Missbrauch des Widerstands

Vor 77 Jahren, am 20. Juli 1944, haben Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitstreiter versucht, Hitler mit einem Bombenattentat zu töten und das NS-Regime zu stürzen. Die Widerstandskämpfer scheiterten und wurden hingerichtet. Heute wollen sich querdenkende Menschen den Status eines Widerstandskämpfers anheften. Eine grässliche und beschämende Verharmlosung des Nationalsozialismus. Ein Kommentar von Helmut Ortner.

Wir erinnern uns: Im November letzten Jahres bevölkerten am Wochenende Tausende von Querdenkern die Innenstädte des Landes. Es waren Leute zu sehen, die sich Judensterne an ihre modischen Anoraks hefteten, auf denen "Ungeimpft" oder "Jesund" stand. Dauerempörte "Kämpfer der Freiheit" beanspruchten, Opfer zu sein. Sie fühlten sich vom Staat reglementiert und verfolgt. Dabei hatten sie mit keinerlei staatlicher Repression zu rechnen. Sie entblödeten sich nicht, sich als die wahren Erben, als Kämpfer der Freiheit gegen "Diktatur und Faschismus" auszugeben. Sie skandierten "Nie wieder!" und "Wehret den Anfängen!". So zog die bunte Querfront-Polonaise, vollends von jeder Rationalität befreit, unter den Rufen von "Wir sind frei, Corona ist vorbei!" durch die Zentren der Städte. Volksfeste des kollektiven Wahns.

In Hannover verglich sich eine junge Frau auf einem "Widerstands-Festival" mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl. "Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin", verkündete sie unter dem Beifall der Querdenker-Gemeinde. Das war sogar der New York Times einen Beitrag wert. Im Artikel hieß es, die Rede der jungen Frau sei das "jüngste Beispiel" von Anti-Corona-Demonstranten und Verschwörungs-Erzählern, die ihren Protest mit der Unterdrückung und Ermordung der Juden durch die Nazis gleichsetzten. Man fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, als sich der nazi-kontaminierte Hitler-Durchschnittsdeutsche gerne selbst als Nazi-Gegner und Widerstandskämpfer eingestuft sehen wollte. Nun wollten allerlei querdenkende Menschen sich selbst den Status eines Widerstandskämpfers anheften. Eine bizarre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Auf grässliche und beschämende Weise wird der Nationalsozialismus verharmlost.

Am Dienstag erinnerte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee an den Widerstand vor 77 Jahren: Am 20. Juli 1944 hatten der Wehrmachtoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitstreiter versucht, Hitler mit einem Bombenattentat zu töten und das NS-Regime zu stürzen. Die Widerstandskämpfer scheiterten und wurden hingerichtet. Der SPD-Politiker hatte eine wichtige Botschaft: "Der Missbrauch des Widerstands gehört längst zum geschmack- und geschichtslosen Narrativ eines bestimmten politischen Milieus in Deutschland."

Nicht allein verschwörungsbewegte Querdenker sind damit gemeint. Spätestens seit dem Einzug in Landesparlamente und den Bundestag hat das Rechts-Milieu eine parlamentarische Bühne und ein öffentlichkeitswirksames Podium, auf dem kalkulierte Tabu-Brüche und gezielte Provokationen – etwa Björn Höckes Gerede von einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" oder Alexander Gaulands "Vogelschiss"-Verharmlosung der Nazi-Diktatur – regelmäßig und absichtsvoll erfolgen. Die Verwendung des Begriffes "Widerstand" gehört dabei zum rhetorischen Arsenal: gegen die "Merkel-Diktatur", gegen die "Lügenpresse", gegen die "Alt-Parteien".

Was geht da vor, wenn sich Ewig-Gestrige und Verblödet-Heutige – beide frei von jeglicher historischer Bildung – als Demokratie-Retter und Widerstandskämpfer aufspielen? Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? Wohl eine trübe Melange aus allem. Wir sollten den Missbrauch des Widerstandsbegriffs nicht zulassen. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, er verbietet sich – aktuell – auch mit törichten Vergleichen, etwa der von mutigen Bürgern in Belarus, in Hongkong, in Venezuela oder anderswo, die gegen Menschenrechtsverletzung, Wahlfälschung und Korruption, trotz Polizeiterror und drohender Verhaftung unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen.

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