanschauung als "humanistisch".

Die Ergebnisse der Umfrage der niederländischen GAMAAN-Forschungsgruppe dürften die religiösen Führer des Iran ziemlich ins Schwitzen bringen. Trotz perpetuierter staatlicher Propaganda scheint sich ein substanzieller Teil der iranischen Bevölkerung weltlichen Werten und einem nicht von religiösen Dogmen beeinflussten Lebenswandel zuzuwenden.

Diversität im Schia-Staat

32 Prozent der Befragten geben an, sich mit dem schiitischen Islam zu identifizieren, fünf Prozent mit dem sunnitischen Islam, drei Prozent als Sufi. Darüber hinaus ist die iranische Gesellschaft überraschend divers und weltlich. Anhänger:innen fast jeder Weltanschauung – vom Christentum über Spiritualismus bis zum Zoroastrismus – sind vertreten, ein gutes Drittel der Bevölkerung kann unter dem Begriff "säkular" zusammengefasst werden. Eine genaue Aufschlüsselung in deutscher Sprache findet sich auf der Website der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid).

Diese Erkenntnisse stehen in krassem Gegensatz zur offiziellen Statistik und der staatlichen Propaganda, die das Land als Nation des schiitischen Islam darstellt. Seit der Revolution im Jahre 1979 ist der Iran ein Gottesstaat unter Führung eines "obersten Rechtsgelehrten", der eine hinreichende Anlehnung des Staates an das islamische Recht zu gewährleisten hat. Auf Homosexualität und Apostasie steht theoretisch die Todesstrafe, Peitschenhiebe erhält, wer die religiöse Kleiderordnung missachtet. Wer Kritik an politischen oder gar religiösen Autoritäten übt, wird dafür nicht selten ins Gefängnis geworfen.

Säkularisierung von Privatleben und politischen Einstellungen

Interessant ist besonders der weltanschauliche Werdegang der Iraner:innen: Fast jeder zweite Mensch gibt an, im Laufe des Lebens von der Religion abgefallen zu sein. Dies gilt faszinierenderweise für jede Altersgruppe, jedes Geschlecht, mit Universitätsabschluss und ohne und auf dem Land wie in der Stadt gleichermaßen.

Darauf aufbauend zeigen sich massive Veränderungen im Alltag der Iraner:innen: 60 Prozent aller Befragten geben an, die verpflichtenden Tagesgebete nicht durchzuführen. In einer anderen staatlich unterstützen Umfrage dieses Jahres geben gleichsam 60 Prozent an, während des Ramadan nicht zu fasten, wie The Conversation ausführt. Zum Vergleich: 1975, vor der Islamischen Revolution, gaben über 80 Prozent an, die Fastengebote und den Gebetsimperativ zu beachten. Trotz des landesweiten Verbots konsumiert im Jahr 2020 ein Drittel der Bevölkerumg regelmäßig oder gelegentlich Alkohol.

Die Säkularisierung der iranischen Gesellschaft hat außerdem immense Auswirkungen auf ihre politischen Überzeugungen: Zwei Drittel aller Befragten sagen, die Gesetzgebung sollte frei von religiösen Gedanken sein, selbst wenn eine Mehrheit des Parlaments religiös ist. Ähnlich viele Menschen sind davon überzeugt, dass religiöse Institutionen für ihre eigene Finanzierung zu sorgen hätten. Ganze 72 Prozent sprechen sich gegen den verpflichtenden Hijab aus.

Schon 2012 erkannte die Zeit, was die Umfrage der GAMMAN-Forschungsgruppe erneut bestätigt: Die übergriffige, hoch politisierte Staatsreligion, die Ruhollah Chomeinei nach der Revolution geschaffen und auf seine Person zugeschnitten hatte, hat die Menschen im Iran vom Islam entfremdet, statt sie diesem in die Arme zu treiben. 2013 gaben in einer Umfrage des Pew Research Centers bereits 30 Prozent an, religiöse Akteure hätten besser gar keinen oder nur geringen Einfluss auf politische Entscheidungen – angesichts der neuen Erkenntnisse und der jüngsten Gewaltexzesse des Regimes dürfte sich diese Quote weiter erhöht haben.

Methodik

Die Teilnehmer:innen wurden über diverse digitale Kanäle erreicht, darunter Instagram und Telegram. Aufgrund des allzeit mit Repression drohenden Regimes ist ein offener weltanschaulicher Diskurs im Iran nur schwer möglich, allerdings nutzen 70 Prozent aller Erwachsenen mindestens einen Social-Media-Account. Online-Medien sind daher das Mittel der Wahl, um einen repräsentativen Blick auf die tatsächlichen Überzeugungen der Iraner:innen zu gewinnen. Schlussendlich flossen die Daten von 40.000 im Iran lebenden Menschen in das Ergebnis ein und bilden die Ansicht von lesefähigen Personen über 19 Jahren ab.

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